Lebensgestaltung-Ethik-Religion. Gedanken zu einer alten Sehnsucht, einem neuen Schulfach und einem zukunftsweisenden Streit

von Katrin Panier 

Am 28. März ´96 hat der Potsdamer Landtag mit den Stimmen der SPD-Mehrheit ein neues Schulgesetz für Brandenburg beschlossen. CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Kirche wollen deshalb Verfassungsklage erheben. Der Grund: LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) wird Pflichtfach. Kirchlichen Religionsunterricht dagegen soll es künftig nur noch als freiwilliges Zusatzangebot neben LER geben. Die PDS hatte noch bis zum Schluß gefordert, die ebenfalls vorgesehene Abwahlmöglichkeit für dieses „ordentliche und bekenntnisfreie“ Fach wieder zu streichen. Die CDU-Landesvorsitzende Carola Hartfelder beharrte – ebenfalls bis zuletzt – auf der Einführung eines gleichberechtigten Religionsunterrichts.

In die Auseinandersetzungen um das neue Fach auf Landes- und auf Bundesebene mischen sich gegensätzliche Machtinteressen, der Konflikt zwischen Kirche und Staat, Probleme zwischen Ost und West und noch einiges mehr.

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Mit ihren 9 und 10 Jahren haben sie Gleichaltrigen schon eine Erfahrung voraus: Anja und Steve, deren Eltern der Arbeit hinterhergezogen sind, von Dresden nach Bayern. Von Religion hatten die Kinder bis dahin keinen Schimmer – nun haben sie keine Wahl. Wenn sie nicht dauernd merkwürdig betrachtet, von den Mitschülern gehänselt, ewig Außenseiter sein wollen, dann bleibt ihnen nur eins: mitmachen beim Religionsunterricht und möglichst nicht unangenehm auffallen.

Die kurze Peinlichkeit überstehen, immer dann, wenn sie nach ihrer Konfession gefragt werden – denn sie haben keine. Sind weder getauft noch frühzeitig in die Geheimnisse heiliger Schriften eingeweiht worden.

Aber sie lernen schnell.

Was macht es schon, daß sie zu Hause anders reden – Dienst ist Dienst!

Sie wollen überleben, gute Zensuren bekommen, nicht schlechter abschneiden als die anderen in der Klasse, die das Katholische schon mit der Muttermilch eingesogen haben.

Anja und Steve lernen nichts anderes als der brave Schüler einer DDR-Bildungseinrichtung im Staatsbürgerkunde-Unterricht (ich weiß schließlich, wovon ich da rede): besser sich anpassen und beizeiten unterscheiden können, was ich wo sagen darf – und was nicht.

Sie erwerben ein Doppelbewußtsein.

Ortswechsel. Anne und Jan – 11 und 13 Jahre alt – sind Berliner Pflanzen (wenn auch „aufgepropft“, so doch gut angewachsen). Das Elternhaus, aus dem sie stammen, ist ähnlich wie bei Anja und Steve: atheistisch – oder sagen wir: geprägt von einem Glauben, der nicht kirchlich praktiziert wird.

Ich bin die Mutter von Anne und Jan.

Über Nacht kam eine Religionslehrerin an Anne´s Berliner Grundschule und warb (in Berlin sind sowohl „Religion“ als auch „Lebenskunde“ freiwillige Zusatzfächer) mit bunten Bildchen, lockeren Sprüchen, fröhlichen Gesängen für ihren Unterricht. Große Begeisterung!

Anne war Feuer und Flamme. Weil alle ihre Freundinnen ebenfalls „in Religion gehen wollten“ – vielleicht auch ein bißchen aus Protest gegen mich. Sie wollte eben selber sehen, anstatt kritiklos das zu übernehmen, was ich lebe.

Ein halbes Jahr lang belegte Anne das freiwillige Fach, dann bat sie mich, wieder aufhören zu dürfen. Nicht, daß sie religiöse Themen von vornherein uninteressant fand, aber: „Wir sprechen da jetzt nur noch über Gott und Jesus Christus – das hat gar nichts mehr mit meinem Leben zu tun.“

Ich ließ sie den Unterricht abbrechen. Und weiß im Moment nicht so genau, mit wem sie über ihre pubertären Nöte spricht. Ich – die „gratwandernde“ Freiberuflerin – bemühe mich zwar, so oft für die Kinder da zu sein, wie es irgend geht. Aber ich weiß nur zu gut, daß ich mich und meine Rolle, die ich für Anne spiele, (bei Gott!) nicht überschätzen darf.

Ähnlich ist es mit Jan. Und bei ihm kommt dazu: Was ahne ich schon von seinen männlichen Problemen!

Jan ist 13 und geht auf ein Berliner Gymnasium. Eine der ersten Entscheidungen der 7. Klasse: Religion oder Lebenskunde? Weil er mit dem Glauben gar nichts anfangen kann, ließ er sich zu letzterem überreden.

Ebenfalls ein halbes Jahr Unterricht hat er jetzt hinter sich – und auch Jan will nicht mehr. Lebenskunde fand er zwar immer spannend und nachdenkenswert, aber nun hört die Lehrerin auf. Die Vertraute, der er sich öffnen konnte (was nicht einfach war und seine Zeit gedauert hat); mit der er über Sucht, Sex, seine Familie gesprochen hatte; die ihm autogenes Training beigebracht hat, bei der er sich gut entspannen konnte.

Er kann sich nicht vorstellen, daß das noch einmal mit jemand anders möglich ist. Ohne diese wichtige Bezugsperson ist für ihn das Fach seines Inhalts entleert. Geht die Lehrerin – dann ist für ihn auch Lebenskunde zu Ende.

Gedankensplitter. Erfahrungen, die ich miterlebt, Aussagen, die ich von – mir lieben und sehr nahen – Kindern gehört habe. Die mir als erste in den Kopf kommen, wenn ich über L-E-R nachdenke.

Ihre unterschiedlichen Erfahrungen sprechen – so scheint es mir – für das neue Unterrichtsangebot. Weil es viel mit jugendlichem Leben hier und heute zu tun hat, weil es Ehrlichkeit statt Doppelbewußtsein fördern will, verschiedene Positionen gleichberechtigt anbietet – und nicht: Entweder oder!

Ich finde, dieses Fach kann etwas Neues leisten – oder im Grunde etwas ganz Altes, weil zutiefst Menschliches: Verständnis wecken dafür, wie die anderen denken und leben. Dabei nach dem eigenen Weg suchen, ohne daß irgendjemand darüber befindet: dieser ist falsch und jener ist richtig.

Aber gehen wir das Ganze noch einmal etwas systematischer an. 

Was ist das, worum sich der ganze Bundestag streitet?

L-E-R – die Idee für dieses Unterrichtsangebot ist während der Wendezeit in der evangelischen Kirche und in der Bürgerbewegung Ostdeutschlands entstanden. Nach Jahrzehnten der Ausgrenzung realer Alltagsfragen und christlicher Kultur aus den Schulen fühlten sie sich in der Verantwortung, den entstandenen Defiziten ein Bildungsangebot entgegenzusetzen, das allen Schülerinnen und Schülern zugute kommt. Theologen und Pädagogen leiteten daraufhin zusammen mit der Brandenburgischen Landesregierung einen dreijährigen Modellversuch in die Wege: Von 1992 bis 1995 kam LER an 44 Brandenburger Schulen zum Einsatz.

In den „Hinweisen zum Unterricht“ dafür steht, recht allgemein formuliert:

„Gegenstand des Lernbereichs LER ist die Lebensgestaltung von Menschen unter besonderer Berücksichtigung der ethischen Dimension und der Sicht unterschiedlicher Weltanschauungen und Religionen.“(1)

Es geht um einen hohen Anspruch.

Alle Lebensfragen sollen behandelt werden können. Identitätsfindung, Wertorientierung, ethisch-moralische Urteilsfähigkeit sollen sich entfalten können. Philosophische, religionskundliche, ethische, sozial-kommunikative und psychologische Probleme sollen diskutiert werden – und das alles ohne Zensuren, Dogmen oder Intoleranz.

Ein verdammt hoher Anspruch!

Wie weit die menschliche Gesellschaft davon entfernt ist, ihn zu erfüllen (und wie dringend unsere Kinder deshalb ein solches Modell zum Üben brauchen) zeigt sich daran, wie um LER gestritten wird.

Bis zu einem gewissen Grad sind die hochschlagenden Gefühle verständlich: Es geht um die Relativierung religiöser Anschauungen, an die viele BRD-Bürger und -Politiker genauso heftig glauben, wie viele DDR-Bürger und -Politiker an den Sozialismus geglaubt haben. Oder noch glauben.

Es geht also um die In-Frage-Stellung eigener Lebensmaximen. Das kann weh tun, ich weiß. Aber es geht über individuelle Gewohnheiten hinaus: Schon seit der „Aufklärung“ wurde in deutschen Landen versucht, eine Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht zu schaffen – bisher vergeblich.

Es geht also auch um die Aufgabe liebgewordener ideologischer Alleinvertretungsansprüche, um Machtverlust.

Das zusammengenommen erklärt dann besser den vorläufigen Höhepunkt an LER-Verteufelung:

Wolfgang Schäubles Vorwurf, Kinder und somit spätere Erwachsene wären anfälliger für totalitäre Regimes, wenn sie anstelle von Religionsunterricht nur LER in der Schule hätten. 

Fragen an Christian Lange vom Pädagogischen Landesinstitut Brandenburg (2): 

„Als Sie – das ganze Land Brandenburg – 1992 mit dem Modellversuch LER angefangen haben, haben Sie sich da vorstellen können, daß es so massive Proteste und Angriffe dagegen geben würde?“

„Eigentlich ja. Und wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich sagen, ich bin schon ein bißchen erstaunt, daß wir heute schon an diesem Punkt angelangt sind: daß LER als allgemeines Regelfach für Schülerinnen und Schüler eingeführt wird, daß wir Hinweise für den Unterricht haben, eine Ausbildungskonzeption, daß etwa 170 Lehrer ausgebildet worden sind und daß organisatorisch klar ist, wie es in den nächsten Jahren mit LER an den Schulen weitergehen wird. Wir haben manchmal hier gesessen im Institut, und haben uns besorgt gefragt, wie wird das nach drei Jahren Modellversuch mit LER aussehen. Nicht, weil wir uns der Sache nicht sicher waren, sondern weil so viele unbekannte Größen dabei waren und politisch noch längst nicht entschieden war, wohin das geht.

Daß es Schwierigkeiten geben würde, war klar, weil LER zunehmend bundesweite Bedeutung gewonnen hat. Weil LER ein Problem benannt hat, das offensichtlich grundsätzlich ansteht. Nämlich: Daß es an den Schulen einen freien Raum geben muß für die bedrängenden Lebensfragen der Schülerinnen und Schüler. Und daß da höchst unterschiedliche Positionen aufeinanderprallen, ist klar.

LER bietet dafür den Rahmen; Religion kann fakultativ nebenher laufen.“ 

„Dagegen sträubt sich ja die Kirche ganz entschieden. Torsten Silberbach, der Leiter der Arbeitsstelle für Evangelischen Religionsunterricht in Potsdam beispielsweise beklagt, daß „der Staat damit das Monopol auf sinnstiftende, wertorientierte Erziehung in der Schule an sich zieht“. Das Kommen und Gehen „authentischer Vertreter“ der Religionen im Rahmen von LER werde allein von der staatlichen Lehrkraft festgelegt und bestimmt. Womit man sich keinesfalls abfinden könne. –

Welches Argument in diesem Streit schmerzt Sie als glühender LER-Verfechter am meisten?“ 

„Es ist eigentlich kein Argument, es ist die Unsachlichkeit, die manchmal durchschlägt. Und was mich traurig und manchmal wütend macht, daß bestimmte Dinge zwar zum hundertfünfzigsten Mal klargestellt worden sind, aber immer wieder als Vorwurf an LER herangetragen werden.

Also zum Beispiel: Was die sich da vorgenommen haben – ein wertneutrales Fach zu installieren. Das gibt´s überhaupt gar nicht! Kein Mensch kann wertneutral sein. – Ja, richtig. Es hat nur niemand ein wertneutrales Fach installieren wollen, sondern das Land Brandenburg hat ein weltanschaulich neutrales Fach im Sinn. Natürlich kann Schule gar nicht anders, als bei Heranwachsenden bestimmte Werte wie Toleranz, Demokratie und Achtung vor der Menschenwürde zu fördern und andere Werte wie Rassismus als falsche Werte kenntlich zu machen, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden will.

Weltanschauliche Neutralität bedeutet ja auch nicht, daß weder Schüler und Schülerinnen noch Lehrer und Lehrerinnen weltanschauliche Positionen beziehen dürfen. Es bedeutet vielmehr: Solche Positionen sind gleichberechtigte Meinungen unter anderen. Und im Unterricht als Ganzem wird nicht eine ganz bestimmte Sicht als wahr und gültig im Unterschied zu anderen Sichten behauptet und durchgesetzt. Es geht darum, wie auch Brandenburgs Bildungsministerin Angelika Peter immer wieder betont, die Fähigkeit und Bereitschaft zu fördern, sich sowohl mit eigenen wie mit fremden Weltsichten und Menschenbildern, Wertsystemen und Wertentscheidungen rational, argumentativ und tolerant auseinanderzusetzen.“ 

Wie war das nochmal mit der „erhöhten Anfälligkeit für totalitäre Regimes“? Entsteht die nicht eher gerade da, wo eine einzelne (Welt-)Anschauung, egal welche, zur einzig wahren erklärt wird?

Wer aber selber denken gelernt hat, wer gelernt hat, die eigene Position zu finden und die andere – vielleicht entgegengesetzte – auszuhalten, wer darin bestärkt worden ist, daß die eigenen Gefühle wichtig sind, der geht keinem „großen starken Mann“ (und keiner Frau) so leicht auf den Leim.

Die harsche Kritik an der Idee und an den Inhalten von LER erscheint mir also unangebracht.

Aber ich selbst habe auch so meine Zweifel und Fragen: Wie steht es mit der Ausführung der Idee? Lehrerinnen und Lehrer werden das in die Tat umsetzen, die sich selbst erst einmal zurechtfinden müssen, in der neuen Gesellschaft wie im neuen Unterricht. Und ihr Berufsgruppen-Image entspricht nicht unbedingt den Forderungen, wie sie im LER-Konzept formuliert werden: „Von allen, die im Lernbereich tätig sind, wird die Bereitschaft erwartet, … eigene Gefühle wahrzunehmen und zu äußern und sich selbst in Frage zu stellen.“ (3)

Von den 44 Schulen des Modellversuchs hat nur eine nach drei Jahren LER das neue Fach ausgesetzt (zumindest für ein Jahr): Das Bernauer Gymnasium.

Fragen an Angelika Barkow, Kunsterzieherin am Bernauer Gymnasium und seit 1992 LER-Lehrerin (4): 

„Wie ist der Modell-Versuch bei Ihnen verlaufen?“

„Also, wir hatten sehr unterschiedliche Phasen. Zu Beginn wurde es sehr positiv aufgenommen. Wir haben mit den 7. Klassen begonnen, mit geteilten Gruppen, zum Teil in spielerischer Form, ab Klassenstufe 8 im Frontalunterricht im Klassenverband mit 32 Schülern.

Und von den inhaltlichen Fragen her kann man natürlich mit 9. und 10. Klassen ganz andere Dinge andiskutieren als mit ´ner 7. und 8. Klasse. Wunschthema war z.B. Liebe-Freundschaft-Sexualität; wir haben aber nicht nur an diesen Wunschthemen gearbeitet, sondern auch über Leben und Tod – als Ansatzpunkt, um dann wieder auf die Religionen zu sprechen zu kommen, auch auf Buddhismus oder Judentum. Das dann mit praktischen Dingen zu verbinden – wie es der Ansatz des Faches vorsieht – war aber sehr schwierig.

Ein anderer Punkt: Die Zusammenarbeit mit den kirchlichen Kräften war sehr kompliziert. Das hing vor allem mit der geringen Erfahrung zusammen, die die kirchliche Lehrkraft mitgebracht hat im Umgang mit Jugendlichen – und damit, daß ihr Unterricht dann behaftet war mit einer gewissen Weltfremdheit und sie Schwierigkeiten hatte, anzukommen bei den Jugendlichen. Für unseren Versuchsverlauf bedeutete das einen großen Rückschlag.

Das war im zweiten Jahr, und das dritte Jahr an unserer Schule wurde daher im Wesentlichen durch die staatlichen Lehrkräfte bestritten. Da zeigte sich dann ganz stark, daß dieses Fach durch die Nichtzensierung nicht ernst genug genommen wurde. Da haben wir ganz schöne Probleme gehabt.“ 

„Ganz schöne Probleme“, doch eine keineswegs durchweg negative Bilanz. Warum trotzdem der (vorübergehende?) Abbruch?

Fragen an Jörg Schünemann, den Leiter des Gymnasiums (5):

„Was war ihr hauptsächlicher Kritik-Punkt am LER-Unterricht?“

„Als Schulleiter wünsche ich mir ein gleichberechtigtes Fach, in dem auch zensiert werden kann, das entsprechend auch ernstgenommen wird. Nach der Euphorie des neuen, schönen Faches im ersten Jahr wurde dann – während der Ernüchterung – eine zusätzliche Stunde daraus, es gab eben keine Zensuren – und da geht das Interesse der Schüler auf und ab.“

„Unter welchen Bedingungen würden Sie LER nochmal in Angriff nehmen?“

„Ich würde mir wünschen, daß es ein Fach ist wie jedes andere, das einen ordentlichen Lehrplan hat mit fachspezifischen Freiräumen, daß die Fähigkeiten der Kollegen mitbeachtet werden, daß auch benotet wird. Es muß ordentlich eingeordnet werden und es sollte keine zusätzliche Stunde für unsere sowieso schon belasteten Kinder werden. Dann ist natürlich wieder die große Frage: Welches Fach soll dafür nun wieder eine Stunde abgeben? Ich möchte sie weder im Sport noch bei Naturwissenschaften missen. Dieser Bereich ist ohnehin schon sehr reduziert worden. Und die Kernfächer Deutsch-Sprachen-Mathematik verbieten sich ohnehin von selbst.“

Vielleicht verbietet sich aber auch von selbst an überkommenen Unterrichtsmethoden und -Inhalten festzuhalten, während „draußen“ eine politische, soziale und ökologische Veränderung nach der anderen stattfindet?

Wie lebensnotwendig wofür ist beispielsweise die intime Kenntniss einer „Hyperbel“? Kann im Deutsch-Unterricht ganz bestimmt nicht auf das zermürbende Durchkauen von Texten („Ich sag Euch jetzt mal, was Goethe damit sagen wollte …“) verzichtet werden? Vielleicht geht eine eigenständigere Meinungsbildung nicht nur schneller, sondern hält auch länger vor? Ist ein Chemie-Unterricht ohne die zehnte Übung zur „Veresterung“ so unvorstellbar, wer stolpert im späteren Leben nochmal über „Bromoxid“?

Vermitteln Schulen nicht sowieso nur einen Bruchteil des Wissens der Menschheit – und müßte nicht kontinuierlich überprüft werden, ob das jeweils der sinnvollste Teil ist?

Und könnte ein weniger „frontaler“, autoritärer oder desinteressierter Umgang mit Kindern nicht bei Lehrenden wie auch bei Lernenden Zeit und Kraft einsparen?

Gerade eine Unterrichtsform, wie sie bei LER angestrebt wird, erscheint mir dafür – und überhaupt – ausgesprochen zukunftsträchtig: „Gemeinsames Lernen von Lehrern und Schülern.“

Wie gesagt: Die anderen Brandenburger Schulen haben den Modellversuch nicht abgebrochen. Offenbar auch deshalb, weil deren Lehrer und Lehrerinnen ein umgestaltetes Schüler-Lehrer-Verhältnis wichtig finden.

Aus einem offenen Brief von LER-Lehrerinnen und Lehrern (6): 

„Uns reizte dieses neue Unterrichtsfach und die völlig neue Form des Unterrichts. Endlich gab es die Möglichkeit, den üblichen Rahmen zu verlassen. Wir waren bereit, die Vielzahl von Themen aufzunehmen. Das Fach entsprach unserem Wunsch, den Schülern näherzukommen …

Dabei hat uns die Psychologische Begleitung sehr geholfen, die uns unter anderem die Möglichkeit gibt, eigene Probleme zu erkennen, zu bearbeiten und nach Lösungen zu suchen.

Je tiefer wir in der Ausbildung vorankamen, desto intensiver spürten wir auch, daß es Wissenslücken gibt. Eine umfangreiche Vertiefung erfolgte auf den Gebieten von Ethik, Philosophie, Psychologie und Religionskunde.

Dieses umfangreiche Wissen in unsere Vorbereitungen einzubauen, ist ein hartes Stück Arbeit. So sind wir gleichzeitig Lehrende und Lernende.

All das hat uns persönlich sehr verändert. Wir sind offener und toleranter geworden, treten selbstbewußter auf. Wir suchen auch in anderen Fächern nach neuen Methoden …

LER-Lehrer zu sein heißt für uns, Vertrauter, Psychologe, Wissenschaftler, Seelentröster, gleichwertiger Partner und ein ganz normaler Mensch zu sein.“

Etwas sehr umfassend, dieser Anspruch. Und: Gemeinsames Lernen hatte ich mir auch als GEGENSEITIGES Lernen vorgestellt. Aber immerhin: Ganze Gruppen von Lehrern oder Lehrerinnen, die als „Vertraute“, „ganz normale Menschen“ oder gar „gleichwertige Partner“ im Klassenzimmer stehen wollen, sind etwas Neues für mich.

Wie kommt ein so berufsuntypisches Verhalten gehäuft zustande? Ist „Psychologische Begleitung“ das Zauberwort? Einiges spricht dafür. 

Zitate aus „Notwendigkeit und Entwicklung psychologischer Begleitung … von LER“, verfaßt von Ruth Priese (7):

„Der langsame und schrittweise Abbau der vielen Formen von Spaltungen, doppelter Moral und ihren destruktiven Wirkungen, die Wiedervereinigung von Gefühl und Verstand, Natur und Geist sowie anderer scheinbarer Polaritäten gehören zu den dringlichsten ethischen Aufgaben in der gegenwärtigen Situation …

Nur das Engagement von Menschen, die sich selbst wertvoll fühlen, Freude, Begeisterung, Schmerz, Wut und andere Gefühle auch in ihren Beziehungen leben, aber auch Grenzen respektieren können, die die Folgen ihres Tuns zu verarbeiten bereit sind und keine Sündenböcke brauchen, wird letztendlich für die Lösungen der Probleme konstruktiv sein können, vor welchen die Menschen stehen.

Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen in ihrer möglichen Entwicklung zu mit sich selbst ehrlichen, reifen Menschen wird auch in der Schule geschehen müssen. Vorausgesetzt sind dabei Erwachsene, die selbst auf diesem Weg sind, und die nicht meinen, das Ziel schon erreicht zu haben. (Aber diese Haltung müssen die meisten von uns Erwachsenen – beileibe nicht nur Pädagogen – erst wieder erlernen, – K. P.) …

Was bedeutet das für die Aus-, Fort-, und Weiterbildung (AFW)von Lehrerinnen und Lehrern?

In bisherigen Ausbildungen spielte ihre eigene Persönlichkeit kaum eine Rolle, sie erfuhren selten, wie sie selbst bisher geworden und deshalb jetzt sind, wie ihr eigenes Verhalten auf andere wirkt, was es bei anderen auslöst und welche Prozesse in ihrer Schulklasse ablaufen. Sie wurden ungenügend darauf vorbereitet, jungen Menschen soziale Erfahrungen in der Schule zu ermöglichen bzw. solche mit ihnen zu reflektieren. Lehrerinnen und Lehrer lernen in ihren AFW bisher kaum,

– Gefühle, Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen hinter provozierendem, ‘überheblichem’, gewalttätigem oder passivem Verhalten wahrzunehmen und zu beachten, …

– ein Klima des gegenseitigen Respekts zu schaffen, in dem sich jede(r) Heranwachsende wohlfühlt,

– in der Schule gewaltarme Konfliktlösungen einzuüben,

– gegenüber der eigenen Jugendzeit veränderte Lebensweisen … zu verstehen.“

Und an diesen Schwachstellen setzte die „Psychologische Begleitung“ an – einmal monatlich sechs Stunden lang. Theoretischer Hintergrund vieler „Psychologischer Begleiter und Begleiterinnen“ war vor allem die Tiefenpsychologie. Aber auch Gestaltpsychologie, systemische und andere Ansätze kamen zum Tragen. Gearbeitet wurde u.a. mit

– Übungen in Fremd- und Selbstwahrnehmung, Supervision,

– Grundbausteinen „niederlagenloser Kommunikation“ wie dem „aktiven und annehmenden Zuhören“ und dem Mitteilen von „Ich-Botschaften“

– gruppendynamischen und Kommunikations-Übungen, Rollenspiel.

Das alles über mehrere Jahre unter kompetenter Begleitung angewandt, macht dann schon manches innere Aufbrechen eher verständlich.

Aber stop: Was da passiert, ist doch viel mehr als nur eine neuartige Lehrer-Fortbildung. „In der Schule, wo alles Lebendige als störend erlebt und durch disziplinarische Maßnahmen bekämpft wird“, bedeutet die Einführung solcher, nachweislich lebendigkeitsfördernder Methoden „tatsächlich einen ‘Paradigmenwechsel’“ (8). Ehrlicher Gefühlsausdruck, Zugestehen eigener Schwächen, Partnerschaftlichkeit: Die neben dem Elternhaus entscheidende Untertanen-(Aus-)Bildungs-Institution gerät ins Wackeln.

Es geht nicht nur um die Relativierung religiöser Anschauungen und um ein einzelnes Fach – es geht um eine „Reform der Schule“ (9).

Langsam begreife ich Wolfgang Schäuble immer besser.

Und auch manchen anderen Widerstand. So wurde ausgerechnet darüber nachgedacht, ob zwar LER, nicht aber die „Psychologische Begleitung“ weitergeführt werden soll. Eins ohne das andere geht aber nicht, denke ich. Erst im „geschützten Raum“ der psychologischen Begleitung dürften die meisten Lehrerinnen und Lehrer erleben: Es kann tatsächlich funktionieren, mehr zu sich selbst zu stehen. Wie sollten sie ohne eine solche Erfahrung ihren Schülerinnen und Schülern etwas ähnliches ermöglichen?

Wie sollten sie das erwünschte außergewöhnliche Verständnis für eine Vielzahl fremder Lebensgeschichten aufbringen, wenn sie nicht parallel dazu ihre eigene Lebensgeschichte „aufarbeiten“ können?

Weit hergeholt? Ein Beispiel: Für einige, die heute zur Schule gehen, ist es ein Problem, daß ihre Eltern jetzt dem ehemaligen „Klassengegner“ mit gleichem Einsatz dienen, wie vormals der Deutschen Demokratischen Republik. Sollten sie darüber reden wollen und ihr LER-Lehrer ist weder aus dem Westen noch unter 30 Jahre alt, haben sie mit ziemlicher Sicherheit jemanden vor sich, der von diesem Problem persönlich betroffen ist. Wenn dieser seine eigene Entwicklung nicht kritisch hinterfragt, betrauert, „verdaut“ hat – wie soll er dann konstruktiv mit einer solchen „Lebensfrage“ umgehen?

Oder: Wie reagiert wohl eine unglücklich verheiratete, sexuell frustrierte LER-Lehrerin auf die Schüler-Frage: „Was ist eigentlich so schön am Sex“? – wenn sie nicht wenigstens zuvor mit einer kompetenten „Begleitperson“ ihr diesbezügliches Unbehagen besprechen konnte?

Wie sollten es Lehrerinnen und Lehrer überhaupt ohne Unterstützung aushalten, wenn sie mit den aufgestauten Gefühlen ihrer Schülerinnen und Schüler konfrontiert werden, wenn sie – mangels anderer Kontaktpersonen – zum seelischen Mülleimer gemacht werden?

Jedes Berliner Jugendamt strebt an, daß sämtliche Familienhelfer Supervision erhalten (und bezahlt das nach Möglichkeit auch noch!). Bei der sogenannten „intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung“ ist Supervision sogar ein „Muß“.(10) Aus guten Gründen: Jede(r), der das schon mal gemacht hat, weiß, daß es sich gar nicht durchhalten läßt ohne die Chance, Dampf abzulassen, Probleme durchzuspielen und die eigene Rolle dabei verstehen zu lernen.

Das Ende einer gründlichen psychologischen Begleitung (mit deutlichen tiefenpsychologischen Anteilen!) bedeutet daher über kurz oder lang das Ende von LER, davon bin ich überzeugt.

Oder geht es gerade darum: Auf subtile Art das Gesamtprojekt zum Scheitern zu bringen, indem es seine wichtigste Grundlage verliert?

Aber nochmal einen Schritt zurück: Was halten diejenigen vom LER-Unterricht, für die er gemacht werden soll? 

Fragen an Katrin, Schülerin der Zehnten Klasse (11): 

„Ja, an sich fanden wir das ganz gut, nur mit der Religion an sich – da haben wir nicht ganz durchgesehen, warum sie uns da so einzelne Themen förmlich aufgedrängt haben. Gut war auf jeden Fall, daß wir uns äußern konnten, ohne daß wir benotet wurden, also daß da nicht so der Druck hinter war. Und gut war auch, daß wir – abgesehen von der Religion – unsere Themen selber wählen durften, dazu vielleicht auch mal jemanden einladen – vom Gesundheitsamt zum Beispiel.

Aufklärung, Familienprobleme, Scheidung und so – im Prinzip kam alles vor. Teilweise sind das Themen, über die zu Hause nicht gesprochen wird, hier konnten wir ehrlich darüber reden.“ 

„Kann die Lehrerin das normale Auftreten einfach so abstreifen, auf das sie in anderen Unterrichtsstunden, in Eurem Fall als Kunsterzieherin, vielleicht baut?“

„Also, in dem einen Fach war sie eben die Autorität – und in LER konnte ich manchmal auch Dinge sagen, die ein Lehrer normalerweise nicht so gern hört. Das hat sie dann einfach so hingenommen. Es ist vielleicht auch noch was anderes, wenn man es mit einer Kunsterzieherin zu tun hat – was anderes wäre ein Mathelehrer!! – , aber man hat richtig gemerkt: Da ist sie Lehrerin und hier, in LER, mehr Freundin, ja – Mensch.“ 

Schülerinnen und Schüler anderer Schulen haben Ähnliches empfunden (12):

„Ich habe in LER was über meinen Typ und meinen Namen erfahren; darüber, wie die anderen mich sehen. Woher Weihnachten kommt, über Jesus und die Kirche. Ich finde die Regel gut, daß keiner zwischenreden darf und alles im Kreis bleibt, was gesprochen wird.“

„LER ist ein vielseitiges Fach mit vielen Freiheiten. Begeistert haben mich während der letzten 3 Schuljahre offene Gespräche über Drogen- und Schulprobleme.“

„Man kann so auch die anderen Mitschüler besser kennen- und sie respektieren lernen. Das Fach sollte es an jeder Schule geben, weil man so das Zusammenleben mit Menschen anderer Meinung lernen kann.“

„Es ist viel lockerer als andere Unterrichtsfächer. Wir behandeln Konflikte mit unseren Eltern und reden über Schulstreß. Über Religion haben wir auch schon gesprochen, aber selten. Gut, daß wir keine Zensuren bekommen, denn man kann ja keine Meinung zensieren.“

Da haben wir sie wieder: Die Zensuren, die der Bernauer Schuldirektor so unverzichtbar fand. Unverzichtbar wofür? Wie würde eine Schule aussehen, in der es keine Zensuren gibt? Vielleicht so ähnlich wie Alexander Neill´s „Summerhill“.

Was für einen Staat würden Menschen aufbauen, die nicht schon von Kindesbeinen an gelernt haben, sich zensieren zu lassen? Einen ohne Zensuren!

Eine Gesellschaft, in der tatsächlich keine Meinungen, Überzeugungen, Lebenshaltungen und Leistungen „zensiert“ werden – weder durch Berufsverbote, Parteistrafen, Aus- und Einweisungen, Arbeitsstellen- oder Kontaktverluste noch durch Ordensverleihungen, „Blitzkarrieren“, „Sonderangebote“ – inwieweit entspräche die noch unserer momentanen Lebensweise? Mit anderen Worten:

Es geht sogar um mehr als um eine „Reform der Schule“.

Wenn LER erfolgreich wäre und sich verbreitete – das könnte unsere ganze Gesellschaft umkrempeln. Um Gottes Willen!

Oder doch: In Gottes Namen? Die Bibel hält einige Zitate bereit, aus denen sich ableiten ließe, daß eine „unzensierte“ Gesellschaft und ein gleichberechtigter Umgang zwischen den Menschen ganz im Sinne von Jesus gewesen wären.

Mit engstirnigen Machtvertretern scheint er dagegen nichts im Sinn gehabt zu haben. Womit wir wieder beim Bundestag wären. 

Was also spricht gegen LER?

Es kann doch niemand ernsthaft Angst haben, ein totalitäres System könnte ausgerechnet entstehen: durch freie Meinungsäußerungen von Kindern, Jugendlichen und zwischen den Generationen!

Ist vielleicht der bloße Gedanke unerträglich, etwas, das aus dem östlichen Landesteil kommt, könnte deutschlandweit Schule machen. (Wofür dann der ganze schöne Anschluß …)

Oder nehmen auch die Vertreter der gegenwärtigen Staatsmacht einfach alles als Bedrohung wahr, was „ihren“ Staat grundlegend verändern könnte?

Wer so denkt, kann zwar keine sinnvolle Politik für die nächsten Jahrzehnte machen, aber vielleicht seine Macht und seine Diäten über die nächste Legislaturperiode retten.

Ein befreundeter Grundschullehrer versicherte mir kürzlich: „Zuerst habe ich mich ja kaum mit LER beschäftigt. Aber als ich gehört hatte, der Bundestag ist dagegen, da dachte ich, Mensch, dann muß es ja was Gutes sein.“

Vielleicht ist es nicht ganz so einfach. Vielleicht doch?

 

Anmerkungen

(1) „Hinweise zum Unterricht“ – dieses und umfangreiches anderes Material ist im Pädagogischen Landesinstitut Brandenburg einsehbar bzw. erhältlich: Mehrfache Befragungen aller beteiligten Kinder, deren Eltern und Lehrer, ausführliche Unterrichtsplanungen/Erfahrungsberichte der Lehrer und Lehrerinnen, der Begleiter und Begleiterinnen und vieles mehr.

Die Adresse: Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg (PLIB). Struveshof, 14974 Ludwigsfelde

(2) Ausschnitte aus einem Interview vom 26.3.96

(3) „Lebensgestaltung, Ethik, Religion. Modellversuch in Brandenburg. Ein Konzept auf dem Weg zur pädagogischen Praxis“, PLIB-Werkstattheft 9, 1993, von Chrsitian Lange und Peter Kriesel, S.19

(4) Ausschnitte aus einem Interview vom 27.3.96

(5) Ausschnitte aus einem Interview vom 27.3.96

(6) Lehrerinnen und Lehrer im Kurs 2 der LER-Fort- und Weiterbildung, zur Verfügung gestellt durch den Kursleiter Steffen Jakob.

(7) Ruth Priese war Koordinatorin der psychologischen Begleiterinnen und Begleiter in der LER-Fort- und Weiterbildung. Der vollständige Titel des hier benutzten Materials lautet: „Notwendigkeit und Entwicklung von psychologischer Begleitung und Supervision in der Fort- und Weiterbildung von LER“, Berlin 1994. Die Zitate entstammen den Seiten 9-12.

(8) ebenda, S.12.(Ruth Priese zitiert hier E. Bergemann, J. Spielmann: „Konzept zu Baustein 3 der Moderatorenfortbildung im PLIB“, 1993, S.7.)

(9) ebenda, S.12

(10) Ausführungsvorschriften des Berliner Senats für Jugend und Familie: „Hilfen zur Erziehung gemäß § 27 ff des Kinder- und Jugendhilfegesetzes“, gültig ab 1.9.1994

(11) Ausschnitte aus einem Interview vom 27.3.96

(12) Aus einer ebenfalls durch Vermittlung von Steffen Jacob zustande gekommenen Umfrage.

 

 

 

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