von Andreas Peglau
Acht Jahre Zeitungsarbeit, 32 Ausgaben mit insgesamt über 1.500 Seiten – was davon ist es wert, in ein Buch aufgenommen zu werden, dessen Wirkung möglichst lange anhalten soll?
Aber um welche Wirkung geht es überhaupt – und bei wem?
Grob verallgemeinert: Wer diese 480 Seiten hinter sich hat, sollte besser verstehen können, wie seine eigene Lebensgeschichte und die seiner Vorfahren sein heutiges Leben und das seiner Mitmenschen beeinflußt – und er oder sie sollten mehr Möglichkeiten sehen, dieses gegenwärtige Leben und ihre Zukunft (sowie die ihrer Nachfahren) bewußter zu gestalten.
Damit ergibt sich auch die „Zielgruppe“ dieses Buches. Sie ist sie so umfassend (und unser Themenrahmen so weit), daß mir die Anspielung auf den Wälzer, der sämtlichen DDR-Jugendweihlingen bis 1973 (also auch mir) obligatorisch in die Hand gedrückt wurde, gerechtfertigt erschien: „Weltall, Erde, Mensch“.
Jenes höchstoffizielle, vom Staatsratsvorsitzenden mit Vorwort und Unterschrift bedachte Jugendweihegeschenk hatte allerdings den Anspruch, den einzig richtigen Weg zu verkünden. „Dieses Buch ist das Buch der Wahrheit“, beginnt Walter Ulbricht 1967 sein Geleitwort.
Auch, um sich von einem solchen total(itär)en Anspruch abzugrenzen, hat unser Buch den Untertitel „Anregungen für ein (selbst)bewußteres Leben“ – statt „für ein (selbst)bewußtes Leben“ – und Kapitelüberschriften wie „Natürlichere Geburt“, „Freiere Liebe“, „Ganzheitlichere Medizin“ usw.
Mit einer „typisch ostdeutschen Selbstverkleinerung“ hat das also nichts zu tun, eher schon damit, daß ich nach zehn Jahren ich e.V. und acht Jahren Körpertherapie viele Entweder-Oder-Zuordnungen für künstlich halte. Es kann doch beispielsweise nichts Menschengemachtes geben, das wirklich „ganzheitlich“ ist. Wie denn auch? Wenn „ganz“ tatsächlich alles einschließt, läßt sich immer nur ein mehr oder weniger großer Teil davon einfangen. Ganzheitlichkeit kann daher bestenfalls ein Ziel sein. Und das Gegenteil – jemand oder etwas, die überhaupt nichts von diesem Ganzen in sich haben, vollkommen „unganzheitlich“ wären – existiert ebenso wenig. Wenn wir hier das Entweder/ Oder nicht ersetzen durch ein „Mehr oder Weniger“ laufen wir Gefahr, uns selbst ebenso zu erhöhen wie zu isolieren und andere Menschen zu Feinden oder Untermenschen abzustempeln.
Und Ähnliches gilt für andere modisch-alternative Schlagworte, einschließlich „Sich-seiner-Selbst-bewußt-zu-Werden“. Weder halte ich diejenigen, die dieses Buch niemals zur Kenntnis nehmen werden, deswegen für „unselbstbewußt“, noch glaube ich: Wer alle hier enthaltenen Vorschläge umsetzt, könnte ein vollständiges Bewußtsein seiner Selbst erlangen inklusive all dessen, was auf dieses Selbst einwirkt. In „Weltall, Erde, … ICH“ geht es nur um Schritte auf einem hoffentlich richtigen Weg, um einen weiteren unvollständigen Versuch, soviel wie möglich von uns und der Welt zu verstehen.
Aber es ist auch kein austauschbarer, beliebiger Versuch, der hier unternommen wird.
Als Ausgangspunkt des Buches (DDR ´90) dienen Befindlichkeiten von typischen ICH-Leserinnen und -Lesern: (Ex)DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, die sich ihrem Staat – nicht unkritisch – verbunden fühl(t)en.
In den Rückblicken wird daher zunächst nach Wurzeln der gesellschaftlichen Entwicklung gesucht, die zum Scheitern des Sozialismus beitrugen: in psycho-sozialen Zusammenhängen innerhalb von Familie und Gesellschaft, Stalinismus und Faschismus, von Medizin und Psychiatrie, Industriegesellschaft und Patriarchat. Gefunden wird aber sehr viel mehr als das: Entwicklungslinien, Traditionen, Prägungen, die sich mit dem Ende der DDR keinesfalls erledigt haben.
In den Ausblicken werden daraus Möglichkeiten abgeleitet, diskutiert (und mit der gegenwärtigen Realität verglichen), wie individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen konstruktiver zu gestalten wären. Verschiedene Phasen und Aspekte unseres Lebens bilden die Schwerpunkte dieses bei weitem umfangreichsten Buchteils: Von Schwangerschaft und Geburt über Eltern-Kind-Beziehungen, Selbsthilfe und Therapie, Partnerschaft und Sexualität, gemeinschaftliches Leben und Arbeiten, Medizin und Ökonomie – bis hin zur Suche nach Weltbildern und Lebenszielen, die über jene von real existiert habendem Sozialismus und real existierender Marktwirtschaft hinausgehen.
Dabei stehen „klassische“ Texte aus Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Körpertherapie neben Interviews mit und Beiträgen von heutigen Vertretern verschiedener Wissensgebiete (Psychologie, Psychotherapie, Medizin, Naturheilkunde, Sozialarbeit, Pädagogik, Ökologie, Demografie, Geowissenschaft, Lebensenergieforschung, Ökonomie, Ethik, Hexen- und Matriarchatsforschung, Theologie …). Standpunkte von Fachleuten und Journalisten treffen auf Gegenmeinungen von Leserinnen und Lesern und werden ergänzt durch sehr persönliche Erfahrungsberichte. Kurzgeschichten (von Schriftstellern, Leserinnen und Lesern), Liedtexte, Gedichte fügen ebenso eigene Blickwinkel hinzu wie ausgewählte Fotos, Zeichnungen, Karikaturen.
Und nebenbei entsteht das lebendige Porträt eines DDR-Wende-Projektes.
In diesen „Handlungsbogen“ paßten leider nicht alle ICH-Beiträge hinein, die es verdient hätten, per Buch verewigt zu werden. Schweren Herzens habe ich auf sie verzichtet. Mehrere Beiträge habe ich gekürzt, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, sowie (nach Möglichkeit in Abstimmung mit den Autoren und Autorinnen) Korrekturen vorgenommen, wenn sich dadurch Lesbarkeit und Klarheit verbessern ließen. Auch die Überschriften einiger Texte wurden verändert oder ergänzt, manche auf Wunsch der Autoren und Autorinnen, manche, weil ich glaubte, so ihre Aussagekraft zu erhöhen.
Ich danke allen, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben: den Mitgliedern des ich e.V., den ICH-Abonnenten und -Abonnentinnen, (erst Recht denen von ihnen, die dieses Projekt durch Spenden unterstützt haben), denjenigen, die Beiträge und Briefe geschrieben haben, sich Zeit für Interviews genommen haben, auf Abdruckhonorare für Texte und Illustrationen verzichtet haben, denen, die mich bei der Texterfassung und Korrektur unterstützt haben, die mich mit Anregungen, Kritiken und Literaturhinweisen versorgt haben, die mir Mut gemacht haben … Eine vollständige Aufzählung ist nicht möglich.
Denen, die es lesen, wünsche ich intensive Gedanken und Gefühle bei ihrer Lektüre. Lesen allein reicht nicht aus, um sich und die Welt zu verändern, aber inzwischen bin ich mir sicher: Manche Bücher sind ein guter Anstoß dazu …
Berlin, März 2000