Epilog

von John Erpenbeck

Brentano durchgeistert abends das barrikadennarbige Berlin. – Gott ist tot. Nichts bleibt mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich richten kann. Das Übersinnliche verwest. Vor fünf Tagen noch schien alles so anders, so groß. Unvergeßlich die frühlingshafte Schönheit jenes 13. März 1848, unvergeßlich die improvisierte Versammlung vor den Zelten, unvergeßlich der Zug von Tausenden in die Stadt. In einem Atemzuge wurde von Gott und Freiheit gesprochen. Gebete waren nicht weniger zu hören als Freiheitslieder. Friedlich ließen sich die Menschen hinter dem Brandenburger Tor von der Kavallerie umringen und einschließen. Pfeifen und Lärm war der einzige Widerstand. Selbst als die Kürassiere, ohne jede besondere Veranlassung, plötzlich auf die Männer und Frauen einhieben, sie teils verhafteten, teils in die umliegenden Straßen abdrängten, gab es keinen gewaltsamen Widerstand. Eine friedliche Revolution.

Brentano war, weiß Gott, ein unpolitischer Mensch. Die Stürme der dreißiger Jahre hatten ihn tiefer und tiefer in das Dickicht der Emmerick-Aufzeichnungen getrieben. Das ruhige Arbeitszimmer in Koblenz, das klösterliche Stübchen im Regensburger Bischhofshaus, das weltferne Domizil in der Münchener Herzogspitalgasse beherbergten den zeitmüden Pilger.

Aber in seinen Märchen, seinen Gedichten, seinen Gleichnissen gab es politische Anspielungen in Fülle. Wer das „bittere Leiden“ zu lesen verstand, konnte selbst darin viele kritische Stiche entdecken. Die protestantisch selbstgefällige Gottesfurcht der Berliner Könige mißfiel ihm, deren autokratisch selbstherrliche Diktatur bedrückte ihn wie viele. Den Königen und ihrer Herrschaft galt manch versteckter Scherz, manche Ironie, mancher Satz von tieferer Bedeutung. „Der Mensch ist frei, er kann sein Teil sich wählen, er kann begeistert sein, er kann die Sterne zählen, die mit des Lichtes Schein den ewgen Willen Gottes ihm vermählen“ – so hatte Brentano hier in Berlin einst gedichtet. Wollten die Handwerker und Arbeiter im Zuge, die von Freiheit gesprochen hatten, etwas anderes als eben dies: sich ihren Teil wählen, sich dem ewgen Willen Gottes vermählen? Nicht der König von Gottes Gnaden, Gott selbst sollte an der Spitze altdeutscher ständischer Ordnung stehen, das Denken und Tun der Menschen nach seinen ewigen Gesetzen lenken und ansonsten jeden nach seiner Fasson selig werden lassen …

Doch dann: Das Wüten der Kürassiere in der Brüderstraße. Die ersten Zwischenfälle, die ersten Barrikaden, die ersten Opfer. Auch die freiwilligen Schutzbürger mit ihren in allen Stadtbezirken gebildeten Schutzkommissionen zur Sicherheitspartnerschaft konnten nichts mehr aufhalten. Versammlungen in größeren Lokalen, Gruppen auf den Straßen berieten Gegenschritte. Neugebildete Parteien tagten unentwegt, entwarfen Eingaben, Adressen, Anträge, Programme. Schließlich: die unglücklichen Schüsse auf dem Schloßplatz.

Verzweiflung, Entsetzen, Ingrimm ergriffen die ganze Stadt. Die eben noch den Sieg der Freiheit ohne Gewalt begrüßt hatten, riefen zu den Waffen. Es begannen Kämpfe gegen eine verknöcherte Regierung, die dem Volk Rede- und Versammlungsfreiheit mit Säbeln und Kugeln verwehrte.

Die Straße übernahm die Macht. Der Pöbel hatte das Wort. Mißtönig grölte die Masse geheiligte Losungen: Entmachtung der Fürsten! Freiheit für alle! Hurra, du Schwarz, du Rot, du Gold! Es wird ein Deutschland wieder geben!

Barrikaden in der Oberwall-, Werder- und Jägerstraße, der Breiten-, Tauben- und Kronenstraße. Nun, da die Kämpfe abgeflaut sind, die Bürger sich in ihre Häuser, die Soldaten in ihre Quartiere zurückgezogen haben, spreizen sich jene merkwürdigen Bauten zwecklos in den Abendhimmel. Sie sind offensichtlich nicht nach wohlüberlegten Plänen errichtet, sondern wie es der Augenblick und die Umstände eingaben: aus umgekippten Droschken und Fuhrwagen, Rinnsteinbrücken, Tonnen, Balken, Pflastersteinen, hölzernen Brunnengehäusen, Wollsäcken, Wirtschaftsgeräten. In einer der Barrikaden auf der Jägerstraße hat man das alte Gestühl eines im Umbau befindlichen Kirchleins als Baumaterial verwendet.

Plötzlich – etwas Ungeheuerliches: Inmitten dieser Barrikade steckt ein übermannshohes Kreuz, der Christusleib ist roh herabgerissen und dazu benutzt worden, ein Loch zwischen Waschfaß und Wagenschlag zu stopfen.

Die Arme des hölzernen Leidensmannes baumeln noch an den Nägeln, die Füße sind gleichfalls vom Körper gesplittert. Blut tropft aus den Armstümpfen, quillt über die Knöchel, läuft aus den wieder aufgebrochenen Wunden Christi. Der Boden ist von Blut überströmt, gespenstisch spiegelt sich die Barrikade im roten Glanz der riesigen Blutlache.

Schreib das auf, Brentano, beschreibe diese Bauten des nationalliberalen Aufruhrs, den Veitstanz des freiheitstrunkenen Subjekts, das neuerliche Leiden und bittere Sterben unseres Herrn! Doch – wozu? Die Entwertung und Entleerung des Wortes im Zeitalter der Zeitungsinfluenz und der Neunkreuzer-Editionen machen Dichter und Gedichtetes überflüssig. Grob geschmiedet sind die Sentenzen und Reime der neuen Schriftsteller. Die im Feuer von Zensur und Selbstzensur ziselierten Sprachkunstwerke aus Zeiten der Blumen und Nachtigallen gelten nichts mehr. Die Autorität Gottes ist dahin. Die Weltflucht ins Übersinnliche wird ersetzt durch den „historischen Fortschritt“. Nihilismus wird zum Gesetz der Geschichte.

Wozu schreiben? Was schreiben? Und: für wen?

Brentano vermag nicht, zu antworten. Er ist seit sechs Jahren tot.

 

Berlin, im März 1990

 

Wir übernahmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Autors aus John Erpenbecks „Heillose Flucht“ – einem bisher unveröffentlichten Buch über den Märchen- und Liederdichter der Romantik, Clemens von Brentano (1778 bis 1842).