von Andreas Peglau
Daß ich bei mir anfange, liegt natürlich zum einen daran, daß ich es will. Ich könnte die Geschichte des ich e.V. aber auch gar nicht erzählen, ohne von mir zu reden. Es war meine Idee, 1989, diesen Verein und die „ICH-Zeitung“ zu gründen, 9 von 10 Jahren habe ich ihn geleitet, acht Jahre lang war ich Redakteur der ICH, von Mitte 1993 bis zur letzten ICH-Ausgabe im Juni 1998 auch ihr einziger „Mit“arbeiter. Bei einem Verein, dessen – am Anfang 550, jetzt noch 140 – Mitglieder über das ganze, vor allem ostdeutsche Land verteilt sind, gab es auch keine sinnvolle Möglichkeit, basisdemokratisch über den Inhalt einzelner Ausgaben abzustimmen. Was sich in jener Zeitschrift und in diesem Buch, einer Art „Best of ICH“, wiederfindet, hat daher nicht zuletzt mit mir zu tun.
Andererseits hätte es weder Zeitung noch Buch ohne die Mitglieder des ich e.V. gegeben. Und ich stünde ohne sie nicht da, wo ich heute stehe. Diese Zusammenhänge will ich nachvollziehbarer machen.
Anfang 1989 war ich 31 Jahre alt und lebte in Berlin, Hauptstadt der DDR. Acht Jahre zuvor hatte ich an der Humboldt-Uni mein Diplom als Klinischer Psychologe gemacht. Dem vor allem naturwissenschaftlich-exakt ausgerichteten Psychologie-Studium hatte ich allerdings kaum etwas abgewinnen können – mit Ausnahme der wenigen Vorlesungen über Psychoanalyse.
Daher war ich eher froh, als ein Parteiauftrag (ich war bereits seit meinem 19. Lebensjahr ein – zunehmend „überzeugteres“ – SED-Mitglied) das Forschungsstudium, das ich im Anschluß an mein Diplom begonnen hatte, nach wenigen Wochen beendete und mich zum Stellvertretenden Leiter und Programmgestalter des Universitäts-Studentenclubs machte.
Dann kam der 18-monatige „Ehrendienst in der NVA“; und während ich meinte, den Weltfrieden sicherzustellen, wurde mein Arbeitsplatz im Club anderweitig besetzt. Den Kampf dagegen verlor ich und die anschließende Jobsuche führte mich 1985 zu „Jugendstudio 64“ – der Jugendabteilung des Berliner Rundfunks.
Ein Jahr später, als gerade eine mehrjährige Beziehung zu einer Frau in die Brüche gegangen war und mir plötzlich auch der Berufsstreß über den Kopf zu wachsen schien, schickten mir westdeutsche Freunde Sigmund Freuds „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (und – oh Wunder – es kam schon beim dritten Versuch durch den Zoll!). Während meiner Krankschreibung fing ich an, es zu lesen – und zum ersten Mal ging mich Psychologie tatsächlich etwas an.
Zunächst wurde mir schlagartig Etliches klarer über mein Verhältnis zu meinen Eltern – und über die prägende Rolle, die es für meine späteren Partnerschaften gehabt hatte. Und schließlich – so, als ließe sich das eine nicht vom anderen trennen – mußte ich auch noch in meinem beruflichen und politischen Leben geradezu „frühkindliche“ Abhängigkeiten erkennen. Als ich beim Schluß des Buches angelangt war, schien nichts mehr ganz genau so zu sein wie zuvor.
Dieser anscheinend unlösbare Zusammenhang zwischen individuellen und gesellschaftlichen (inzwischen würde ich ergänzen: ökologischen, ökonomischen, globalen) Vorgängen hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.
Zurückgekommen an den Arbeitsplatz, wurde mir vorgeschlagen – welch „Zufall“ -, in die Lebenshilfe-Reihe von DT-64 (einstündige Montagabend-Sendungen mit den Titelzeilen „Mensch Du!“, „Menschens Kinder“, „Mensch, Mensch“) einzusteigen. Ausführliche Gespräche zu psychologischen Themen und mit Experten meiner Wahl zu führen – jetzt war ich daran sehr interessiert. Bald darauf fand ich privat eine neue Lebenspartnerin, eine Kollegin, und zog zu ihr und ihren beiden Kindern. Interview-Partner, die die Psychoanalyse einschließlich ihrer persönlichen und politischen Konsequenzen ebenso faszinierend fanden wie ich, suchte ich zunächst vergeblich.
Aber ich las weiter. Im Frühjahr ´87 stieß ich auf das Buch des amerikanischen Primärtherapeuten Arthur Janov „Der Urschrei“ – und konnte es kaum fassen: Jemand, der mich doch überhaupt nicht kannte, schien ein Buch geschrieben zu haben – über mich! Während Janov die Symptome seiner neurotischen, autoritätsabhängigen, arbeitssüchtigen, depressiven Patienten beschrieb, mußte ich mich in Vielem wiedererkennen. Manchmal konnte ich nur eine einzige Seite lesen, so sehr fühlte ich mich getroffen. Als es überstanden war, war ich nicht nur in meiner „Selbstanalyse“ ein Stück weiter: Ich wollte auch unbedingt eine solche „Primärtherapie“ machen. Und am liebsten: einen Primärtherapeuten als Interviewpartner. Aber das schien in der DDR ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
Doch Mitte `88 bekam ich endlich einen Tip: Da wäre vielleicht jemand, in Halle … Im Januar `89, bei einem Kongreß in Berlin, sah ich den Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz dann zum ersten Mal – und fühlte mich wie elektrisiert von seinem Vortrag. Was er über seine therapeutische Arbeit erzählte, schien in mancher Hinsicht der Primärtherapie recht ähnlich. Und wie er es erzählte, mit wieviel Energie und Engagement er davon sprach und dabei auch kritische Anmerkungen zu gesellschaftlichen Ursachen neurotischer Erkrankungen nicht aussparte – mich von ihm therapieren zu lassen, konnte ich mir gut vorstellen. Und wenn er außerdem noch bereit sein würde, mit mir Sendungen zu machen – das wär´s!
Was die Therapie betraf, dämpfte er meinen Überschwang spürbar mit einem Hinweis auf den üblichen Ablauf in seiner psychotherapeutischen Abteilung: erst Vorgespräch, dann eine sich eventuell anschließende erste Woche zum Prüfen von Therapie-Motivation und -Eignung, anschließend eine achtwöchige, stationäre Gruppentherapie. (Ich wußte gar nicht, wovor ich mehr Angst hatte: vor den zwei Monaten oder vor der „Gruppe“.) Sich mit seinen Ansichten durch den Rundfunk an eine breitere Öffentlichkeit wenden zu können, daran hatte er Interesse, und wir verabredeten uns zu einem Gespräch für den 7. März 1989 in seiner Klinik.
Daß ich dieses Datum Tag nicht vergessen werde, liegt daran, daß – während ich mich auf den Weg nach Halle und damit zu einem für mich ausgesprochen zukunftsträchtigen Treffen machte – meine Freundin in ein Taxi stieg, das sie in ein Krankenhaus brachte, wo sie vier Tage später operiert werden sollte. Drei Wochen zuvor war bei ihr Brustkrebs im fortgeschrittenem Stadium festgestellt worden.
Was dann in jener „führenden Krebsforschungs-Institution“ geschah, sollte später ebenfalls Einfluß haben auf die Auswahl mancher ICH-Themen: ein ärztlicher „Kunstfehler“. (Da der Chirurg sich den falschen „Quadranten“ der Brust gemerkt hatte, wurde nicht der Tumor entfernt, sondern gesundes Gewebe und da keine Kontroll-Untersuchungen für nötig gehalten wurden, kam die Wahrheit erst Monate danach ans Licht.)
Die Krankheit meiner Freundin und deren Behandlung bestimmten nun auch mein Leben weitgehend; ganz praktisch ebenso wie emotional. Angst und Verzweiflung legten sich immer wieder über Hoffnung und Freude, für die es 1989 gleichfalls außergewöhnlich viel Anlaß geben sollte.
Am 13. März `89 lief unter dem Titel „Mensch Du, das ist mir nicht bewußt“ meine erste Sendung mit Hans-Joachim Maaz. In seinen Worten gesellte sich jetzt zur Psychoanalyse die Körpertherapie hinzu, zu dem schon ungeheuer spannenden Sigmund Freud der in manchem noch radikalere, politischere (in einer langen Phase seines Lebens auch: „linke“) Wilhelm Reich.
An dieser Stelle fällt mir eine Absurdität ein, von der ich unbedingt erzählen muß. Aus der Chefredaktion des mittlerweile zum eigenen Sender avancierten „Jugendradio DT 64“ kamen zwar die üblichen Einwände gegen meine Beiträge über Sigmund Freud („bürgerlich-individualistisch“ bis „nicht jugendgemäß“) – aber kein Mensch hatte irgendein Problem mit Wilhelm Reich: Der war so tabu – daß ihn einfach keiner mehr kannte! (Verrückt, wie sich autoritäre Systeme auch auf diese Weise unausweichlich selbst ein Bein stellen.)
Trotzdem war es erstaunlich: Während es noch wenige Monate zuvor für – meiner Meinung nach – wesentlich harmlosere Sendungen Disziplinarstrafen gehagelt hatte, konnte Hans-Joachim Maaz nun ungehindert über weit verbreitete autoritäre Deformierungen, über lebens- und liebesfeindliche Gefühlsunterdrückung und realitätsverzerrende Neurosen sprechen – nicht beim „dekadenten Gegner“, sondern in UNS, in den sozialistischen Menschenpersönlichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik!
Verstanden habe ich diese für DDR-Rundfunk-Zustände unerhörte Freiheit nie ganz. Erklären konnte ich sie mir teilweise so: Erstens hatte ich zu diesem Zeitpunkt eine ziemlich mutige Chefin und „Abzeichnerin“ (die als erste den Kopf für politisch inkorrekte Äußerungen hinzuhalten gehabt hätte – und dies in den Jahren davor auch mehrfach getan hatte). Zum Zweiten war die DDR-Führung, das hatten wir seit dem Verbot der sowjetischen Sputnik-Zeitschrift im Herbst `88 immer wieder gemerkt, irgendwie nicht mehr „die alte“. Personell schon (selbstverständlich!), aber die Strafandrohungen für staatsschädigende Verfehlungen hatten – in den täglich vom zuständigen Politbüro-Mitglied Joachim Herrmann ausgegebenen Medien-Richtlinien – immer mehr nahezu verständnisheischenden Appellen an das Klassenbewußtsein von uns Journalisten Platz gemacht. Sie schienen plötzlich wichtigere Probleme zu haben, als unsere Sendungen rund um die Uhr auf Linie zu trimmen.
Aber ebenso entscheidend war, denke ich, etwas Drittes: Ein Staat und seine Führer, die derartig auf „Klassen“ und „Massen“ fixiert waren, konnten die Subversivität „individualistischer“ Verbesserungsvorschläge kaum noch wahrnehmen. Die wirklich wichtigen Schlachten wurden in der Produktion geschlagen, in der Außenpolitik und im Sport, auch in der Pädagogik. Aber Psychologie? Lebenshilfe? Das betraf doch nur einzelne: schwache, unbedeutende Individuen, kleine Rädchen im Getriebe objektiver Gesetzmäßigkeiten.
Nach der zweiten Sendung mit Hans-Joachim Maaz über das „Unbewußte“ und seine Konsequenzen für Leben und Lieben, im April `89, bot ich den Hörerinnen und Hörern eine schriftliche Zusammenfassung an … Das war der Urknall, aus dem der ich e.V. entstand. Denn von nun an kamen zu unseren monatlichen Sendungen jedesmal um die 1.000 Briefe und Karten – eine absolut ungewöhnliche Resonanz.
Aber noch viel erstaunlicher und beeindruckender als diese Menge von Zuschriften war ihr Inhalt, die – bei aller Verschiedenartigkeit der Absender – sich ähnelnde persönliche Betroffenheit, die unsere Sendungen bei Vielen ausgelöst hatte. Menschen zwischen 15 und 60 (die meisten allerdings zwischen 25 und 40), Lehrerinnen, Ingenieure, Kindergärtnerinnen, Offiziere, Gabelstaplerfahrer, Studenten, Hausfrauen, Ärztinnen, Mütter im Baby-Jahr, Facharbeiter, Fotografen, Schüler, Physiker, Invaliden-Rentner, ein Kneipenwirt … schrieben auf eine derartig offene Weise über sich, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Nicht nur mir „im“ Radio, auch jenen vor dem Radio schien eine Erkenntnis nach der anderen hochzukommen.
Sicherlich war es, wie ich heute weiß, kein repräsentativer DDR-Bürger-Querschnitt, der da schrieb (und später im Wesentlichen den ich e.V. bilden sollte). Dazu fühlten sich zu viele von ihnen immer noch mit unserem Staat (teilweise in einer Art Haß-Liebe) verbunden und etliche litten offenbar – wie ich – mit an dessen sich zuspitzender Krise. Gleichzeitig bemerkten sie zunehmend, wo es auch bei ihnen selbst „nicht (mehr) stimmte“. So suchten sie anscheinend nach gesellschaftlichen und persönlichen Auswegen – eben auch in den Montagabend-Sendungen von DT-64. (Manche von ihnen hatten einen solchen Ausweg bereits in Form von Psychotherapien gefunden und berichteten von ihren diesbezüglichen, sehr unterschiedlichen Erfahrungen.)
Ihre Briefe gaben mir Kraft, Bestätigung und das Gefühl von Nähe (ich denke, das, was damals stattfand, ließe sich auch als gegenseitige Lebenshilfe beschreiben) – und lösten wiederum neue Fragen in mir aus, auf die ich Antworten suchte: in Büchern, Interviews und in der jeweils nächsten Sendung mit Hans-Joachim Maaz.
Wenn sich auch die Intensität dieses „Kreislaufs“ in den folgenden Jahren deutlich abgeschwächt hat, blieb er doch im Prinzip charakteristisch für den ich e.V.: Die Gedanken, Wünsche und natürlich auch die Mitgliedsbeiträge der Vereinsmitglieder unterstützten mich (und in der ABM-geförderten Anfangszeit noch einige mehr), nach Informationen zu suchen, die ihnen und mir wichtig schienen. Auch das läßt sich in diesem Buch nacherleben.
Im August `89, als dann die ungarischen Grenzen auf- und die DDR-Bürger davongingen, hatte ich gerade angefangen, Erich Fromm´s „Das Menschenbild bei Marx“ zu lesen. Um viele Jahre zu spät stellte ich fest, daß für Marx die bei uns vergötterten Produktionsverhältnisse nur Mittel zum Zweck eines sinnerfüllten, an kreativen Beziehungen zu Menschen und Natur reichen Lebens sein sollten. Das hieß ja auch: Selbst kapitalistische Länder konnten nach Marx´ eigener Definition unter Umständen „kommunistischer“ sein als meine sozialistische Heimat DDR. Entsetzlich!
Und dann ging alles Schlag auf Schlag. Nach der ungarischen Grenze öffnete sich die Prager BRD-Botschaft, dem Pekinger Gewaltexzeß auf dem Platz des Himmlischen Friedens folgte die „Trotz alledem!“-Feier des 40. Jahrestages der DDR. Und eine Woche später: Erich Honeckers Entthronung. Und noch eine Woche später: jene Routine-Untersuchung, die die Hoffnung meiner Freundin, geheilt zu sein, endgültig zerstörte. Als dann am 4. November der Berliner Alexanderplatz nahezu übersprudelte von der Erwartung eines Neuanfangs, eines endlich „richtigen Sozialismus“ – so erschien es mir zumindest – wäre das vermutlich einer der schönsten Tage in meinem Leben gewesen, hätte er sich nicht überschnitten mit ihrer zweiten Operation, was diesmal bedeutete: Amputation.
Trotzdem – und entsprechend der Maxime „Jetzt oder (vielleicht) nie!“ – standen auch wir beide eine Woche darauf in der Warteschlange am Grenzübergang Bornholmer Straße. Von einem, vom Mauerfall ausgelösten „Befreiungsgefühl“ konnte jedoch weder bei ihr noch bei mir die Rede sein. Nicht nur, weil wir wichtigere Sorgen hatten. Wir gehörten zu denjenigen, die sich auch zuvor in der DDR nicht eingesperrt gefühlt hatten.
Bei letzterem Satz muß ich die Betonung aus heutiger Sicht allerdings sehr stark auf „gefühlt“ legen: Einige Jahre später wurde mir übel über das Ausmaß meines Eingeengt-Seins in meinem entschwundenen Vaterland. Damit meine ich weniger die verwehrten Reisefreiheiten, sondern vor allem die Tatsache, wie genau mein Leben in feste Verhaltens- und Denkregeln gepreßt war, von wieviel Aufpassern, Bescheidwissern, Staatsvertretern ich ganztägig umgeben war: von meiner Klassenlehrerin über den Fahrkartenkontrolleur bis zum „1. Sekretär des usw.“, der mir über alle Medien permanent erklärte, wo´s langging. Mein Unbehagen gegenüber solcherart Überbehütung hatte ich jedoch offenbar zufriedenstellend verdrängt. Im Gegenteil: Was ich empfand, war Geborgenheit.
Das, was in den „Mensch …“-Sendungen mit Hans-Joachim Maaz von Anfang an eine Hauptrolle spielte, hatte eben auch mit mir zu tun: unbewußt darunter zu leiden, was ich bewußt bejahte.
Apropos „bewußt bejahen“: Wenn ich vorhin von „Subversivität“ gesprochen habe, dann sollte das nicht heißen, daß ich mit diesen Sendungen irgendwie „zersetzend“ tätig sein wollte. Mein Staat war – nach Gorbatschows neuer Glasnost-SU – der zweitbeste. Er hatte noch ein paar Probleme, mußte sich noch ein bißchen ändern – aber das tat er seit Oktober ´89 doch endlich!
Meine kühnste revolutionäre Vorstellung war: Hans Modrow statt Erich Honecker! Und, na klar: mehr Transparenz, ganz so wie es Gorbi vormachte – und mehr Psychoanalyse! Es gab doch, wie ich inzwischen wußte, eine reiche Tradition an Ansätzen zum „Freudo-Marxismus“ – das wünschte ich mir als „dritten Weg“! Keinesfalls eine Vereinigung mit der „imperialistischen BRD“.
Heute glaube ich: Ich würde auswandern – allerdings: wohin? -, wenn jene einengenden DDR-Verhältnisse sich hier wieder einstellen würden. Nicht, daß ich vergessen hätte, worin der „reale Sozialismus“ seine realen Vorteile hatte – wie die Sicherheit von Arbeit und Wohnung – und worin er seine irrealen Vorteile hatte: zum Beispiel in dem Gefühl, zu etwas Größerem, Wichtigem dazuzugehören und beitragen zu können. Auch nicht, daß mir etwa das BRD-System ideal vorkäme. Aber ich halte es inzwischen, alles in allem, für einen Fortschritt – selbst im obigen Sinne von Karl Marx.
Darüber läßt sich sicher streiten. Fest steht: Die letzten zehn Jahre waren die besten meines bisherigen Lebens. Zwar konnte auch ich der Langzeit-Arbeitslosigkeit mit ihren Beschränkungen, Erniedrigungen und Zukunftsängsten nicht entgehen, aber schwerlich hätte ich mich in meinem alten Staat so intensiv „selbstfinden“ können. Auch wäre es für mich die blanke Heuchelei, im Vorwort zu einem Buch, welches die DDR-Verhältnisse nie hätten zustande kommen lassen, über den Wegfall jener Verhältnisse zu lamentieren.
Aber noch einmal zehn Jahre zurück. Was Hans-Joachim Maaz damals als „psychische Revolution“ und „therapeutische Kultur“ vorschlug, traf also genau meinen Nerv. Wie konnte das befördert werden? Während aus dem sich „umwandelnden“ DDR-Boden neue Parteien und Vereine wie Pilze hervorschossen, drängte sich die Lösung geradezu auf: Einen Verein zur Förderung der Psychoanalyse bilden, zusammen mit jenen, die uns geschrieben hatten!
Gründungsmitglieder waren unter meinen Freunden und meinen bisherigen Interview-Partnern schnell gefunden. Vier Psychotherapeuten, ein Ingenieur, ein Rockmusiker, ein Philosoph und Schriftsteller, eine Journalistin, ein Pädagoge, ein Medizinstudent und ein Psychologe – diese Mischung sollte von Anfang an klarmachen, daß es sich nicht um einen Zusammenschluß abgehobener Seelen-Spezialisten handelte. Was mit unseren Sendungen begonnen hatte, sollte mit anderen Mitteln fortgeführt werden: Lebenshilfe durch verständliche Weitergabe von – vor allem – tiefenpsychologischem Wissen, als Grundlage für Selbsthilfe, Selbsterkenntnis.
Sich an diesem Anliegen und an diesem Verein zu beteiligen, dazu lud ich die DT-64-Hörerinnen und -Hörer zum Abschluß unserer Sendung vom Januar `90 ein. Mit dem Erfolg, daß über 550 von ihnen – wohnhaft zwischen Suhl und Rügen, Bad Muskau und Gardelegen – der „Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e. V.“ beitraten (erst drei Jahre danach, unter dem Eindruck, daß die Psychoanalyse allein unseren, sich ausweitenden inhaltlichen Anspruch nur noch unzureichend abdeckte, benannten wir uns um in ich e.V.).
Im Januar `90 begann ich auch, zusammen mit einem Freund, der ebenfalls für einige Zeit ICH-Redakteur werden sollte,[1] an der Konzeption zu arbeiten für „ICH – die Psychozeitung“ (deren Name später aus ähnlichen Gründen „ausgeweitet“ wurde zu „ICH – Zeitung für neue Lebenskultur“).
Ursprünglich waren unsere Aktivitäten als Angebot für DDR-Bürger gedacht, doch ließ sich bereits zu diesem Zeitpunkt die Gefahr (so sah ich es jedenfalls) nicht mehr ignorieren, daß es unseren Staat bald nicht mehr geben könnte. Als dann im Februar `90 selbst Ministerpräsident Hans Modrow zu „Deutschland, einig Vaterland“ umschwenkte, knallte ich mein Parteibuch auf den Pförtner-Tisch in der SED-Kreisleitung Berlin-Pankow: Wenn sogar meine eigene Partei mein Land verscherbeln wollte, wollte ich mit ihr nichts mehr zu tun haben! (Heute denke ich, es gab wohl tatsächlich kaum echte Alternativen: Weder die katastrophale ökonomische Situation noch die Stimmungslage – und Charakterstruktur – der meisten von uns DDR-Bürgern hätten einen eigenständigen „Dritten Weg“ ermöglicht.)
Den 18. März, unsere ersten „freien Wahlen“, überstand ich dann nur noch mit Zynismus und viel Alkohol (und die tags drauf ausgestrahlte Sendung über unsere „Unfähigkeit zu trauern“ mischte ich mit den dissonantesten Tonfolgen, derer ich im Rundfunk-Musikarchiv habhaft werden konnte). Als im April bei meiner Freundin auch noch Lebermetastasen festgestellt wurden, war ich selbst überreif für das, was ich anderen längst dringend ans Herz gelegt hatte: eine Therapie.
Parallel zu meinen ersten verkrampften Versuchen, auf einer Körpertherapie-Matte Gefühle zu zeigen, die ich nur noch vom Hörensagen kannte, bereitete ich mit meiner Freundin, einigen Freunden und Berliner Vereinsmitgliedern die ersten beiden Veranstaltungen unseres Vereins vor. Jeweils fast 400 Leute kamen an zwei Wochenenden, Ende Mai und Ende Juni, nach Berlin, Unter den Linden, ins „Haus der Jugend“ – kurz davor noch bekannt als Zentralratsgebäude der FDJ.
Eine so große Zahl von Vereinsmitgliedern traf später nie wieder aufeinander. Trotzdem hat mich das Gefühl, das ich damals hatte, nicht wieder verlassen: daß wir miteinander etwas bewirken könnten. Und das haben wir.
Das von uns vereinssatzungsgemäß angestrebte „psychoanalytische Museum“ hat es zwar nie gegeben. Aber in knapp hundert öffentlichen Veranstaltungen brachten wir auch so Erich Fromm, Sigmund Freud, Alfred Adler, C. G. Jung, Wilhelm Reich, Alexander Neill, Fritz Perls, Alice Miller, Arthur Janov, diverse Therapieformen und psycho-soziale Themen mehreren tausend Interessierten näher – unterstützt durch eine ganze Reihe engagierter „Wessis“ als Referenten, von denen sich einige in diesem Buch als Autoren wiederfinden. (Da ich bereits kurz nach dem Mauerfall angefangen hatte, entsprechende Kontakte herzustellen und dabei in Westberlin, Tübingen, Heidelberg, Gießen und anderswo nicht nur auf Kompetenz und Hilfsbereitschaft, sondern auch auf sehr symphatische Psychoanalytiker, Körpertherapeuten, Hebammen, Journalisten … gestoßen war, hatte ich erfreulicherweise gar keine Chance, pauschale Feindbilder gegen Westdeutsche aufzubauen oder aufrechtzuerhalten.) Auch die Lebenshilfebibliothek, deren Aufbau wir uns vorgenommen hatten, wurde Realität, ebenso zwei Materialsammlungen über „Psychotherapie in der DDR“ bzw. über „Wilhelm Reich in Berlin“ sowie eine – für anderthalb Jahre existierende – Beratungsstelle für therapeutische Kultur. Und von der ICH-Zeitung wurden im Laufe der Jahre fast einhunderttausend Exemplare verkauft und verteilt.
Für genauso wichtig halte ich aber das, was ich nicht in Zahlen belegen, aber aus einer ganzen Reihe von Zuschriften herauslesen konnte: daß sich viele durch die von uns weitergegebenen Informationen bestärkt fühlten, ihr Leben und ihr Umfeld zu verändern, freie Schulen, Kommunen, gemeinnützige Vereine, ökologische Baufirmen, alternative Verlage, Beratungsstellen … zu gründen, Therapien aufzunehmen oder Ausbildungen in helfenden und heilenden Berufen. Oder einfach „nur“ mit Partnerin, Partner und Kindern intensivere, ehrlichere Beziehungen aufzubauen.
Manch illusionäres Vereinsprojekt ist allerdings gescheitert – ebenso wie die Hoffnung, aus der sprudeligen Lebendigkeit unserer Anfangszeit würde ein breiter Strom werden, der immer mehr Menschen mit sich reißt. Das Gegenteil ist eingetreten: Die Welle der anfänglichen Begeisterung hat einige Jahre getragen, ist aber dann immer mehr verebbt. Dieses Buch soll dafür sorgen, daß dieses spezielle Resultat der ersten zehn „Nach-Wende-Jahre“ trotzdem auch in Zukunft nutzbar bleibt.
Zurück zu jenen ersten beiden ICH-Treffen des Jahres `90: ein „Wilhelm-Reich-Wochenende“ und eines über „Psychische Revolution und therapeutische Kultur“. Wie riesig der Nachholebedarf an solchem Wissen war, wie stark auch das emotionale Echo, das die Deckung dieses Nachholebdarfs auslösen konnte – das zeigte sich sehr schnell. Ich werde die Hallenser Zahnärztin nicht vergessen, die nach dem Vortrag über natürliche Geburt aufstand und von ihren eigenen Erfahrungen bei der Geburt ihrer Kinder erzählte – und dabei weinte: in dem großen ehemaligen Zentralratssaal, vor uns allen, für sie völlig Fremden.
Die Erkenntnis, viel falsch gemacht und versäumt zu haben, verband uns – und paarte sich bei Vielen mit trotzigem Auflehnen gegen die uns übergestülpte Wiedervereinigung; insbesondere am zweiten dieser Wochenenden, bei dessen Beginn die Eintrittsgebühr noch mit DDR-Mark bezahlt wurde und an dessen Ende wir den angebotenen Imbiß nur noch gegen harte Westwährung herausgeben konnten: Es war der 1. Juli, der Tag der Währungsumstellung. Am Tag zuvor hatten meine Freundin und ich geheiratet – die Ärzte hatten uns geraten, uns zu beeilen, da sie ihre Behandlungsmöglichkeiten für ausgeschöpft hielten und die Krankheit weiter voranschritt. Daran hatten weder körpertherapeutische, noch naturheilkundliche oder Reichianische Heilmethoden, die wir, vielleicht zu spät, zusätzlich heranzogen, etwas ändern können.
Und während sich dann sowohl meine Frau als auch mein Staat ans Sterben machten, nahm die erste Nummer der Psychozeitung langsam Gestalt an. Meine Frau, die an der Zeitschrift hatte mitarbeiten wollen – auf ihrem journalistischen Spezialgebiet, den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern – hat deren Veröffentlichung nicht mehr erlebt, ebensowenig wie den 3. Oktober 1990.
Erst kurz nach der „Wiedervereinigung“ erschien dann endlich die erste Ausgabe der ICH.
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[1] Henry Biebass. Er und Sabine Biebass waren zudem in dieser Anfangszeit diejenigen, die einen entscheidenden Teil der immensen, noch völlig unentgeltlichen Arbeit geleistet haben.