von Thomas Schuberth
Taschenberg liegt in der Uckermark, unweit von Prenzlau. Die dortige Aktive Naturschule ist die erste Freie Alternativschule in Brandenburg. Thomas Schuberth, einer ihrer Gründer, stellt ihre Geschichte und ihr Konzept vor.
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Die Idee
Es gibt doch Schulen für alle – warum gründen dann Eltern ihre freie Schule? Eigene Erfahrungen mit Schule und Erziehung scheinen dafür ausschlaggebend zu sein. „Wesentliches Wissen und die Entwicklung wichtiger Fähigkeiten wurden mir von der Schule vorenthalten. Ich brauche da nur an den Literatur- und Staatsbürgerkundeunterricht zu denken“, erzählte mir rückblickend einer der Initiatoren. Er glaubte nicht, daß sich das nach der Wende schnell ändern würde. Und eine Mutter meinte: „Wir zogen aufs Land, um unserem Kind eine Lebensweise zu ermöglichen, die ihm besser entspricht. Das steht im Kontrast zum Alltag einer normalen Schule.“ So sorgte die Suche nach passenden Bildungsmöglichkeiten für ihre Kinder immer wieder für Gesprächsstoff unter den befreundeten Familien. Am gemeinsamen Mittagstisch begann in ihnen – fast nebenbei – die Vision einer freien Schule zu reifen, die mit Freunden diskutiert und immer konkreter wurde.
Freie Schule – das hieß für sie eine von Eltern gestaltete und verantwortete Schule. Eine Tätigkeitsschule sollte es werden, in der sich die Fähigkeiten der Kinder durch eigenes Erleben entwickeln. Die Sinne, Verstand, Bewegung, Sprache, Gefühle anspricht. In der die Kinder mit- und voneinander lernen können und die Erwachsenen sie auf ihrem Weg begleiten. Bauernhöfe und Handwerker sollten als Partner einbezogen sein. Spiel, Sport und künstlerisch-musische Tätigkeiten sollten sozialverantwortliches Verhalten und Dialogfähigkeit der Kinder fördern. Inhaltlicher Schwerpunkt war die umfassende Erziehung zu einem ökologischen Bewußtsein. In ländlicher Umgebung sollte die Schule sein, denn alltäglicher Umgang mit der Natur ist Grundlage für deren Verständnis und Achtung.
Die kleine Elterninitiative stellte ihr Schulprojekt im Frühjahr 1992 zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Zuvor hatte sie mit Kristina Mehner eine engagierte Lehrerin zur Mitarbeit gewonnen. Weitere Eltern, kamen zu den Arbeitstreffen hinzu, ich war einer von ihnen. Kontakte zum Bundesverband der Freien Alternativschulen wurden geknüpft, als zukünftigen Schulträger der Verein Freie Schule Prenzlau e. V. gegründet. Idyllische Treffen waren das damals, an warmen Sommerabenden auf der Wiese am See …
Eine der weitreichendsten Entscheidungen in dieser Zeit war die Einführung des Konsensprinzips für alle Vereinsbeschlüsse, das ich heute als eine unserer wesentlichen Stärken ansehe. Häufig brachte die Auseinandersetzung mit Minderheitenmeinungen ganz wichtige Aspekte eines Konfliktes ans Licht. Das hat zwar manche Stunde und manche Träne gekostet, doch letztendlich zu besseren Lösungen geführt. Denn jeder besitzt einen Teil der Wahrheit, der wahrgenommen sein will. Etliche vorschnelle Entscheidungen wurden so verhindert. Und wie wollten wir die Kinder zu sozialer Verantwortung erziehen, würden wir selbst Konflikte per Mehrheitsbeschluß ignorieren oder gar vermeintliche „Sündenböcke“ davonjagen?
Wie sollte nun unsere Schule konkret aussehen? Wir studierten erprobte reformpädagogische Ansätze. Unseren Vorstellungen am nächsten kam die Pädagogik Maria Montessoris und deren Weiterentwicklung durch Mauricio und Rebeca Wild in Equador. Ihre Grundaussage: Kinder wollen lernen und können von sich aus konzentriert arbeiten – vorausgesetzt, die Tätigkeit entspricht ihrem Entwicklungsstand und erfolgt aus eigenem Antrieb. Bei Babys erscheint das ganz selbstverständlich. Krabbeln, Laufen, Sprechen, Malen lernt jedes Kind zu seiner Zeit – das eine früher, das andere später, und ganz ohne Zensuren! Mit welcher Energie und Ausdauer ist es häufig bei der Sache! Genauso kann es bei Lesen und Rechnen, Philosophie und Physik sein – vorausgesetzt, die Individualität der Kinder wird respektiert und ihre Eigenaktivität nicht durch autoritäre Erwachsene, Leistungsbewertung oder das Eintrichtern vorgefertigten Wissens zerstört. Wir Erwachsenen brauchen ihnen dafür „nur“ eine zum Lernen anregende und entspannte Umgebung zur Verfügung zu stellen.
Aktive Kinder, die entsprechend ihrer inneren Natur lernen können – dieses Prinzip, verbunden mit unserem ökologischen Anspruch, fand Eingang in das Pädagogische Konzept der Schule und gab ihr den Namen.
Schulpraxis heute
In der Praxis sieht das heute so aus: Die Kinder werden früh bis 8.30 Uhr gebracht. Bis 16 Uhr haben sie Zeit für freie Arbeit (wobei die kleineren Kinder schon ab halb eins und die größeren ab 14 Uhr abgeholt werden können). Dafür stehen ihnen sechs Räume zur Verfügung, die nach Themenbereichen gegliedert sind. Sie finden darin Montessori-Lernmaterialien für Mathematik, Deutsch und Sachkunde, Bibliothek, Keramik- und Holzwerkstatt, Nähmaschine, physikalische und technische Experimente, Möglichkeiten für Musik, Theater; Bewegung und künstlerisches Gestalten vor. Im Freigelände der Schule gibt es Gärten, Kletterburg, Weidenhütte, Wasser- und Sandplatz, einen Platz zum Fußballspielen. Feste Zeiten gibt es für spezielle Angebote wie Sport, Flötenkurs, wöchentliche Exkursionen, nachmittägliches Vorlesen und für das Mittagessen.
Die Kinder wählen aus den Möglichkeiten der Schule das Thema aus, für das sie gerade empfänglich sind. Das erfolgt bei den Schulanfängern vor allem spontan und spielerisch. Die Elf- bis Zwölfjährigen stellen gemeinsam mit der Lehrerin Wochenpläne auf, nach denen sie eigenverantwortlich arbeiten. Zensuren werden damit unnötig, die Kinder erfahren Bestätigung durch das Erreichen selbstgesteckter Ziele. Nach jedem Halbjahr gibt es Entwicklungsberichte, die dokumentieren, was das Kind in der Schule getan hat.
Die Erwachsenen haben in einer solchen Schule vor allem die Aufgabe, das selbständige Lernen der Kinder zu begleiten. (Deshalb sagen wir statt „LehrerIn“ oder „ErzieherIn“ auch lieber „BetreuerIn“.) In ihrer Verantwortung liegt die Vorbereitung einer Lernumgebung, die die Kinder zu eigener Aktivität angeregt.
Altersgemischte Lerngruppen (1. – 3. und 4. – 6. Schuljahr) bieten vielfältige Möglichkeiten für soziales Lernen – den wohl wichtigsten und schwierigsten Lernprozeß überhaupt. Die Kinder lernen mit- und voneinander, helfen sich gegenseitig, entwickeln neue Ideen. Natürlich entstehen dabei auch immer wieder Konflikte. Indem die Erwachsenen nicht als Schiedsrichter, sondern als Vermittler handeln, können die Kinder selbständig zu eigenen Lösungen finden. Gemeinsam mit den BetreuerInnen werden Regeln und Grenzen erarbeitet. Sie schaffen den Rahmen, der die freie Aktivität der Kinder ermöglicht.
Forum für Absprachen, Diskussionen und Probleme sind die tägliche Morgenrunde der Großen und die Montagsrunde für alle Kinder.
Mit diesem Schulkonzept können die Kinder bei uns alles das lernen, was die staatlichen Rahmenlehrpläne verlangen. Und was den Übergang an die Regelschule nach dem 6. Schuljahr betrifft: Für Kinder ist grundsätzlich jeder Schulwechsel problematisch. Wie auch immer die Probleme fachlicher Art beschaffen sein mögen: Bei uns haben sie gelernt, sich Wissen selbständig anzueignen, sich Wege zu suchen, um das in Erfahrung zu bringen, was sie wissen wollen. Erste Rückmeldungen aus weiterführenden Schulen bestätigen das.
Uns war von vornherein klar, daß die Erziehungsmethoden zu Hause und in der Schule korrespondieren sollten, um die Kinder nicht in schwerwiegende Konflikte zu stürzen. Das bedeutet Lernen auch für die Eltern: Sie haben die Chance, mit ihren Kindern zu wachsen.
Schon früh knüpften wir mit regelmäßigen Eltern-Kinder-Treffen Kontakte zu potentiellen Schulkindern und ihren Eltern. Jetzt gibt es monatliche Elternversammlungen, und neue Kinder werden erst nach gegenseitigem Kennenlernen und ausführlichen Gesprächen mit den Eltern in die Schule aufgenommen.
Überhaupt ist ohne Elternengagement eine Schule wie unsere nicht möglich. Das Grundprinzip heißt: Wir machen Schule für unsere Kinder! Wir können zwar unsere Kinder in der Schule abgeben, aber nicht unsere Verantwortung. Die Eltern organisieren den Schülertransport über Fahrgemeinschaften und leisten Bau-, Reinigungs- und Renovierungsarbeiten. Darüber hinaus können sie sich an der Ausgestaltung von Lernangeboten, Exkursionen und Festen beteiligen oder als Vereinsmitglieder die Geschicke der Schule verantwortlich mitgestalten.
Trotz staatlicher Finanzhilfe wäre die Schule ohne Elternbeiträge nicht lebensfähig. Sie sind so gestaffelt, daß keinem Kind aus finanziellen Gründen der Besuch der Aktiven Naturschule verwehrt ist.
Wie gründet man eine freie Schule?
Pädagogische Ideen und ein engagiertes Team von Eltern und Pädagogen sind die eine Seite der Schule. Die andere ist der materielle, finanzielle und organisatorische Rahmen, den es zu schaffen galt.
Im Sommer 1993 luden wir zu einem dreiwöchigen Internationalen Jugendworkcamp ein. Gemeinsam mit 12 Jugendlichen aus ganz Europa bastelten wir Montessori-Lernmaterialien: Perlenmaterial zum Rechnen, Buchstabentafeln, Rechenbretter, Grammatik-Kästen, Lernkarteien. Alles Dinge, die für uns unbezahlbar waren und die nun zum Grundstock unserer Schulausstattung wurden.
Nach langer Suche fanden wir Schulräume, die wir dank der aufgeschlossenen Gemeindevertretung mieten konnten. Wir reovierten sie und statteten sie aus – völlig ins Blaue hinein, mit der ständigen bangen Frage: Wird die Schule überhaupt genehmigt werden? Legen doch die deutschen Gesetze Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere Grundschulen, enorme Hürden in den Weg. Und alle gesetzlichen Anforderungen galt es zu erfüllen.
Doch wir hatten Glück: Sechs Wochen vor Schuljahresbeginn 1994 hielten wir die Genehmigung des Potsdamer Bildungsministeriums in den Händen! Nicht unerheblich dazu beigetragen hat die aufgeschlossene Haltung des Landes Brandenburg zu freien Schulen. Bildungsminister Roland Resch (Bündnis 90/Grüne) ließ es sich nicht nehmen, persönlich an der Schuleröffnung teilzunehmen. Fast nebenbei gründeten wir noch einen Hort, um mit zusätzlichen Betreuerinnen die Ganztagsbetreuung der Kinder zu ermöglichen.
Und jetzt begann die eigentliche Herausforderung: Jeden Morgen kamen Kinder, die lernen wollten, zur Tür herein. Anfangs waren es 23, mittlerweile sind es 40.
Heute verstehen wir die Aktive Naturschule als ein Bildungsangebot, das innerhalb der bestehenden Schullandschaft existiert. Ein hohes Maß an Selbstbestimmung ermöglicht uns, konsequent unseren pädagogischen Weg zu gehen. Eltern haben damit die Wahlmöglichkeit zwischen Schulen mit unterschiedlichen pädagogischen Konzepten.
PS: Unsere Schule wird größer, neue Eltern sind hinzugekommen. Zum Schuljahresbeginn 1997 eröffnen wir in Templin eine Zweigstelle der Aktiven Naturschule.
Zwei Jahre nach unserem „ersten Schultag“ haben wir uns zusammengesetzt und die vergangene Zeit noch einmal Revue passieren lassen: Anke Heiden (35), Jana Soffner (26), Katja Heber (31), Brigitte Kretschmer (49) und Thomas Grothe (32) arbeiten an der Aktiven Naturschule. Kristina Mehner (29) ist im Erziehungsurlaub. Steffen Mohr (27) und ich (39) gehören zu den Gründungsmitgliedern des Elternvereins.
Hier sind einige Auszüge unseres Gesprächs:
Thomas S.: Warum arbeitet ihr heute an dieser Schule?
Kristina: Ich bin kein geeigneter Frontalunterrichtslehrer, der die Kinder genügend motivieren kann, Dinge zu tun, die ich mir gerade ausgedacht habe. Ich habe mir also eine Schule gewünscht, wo die Ideen von den Kindern kommen und wo ich sie bei dem unterstützen kann, was sie sowieso wollen. Das hat mir schon immer Spaß gemacht.
Frontalunterricht wird Kindern nicht gerecht, weil Kinder viel spontaner sind. Ihre Lernfreude wird da einfach totgemacht. Sie kommen in die erste Klasse und wollen gerne lernen, und nach vier Wochen will schon mindestens die Hälfte nicht mehr in die Schule gehen.
Anke: Nach der Wende hatte ich mit anderen Lehrern die Idee, eine staatliche Schule von innen heraus umzuwandeln. Ich mußte die Erfahrung machen, daß man so eine Institution wahrscheinlich nicht ändern kann, sondern daß man ganz neu anfangen muß. Die zweite Sache ist, den eigenen Kindern die Möglichkeit zu geben, zu … leben.
Hier kann man seine eigenen Ideen viel besser umsetzen. Und sein eigenes Ich. An der normalen Schule wurde mir immer gesagt: Du kannst nicht so sein, wie du bist, ein Lehrer hat so und so zu sein, sonst ist er kein guter Lehrer. Du darfst keine Fehler haben. Du darfst dich nicht irren.
Brigitte: Ich habe krampfhaft Arbeit gesucht. Ich bin 1994 entlassen worden und konnte mir nicht vorstellen, daß ich in meinem Alter schon aufs Abstellgleis muß. Ich habe im Schulhort gearbeitet und hatte immer eine Klassenlehrerin, die meine Zuarbeit wollte. Das war ich gewohnt.
Mich jetzt selber einzubringen mit meinen Ideen, das war eine ganz schöne Umstellung. Oder mich mit allem zurückzuhalten – daß die Kinder zu mir kommen und nicht ich ihnen was vorsetze. Ich finde schön, daß ich mich kundig gemacht habe, den Montessori-Kurs und das Gordon-Familientraining mitgemacht habe. Das hat mir alles sehr geholfen. Und ihr auch, weil ihr alle da wart für mich.
Thomas S.: Ursprünglich wollten wir vor allem den freieren Umgang mit den Kindern und die ökologische Orientierung. Und eine Tätigkeitsschule, viel stärker an Arbeit orientiert.
Kristina: Jetzt ist es eine Schule, in der die Kinder aktiv tätig sind. Doch abgesehen vom wöchentlichen Exkursionstag gibt es wenig Kontakte nach draußen. Mit dem ökologischen Anspruch machen wir es so ähnlich wie insgesamt mit der Schule: Schon dadurch, daß Natur im Schulnamen drin ist, können die Kinder sich damit beschäftigen, aber sie müssen nicht. Und durch die Vorbildwirkung: Die meisten von uns Lehrern haben sich stärker mit dem Thema Ökologie auseinandergesetzt. Letztlich ist es unser Anspruch, der inneren Natur der Kinder gerecht zu werden. Das ist auch ein ökologischer Anspruch.
Jana: Die Kinder kommen nicht nur hierher, um zu lernen, sondern um hier zu leben. An der anderen Schule hatte man gar keine Zeit, auf spezielle Probleme von einem Kind einzugehen. Man hatte eine ganz große Distanz. Ob es dem einen Kind nun schlecht ging, weil sein Kaninchen gestorben war – dafür hattest du im Grunde fast nie Zeit. Hier gehört alles dazu: Nicht bloß lernen, auch spielen und sich mit anderen Kindern treffen und austesten, wie man mit der Gruppe klarkommt. Das ist für mich auch so wichtig.
Steffen: Das Wort „Schule“ paßt gar nicht mehr. Aber was soll man sonst sagen.
Jana: Es ist mehr.
Anke: Eine Lebensschule.
Katja: Wir versuchen dem Kind zu helfen, seinen Weg zu gehen. Damit es wirklich seine Rolle leben kann, die es in diesem Leben einnimmt. Und nicht gleich verurteilt wird, wenn sein Verhalten nicht der Norm entspricht.
Jana: Vor allen Dingen lernen die Kinder viel mehr bei uns. An der anderen Schule war für mich Lernen: Lesen, Schreiben, Rechnen. Heute zum Beispiel waren wir Rollschuhlaufen, und ein Mädchen konnte das überhaupt noch nicht. Für sie war das Lernen, dabei hinzufallen und nicht gleich zu heulen, sondern sich wieder aufzurappeln. Das ist auch Lernen. Und so was sehe ich jetzt erst.
Anke: Für mich ist jeden Tag so ein Wunder, daß das Kind wirklich von sich aus lernt. Ohne daß du als Erwachsener sagst: So und so muß das jetzt laufen. Für die Kinder ist das richtig in ihrem Lebensablauf drin. Ich kann das bei meinen eigenen Kindern beobachten. Wenn Kinder von der normalen Schule kommen und sagen: „Na Jakob, was hast du denn gelernt? Ich habe heute den Buchstaben B gelernt.“, dann guckt Jakob und sagt: „Wieso? Ich lerne jeden Tag den Buchstaben, den ich möchte oder weil ich den jetzt brauche.“ Wo ich dann sage: Mensch, das klappt! Das, was wir uns da theoretisch vorgestellt haben, das klappt wirklich! Darüber bin ich jeden Tag unheimlich erstaunt. Das kann man wahrscheinlich erst so richtig wertschätzen, wenn man vorher an einer normalen Schule gearbeitet hat.
Kristina: Ich finde auch, daß die Arbeit in unserer Schule sehr familiär ist. Es ist unheimlich dicht, vielleicht manchmal sogar zu dicht. Aber das macht mir das Arbeiten angenehmer. Alle Betreuer arbeiten ständig mit allen Kindern. Das ist eine ganz andere Zusammenarbeit. In der normalen Schule geht jeder in seine Klasse und hat seine Kinder und redet fast nicht mit den Kollegen darüber. Mal gerade mit den Fachlehrern oder mit der Hortnerin.
Anke: Wir sind so dicht an den Kindern dran, daß wir meist wissen, was zu Hause los ist. Das Gute ist auch, daß sie ihre Probleme hier ‘rauslassen können – woanders werden sie weggedrückt. Damit umzugehen, ist hier die Aufgabe.
Kristina: Bei uns wissen die Kinder auch, daß sie nicht 45 Minuten stillsitzen müssen und danach erst auf die Toilette gehen dürfen oder was essen, obwohl sie schon vorher Hunger haben oder mal müssen.
Katja: Oder daß sie sich Zeit nehmen können. Anke hat gestern die Runen eingeführt und dachte sich, in einer Woche könnte sie vielleicht die nächste Sache einführen. Aber da sagt ein Mädchen: „Nein, ich brauche erst mal Zeit.“ Ich finde erstaunlich, daß die Kinder das selber sagen. Diese Entscheidung wird ihnen in der normalen Schule einfach abgenommen.
Anke: Dort glaubt man, Kinder könnten das noch nicht einschätzen und ausdrücken. Das ist überhaupt nicht wahr. Auch die Kleinen können das schon unheimlich gut. Ein Schulanfänger hat gesagt: „Ich kann schon gut rechnen, ich rechne jetzt erst mal nicht weiter. Für mich ist jetzt Lesen und Schreiben dran.“
Kristina: Ich habe mich im ersten Jahr gewundert, wie die Kinder Lesen gelernt haben. Von den zehn Kindern ist höchstens die Hälfte – und auch nur sehr selten – zu mir gekommen und hat mich etwas gefragt. Aber nach einem halben Jahr konnten zwei Drittel annähernd lesen, so wie an der normalen Schule. Es gibt natürlich immer ein paar Kinder, die es schwerer haben, wo man dann gezielt darauf eingeht. Aber alle haben ihren eigenen Weg gefunden. Manche haben es sich zwischendurch von den Großen abgeschaut. Das ist auch ein wesentlicher Unterschied: Von anderen Kindern lernen können. Nebenbei was mitkriegen, über Spiele lernen. Alles so, wie sie es selber wollen. Und dann kommt die Überraschung und Verblüffung: Mensch, du kannst das ja schon!
Anke: Als ein Kind aus der ersten Klasse bei mir das Schreiben lernte und ich die Fehler zuließ, also lautgerechtes Schreiben, sagte einer von den Älteren, der das Lesen- und Schreibenlernen an der Normalschule erlebt hat: „Hat der das gut! Dem werden nicht die Fehler berichtigt! Der kann das einfach so schreiben!“
Jana: Bei aller Freiheit – man hat aber auch immer im Hinterkopf: Was brauchen sie denn, wenn sie in der siebenten Klasse in der Regelschule anfangen?
Anke: Ja, ich habe auch öfter Angst, daß die Kinder vielleicht dann doch nicht alles können, was dort verlangt wird. Bei einer ehemaligen Schülerin war meine Angst ihr Schwachpunkt Englisch. Ich war richtig glücklich, als sie mir schrieb, daß sie total gut klarkommt und ihre Englisch-Zensur sogar besser ist als die Abschlußnote bei mir. Aber trotzdem, obwohl es eigentlich unbegründet ist – stehe ich doch unter diesem Druck. Teilweise kommt der auch von den Eltern. Aber es hat sicher auch was mit mir selbst zu tun, damit, daß ich hier als Lehrerin nicht versagen möchte.
Kristina: Diese Art von Schule ist zwar für alle Kinder gut, aber nicht für alle Eltern..
Anke: Es gibt Kinder, von denen weiß ich: Die können’s eben. Die sind selbständig und haben es von zu Hause mitbekommen. Kinder, die zu Hause alles vorgeschrieben kriegen, haben es natürlich sehr schwer, hier ihr eigenes Ding zu finden. Oder das Gegenteil: Auch für die, die zu Hause überhaupt keinen Halt haben, ist es problematisch. Die brauchen hier besonders viel Halt.
Thomas S.: Was heißt „viel Halt geben“? Ist das nicht ein Abstrich am Montessori-Prinzip der freien Wahl der Tätigkeit? Ich denke an den einen Jungen, der gerade am liebsten den ganzen Tag Fußball spielt. Dann ist das ist doch offenbar jetzt für ihn dran.
Anke: Von außen denkt man das natürlich. Aber es ist auch dran, ihm eine ganz klare Grenze zu setzen.
Jana: Er schafft es nicht alleine, vom Fußballspielen reinzukommen und nach seinem Wochenplan zu arbeiten, das wissen wir. Wir helfen, indem wir ihm einen zeitlichen Rahmen geben.
Anke: Und das tut ihm gut. Kinder, die zu Hause keine Grenzen haben, sind richtig glücklich darüber. In dem Moment natürlich nicht, da kriegen sie einen Wutanfall. Aber das ist ja gut, daß sie diese Wut ablassen können. Die müssen sich an diesen Grenzen reiben, sie austesten.
Thomas S.: Das könnte ich dann akzeptieren, wenn dieser Junge nach einem Vierteljahr Grenzensetzen selbst in der Lage ist, mit dem Fußballspielen aufzuhören.
Kristina: Das wäre ja eine riesige Entwicklung, sozusagen von Null auf Hundert mit einem Sprung. Er kann aber nur in kleinen Schritten gehen. Und die Selbständigkeit, die er bei uns erreicht, ist damit auch nicht gleich für die ganze Alltagsstruktur gegeben.
Anke: Es ist so viel verschüttgegangen, gerade bei diesem Jungen, und das müssen wir erst mal ausbuddeln. Seine Oma hat mir gesagt, sie hatten ihn schon aufgegeben. Für sie ist es ein Wunder, daß der Junge liest und schreibt – von sich aus!
Gerade bei den Älteren komme ich mir immer vor wie ein Goldgräber. Der gräbt und gräbt, bis er bei dem Kind angekommen ist, wie es wirklich ist. Ohne das Kind zu verletzen bei diesem Graben.
Kristina: Ein anderer Junge kam in der vierten Klasse und konnte fast nicht lesen und schreiben. Rechnen war auch nicht seine Stärke. Er hat sich mindestens ein Jahr lang darum gedrückt. Aber irgendwann hat er sich hingesetzt und das Einmaleins gelernt.
Jana: Jetzt schreibt er Briefe an die Banken.
Anke: Und Hörspieltexte!
Thomas S.: Nach über zwei Jahren Arbeit hier – seid Ihr weniger gestreßt, frustriert, infarktgefährdet als andere Lehrer an anderen Schulen?
Kristina: Nein, wir sind nicht weniger gestreßt. Genauso oder noch mehr …
Anke: Also, so ein nerviger Streß ist es nicht.
Jana: Anders…
Anke: Ich empfinde das als positiven Streß. Du bist aus ‘ner normalen Schule um zwei rausgekommen und hast gesagt: Was soll’s? Was hast du geschafft? Nix. Das einzige war, daß vielleicht ein paar Kinder zu dir gekommen sind, dann warst du glücklich. Ansonsten warst du frustriert.
Und hier? Ich bin zwar körperlich ziemlich fertig, wenn ich zu Hause bin, aber es ist immer so ein Gefühl: Ja, du hast wieder etwas bewegt. Es gibt zwar Punkte, mit denen du nicht einverstanden bist. Aber es gibt die Möglichkeit, das zu verändern. Du hast eben ein Team, wo du über diese Sachen reden kannst.
Jana: Man wird hier viel mehr gefordert, besonders was die Methoden betrifft. An der Regelschule hat man sich eine Stunde für 20 Kinder überlegt. Hier mußt du für jedes Kind Angebote finden, die seinem Lernweg entsprechen. Dadurch bleibst du selber auch nicht an einem Punkt stehen, sondern veränderst dich in deiner Arbeit. Auch wenn es anstrengend ist.
Thomas G.: Als ich den Streß hier gesehen habe, da dachte ich: Ich höre wieder auf, es geht nicht, ich drehe durch. Aber jetzt merke ich: Mit meiner eigenen Entwicklung fällt mir die Arbeit hier leichter.
Thomas S.: Durch die Arbeit hier im Verein habe ich viel gelernt, wie ich mit anderen Menschen umgehen kann auf einer Grundlage, die nicht autoritär geprägt ist. Ich habe hier nicht die Möglichkeit, jemanden unter Druck zu setzen oder jemandem etwas zu befehlen, und umgedreht ist das auch nicht der Fall. Daß wir hier Methoden des konstruktiven Zusammenarbeitens ausprobieren, ist ziemlich das tollste für mich.
Anke: Und ich bin richtig froh darüber, daß wir das geschafft haben, trotz unserer verschiedenen Charaktere.
Steffen: Mittlerweile.
Anke: Ja, mittlerweile. Das war am Anfang nicht so. Das ist ja ein Lernprozeß.
Brigitte: Mein Mann wundert sich oft, daß ich jetzt schon so klar rüberbringen kann, was mein Bedürfnis ist, was ich jetzt will. Das habe ich auch gelernt. Aber er findet das nicht negativ, er kann damit umgehen und er ist auch lernfähig. Und meine Kinder haben mich auch mit auf den Weg gebracht und mir gesagt: Da mußt du durch, das schaffst du. Ich war auch schon mal so weit, daß ich gesagt habe: Ach, jetzt ist Schluß, aus. Ich kann nicht mehr. Aber – es geht weiter.
Thomas S.: Glaubt Ihr, es könnte Aktive Naturschulen wie unsere in ganz Deutschland geben?
Anke, Kristina, Brigitte: Ja!!
Steffen: Oh, oh.
Anke: Nötig wäre die Autonomie der Schulen, so wie in Dänemark. Daß nicht irgendein Bildungsminister oder Leute da oben bestimmen, was an den Schulen passiert. Sondern die Leute vor Ort: Lehrer, Eltern und Kinder zusammen. Bei uns werden vom Schulgesetz und vom Grundgesetz viele Grenzen gesetzt.
Thomas G.: Das Bewußtsein, daß solche oder ähnliche Schulen notwendig sind, wächst jedenfalls.
Anke: Was wir tun, ist ja vielen so fremd. Das merke ich bei ehemaligen Kollegen. Gerade bei Älteren. Die freuen sich, wenn sie darüber was in der Zeitung lesen und finden es total gut. Aber sie sagen dann im gleichen Atemzug: Also, sowas könnten wir nicht machen.
Brigitte: Oft ist aber auch die Unwissenheit der Bevölkerung zu spüren. Sie gehen von ihrer Meinung aus, und etwas anderes lassen sie nicht gelten.
Anke: Sie setzen Selbstbewußtsein oft gleich mit permanentem Frechsein und Widerspruchsgeist. Aber mancher Jüngere und auch einige Unternehmer sind hellauf begeistert und sagen: „Mensch, wir brauchen doch solche Leute, die wirklich selbständig in der Lage sind, Probleme zu lösen. Die wünschen wir uns doch.“
Kristina: Die Kinder haben hier gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren. Sie können in dieser Welt gut leben, eigentlich in jeder Welt.
Anke: Aber das heißt nicht, daß diese Kinder so eine Art Wendehälse sind, die sich nur anpassen. Sondern selbstbewußte Kinder, die ihre Sache machen können mit anderen Kindern zusammen. Nicht bloß: ich, ich, ich. Nicht anpassen, aber einordnen ohne unterordnen.
Kristina: Wer weiß schon, was die Kinder später brauchen. Das ist so kurzsichtig, nur diese zehn Jahre Schule zu sehen.
Steffen: Für Kinder ist ja auch immer wichtig, was sie jetzt brauchen.
Brigitte: Sie haben hier wenigstens noch sechs Jahre Zeit, so zu sein, wie sie sein wollen.
aus ICH Herbst/ 97