„Die Charaktermauer“. Zur Psychoanalyse des Gesellschaftscharakters in Ost- und Westdeutschland

Eine Pilotstudie der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft bei Primarschullehrerinnen und -Lehrern

Es haben sich ja nach der Wende ganze Heerscharen von Sozialwissenschaftlern auf den Osten gestürzt, um die Eigenschaften und Unterschiede zu erforschen, zu messen und zu zählen. Der Kreis von Wissenschaftlern, der die hier dokumentierte Studie durchgeführt hat, wollte bewußt keine solche quantitative Sozialforschung betreiben, sondern bei relativ wenigen Menschen einer Berufsgruppe vergleichend eine Tiefenanalyse durchführen – das heißt, die auch unbewußten Motivationen und Triebstrebungen, die dem konkreten Verhalten zugrundeliegen, erforschen.

Wir glauben, daß wir mit dieser Pilotstudie einen wichtigen Beitrag zum Verstehen der Unterschiede, Feindbilder und Reibungspunkte zwischen Ost- und Westdeutschen geleistet haben – und daß nicht das Zählen und Messen, sondern das Verstehen der Tiefenschichten (sprich: des unterschiedlichen Charakters) die Voraussetzung dafür darstellt, daß die Deutschen wieder zusammenfinden können.

Rainer Funk, Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft

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Typisch Ost? Der autoritäre Charakter

Der autoritäre Charakter gehört zu den nicht-produktiven Charakterorientierun­gen. Die Grundstrebungen sind zu herrschen (sadistisch) und sich zu unterwerfen (masochistisch). Kennzeichnend für den autoritären Charakter ist außerdem die symbiotische Bezogenheit auf andere. Dabei ist die sadistische Orientierung die aktive, die masochistische Orientierung die passive Form der symbiotischen Bezo­genheit. Beide Ausrichtungen sind allerdings nur zwei Aspekte der einen autoritä­ren Charakterorientierung. Dies wird deutlich, wenn man erkennt, daß die Unter­werfung unter eine Autorität unbewußt den Versuch darstellt, Teil eines mächtige­ren Ganzen sein und an dessen Überlegenheit und Macht teilnehmen zu können.

Vergleicht man die von uns diagnostizierten Diagnosen der Charakterorientierungen der PrimarschullehrerInnen, so überwiegt bei den ostdeutschen LehrerInnen deut­lich der autoritäre Charakter: Zwölf dominant autoritären LehrerInnen im Osten stehen nur vier im Westen gegenüber. Nur drei der insgesamt 15 ostdeutschen Leh­rerInnen hatten keine dominant autoritäre Charakterstruktur. 

Interview Nr. 08 

Kurzbiographie: Angestellte Unterstufenlehrerin (Übernahme Ende 1991 unsi­cher), 36 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, wohnt in Hochhaus in Zentrumsnähe in einer ostdeutschen Großstadt. Beide Eltern arbeiteten im DDR-Staatsapparat der mittleren Verwaltungsebene.

Diagnose: Dominant autoritärer Charakter mit einzelnen produktiven Zügen. Gut gelernt sind alle Normen, gut verinnerlicht sind die wichtigsten Mechanismen des autoritär-paternalistischen Sozialismus der DDR: die bevormundende Fürsorge durch das Kollektiv bzw. durch eine Autoritätsperson; Verehrung und Dankbarkeit gegenüber Eltern, Lehrer und Arzt; Vermeidung von Kritik, Aggression und Kon­flikten; »das Gemeinsame« dominiert das Individuelle; es gibt kaum eigene Gefühle und Interessen, sie zeigt fast keine Subjektivität und Individualität (besonders in ih­rer Sprache erkennbar); sie ist ehrgeizig-angepaßt, doch nicht ohne innere Wider­sprüche. Auf produktive Züge verweisen ihre Lebendigkeit und Kreativität in mehre­ren Antworten (Geburt der Kinder, Fortbildung/Veränderung der Schule, Gefühle beim Tod des Vaters).

Einzelnachweise für die Diagnose: Für eine autoritäre Orientierung spricht be­reits die formelhafte Sprache, mit der sie antwortet: Viele Sätze beginnen ohne Subjekt, es wird formelhaft-unpersönlich geantwortet, wo eigene Gefühle oder In­teressen gefragt sind. Sie bemüht sich darum, das Vorgegebene, die Normen zu erfüllen: »Ich möchte, daß das, was meine Eltern in mich ›investiert‹ haben, nicht sinnlos war« – darin sieht sie den Sinn des Lebens. Den Ort, an dem sie aufwuchs, charakterisiert sie so: »Durch die vielen Grünanlagen gab es gute Vor­aussetzungen für freizeitliche Betätigungen«. Für den Unterricht gilt: »Die Vermittlung von Wissen muß sich in eine sozial gesunde Atmosphäre einordnen«. Die Frage, wie sie persönlich mit ihren KollegInnen auskommt, beantwor­tet sie u.a. mit dem Hinweis auf Maßstäbe. Sie ist sehr bildungsbeflis­sen: Sie benutzt ihre freie Zeit, um ihr »Allgemeinwissen ständig zu aktualisieren«. Im Fernsehen sieht sie nur »informative Sendungen und niveauvolle Filme über zwischenmenschliche Beziehungen«. Ihr Fernstudium mit dem Ziel Beratungslehrer dient ihr zur »persönlichen Weiterentwicklung«.

Ihr Eigenes ist nicht ihr Eigenes, sondern von den gesellschaftlichen Autoritäten unreflektiert übernommen. Ihr soziales Engagement und ihr Idealismus wirken eher »gelernt«, normativ vorformuliert. Sie möchte, »daß Entscheidungen gerecht fallen und zu keinen sozialen Nachteilen führen«. Maßstab, dafür, daß sie mit den KollegInnen gut auskommen kann, sind »Entgegenkommen, Hilfsbereit­schaft und Sachverstand«. Formelhaft-altruistisch sind die Erziehungs- und Lebensziele in bezug auf Kinder. An sich selber schätzt sie besonders ihre Hilfsbereitschaft. »Ich würde bedingungslos jedem helfen und …weil ich es nicht ertragen kann, daß jemand sozial unterlegen ist«. Allerdings kann sie kein Bedauern empfinden für Menschen, »die aufgrund von Oberflächlichkeit in Geldnö­te geraten«. Unpersönlich und rein kognitiv bleibt auch ihr Ver­hältnis zur Religion. Sie bedauert, »daß allgemein das Materielle jetzt der Hauptin­halt des Lebens ist«. Sie »empfinde aber« zum religiösen Denken, »soweit das meinem Wissen über Religionsgeschichte entspricht, viele gedankliche An­knüpfungspunkte – zum Beispiel auf der Basis der Humanität, der Menschenliebe und des Strebens nach Gerechtigkeit«.

Die Beherrschung von Gefühlen, speziell das Vermeiden aggressiver Affekte zieht sich durch das ganze Interview: Sie hat »eine sehr liebevolle Kindheit erlebt, beide Elternteile waren um größtmögliche Fürsorge bemüht«; in ihrer eigenen Familie geschieht alles gemeinsam: »… Je nach Möglichkeit wollen uns die Kinder unterstützen. Sie wollen es von sich aus«. Alle Probleme »lösen wir ge­meinsam«. – »Der Anreiz«, Unterstufenlehrerin zu werden, »kam zustan­de« durch Einflüsse der Eltern und durch einen »verehrten Lehrer«. Ob­wohl die Schulbehörde sie derzeit hängen läßt, möchte sie sich »nicht unbedingt« dazu äußern. Sie hofft, »immer genügend Kraft zu haben, um anderen ge­genüber nicht ungerecht werden zu müssen oder sie zu verletzen«. Kon­kurrenz- und Überlegenheitsgefühle kennt sie nicht, ver­meidet also Kritik, Aggression und Konflikte.

Gelegentlich werden ambivalente oder unterdrückte Gefühle deutlich: Sie fühlt sich unsicher, wenn andere »sich nicht die Mühe machen, mich zu verstehen«. An sich selber mag sie nicht ihr »Verletztsein durch das Nichtverstehen anderer«. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, gilt: »Im unmittelbaren Gespräch kann ich heftig reagieren, aber mich auch verletzt zurückziehen«. Zuver­lässig, humorvoll und zielstrebig soll ihr Partner sein, nicht jedoch dominant, ego­zentrisch und rücksichtslos.

Konservativ-autoritäre und zum Teil patriarchalische Züge werden ebenfalls deutlich. So nennt sie drei Männer als ihre Vorbilder. Frauen können nach ihrer Meinung in unserer Gesellschaft niemals eine umfassende Gleichstellung er­langen, »da die Doppelrolle Mutter und Ausübung eines Berufs immer erhalten bleibt«. Im Gespräch mit ihren Eltern habe sie »sehr frühzeitig kritisch staatliche Entscheidungen zu bewerten gelernt«, doch »ohne eine Veränderung zu erwägen. Aus heutiger Sicht eine gewisse Ohnmacht.« Schließlich fühlt sie sich durch die Zulassung von allzu vielen Schulbüchern verunsichert und zieht letztlich den Frontalunterricht der Gruppenarbeit vor.

Auf der anderen Seite gibt es – wenn auch nicht gleichgewichtig – eine ganze Reihe von Antworten, die Kreativität und Lebendigkeit, also produktive Orientierungen spüren lassen, auch wenn diese zum Teil stark sozial vermittelt sind: Sie entwickelt eine ganze Reihe von Vorschlägen zur Veränderung der Grundschule; sie bildet sich zum Beratungslehrer weiter, liest viel und möchte sich wieder einem Zeichenzirkel anschließen; ihr Einsatz, ihre Hilfsbereitschaft und ihr Gerechtig­keitsempfinden wirken oft, aber nicht immer oberflächlich; sie schätzt Güte und Humor; »Bei der Geburt meiner Kinder empfand ich als Summe die gesamte Schönheit des Lebens« und: »Beim Tod meines Vaters empfand ich Erleichterung (langes Leiden) gemischt mit Trauer«.

Typisch West? Der Marketing-Charakter

In Wirklichkeit kann man beim Marketing-Orientierten nicht mehr von einem Charakter sprechen, weil es nichts Verbindliches, Dauerhaftes, Eigenes und Eigentümliches mehr gibt. Es gibt nur noch Rollen, Outfits, in die man hinein- und heraus schlüpfen muß …

Als wichtigste Charakterzüge der Marketing-Orientierung sind die Fähigkeit zur flexiblen Anpassung an die Marktgegebenheiten und das „Man“, die Außenorientierung und die mit ihr einhergehende opportunistische Prinzipienlosigkeit sowie ein allgemeiner Relativismus, die Mobilität, Ungebundenheit und Unverbindlichkeit, die Offenheit sowie die Oberflächlichkeit der affektiven Bindung, die Ausrichtung an Leistungsdenken und Erfolgsstreben.

Die Entwicklung der letzten 45 Jahre läßt für Ostdeutschland eine Dominanz der autoritären Gesellschafts-Charakterorientierung erwarten, während für Westdeutschland mit einer stärkeren Verschiebung zur Marketing-Orientierung hin zu rechnen ist.

Bei vier von dreißig Interview­ten zeigt sich eine Dominanz der Marketing-Orientierung; alle vier sind westdeutsche Lehrerinnen.

Interview Nr. 26

Kurzbiographie: Verbeamtete Grundschullehrerin, 41 Jahre alt, unverheiratet, keine Kinder, allein lebend, wohnhaft in einer westdeutschen Großstadt.

Diagnose: Marketing-Charakter

Einzelnachweise für die Diagnose: Kennzeichnend für den Marketing-Charakter sind insbesondere folgende Äußerungen:

»Wenn ich’s verrechne« antwortet sie unter anderem auf die Frage nach ih­rer Vorbereitungszeit für die Schule und läßt damit deutlich eine Austausch-Ten­denz erkennen. Auf die Frage nach der Bedeutung von Religion für ihr Leben, be­kennt sie: »Aber es fehlt, daß ich tief ergriffen bin«. Allzu tiefe Gefühle könnten hinderlich sein für ihren zwischenmenschlichen Austausch und eventuell feste Bindungen oder Verbindlichkeiten nach sich ziehen. Ihre leidenschaftliche Vision vom flexiblen, anpassungsfähigen Menschen drückt sich in ihrem Wunsch aus: »Flexibler wieder zu werden, mehr in der Lage zu sein, auf neue Situationen einzugehen«.

Bezeichnend für einen oberflächlichen, unbeständigen, wahllosen, identitätslosen, Marketing-Charakter sind auch folgende Äußerungen: Soll sie das Zahlenverhältnis zwischen Lehrerinnen und Lehrer benennen, ist sie ungenau und bemerkt: »Ich vergeß‘ immer ein paar«. Bei der Frage, warum sie Grundschullehrerin wurde, ist die Motivation ziemlich wahllos: »Ich unterrichte so ziemlich alles… wollte gerne Kinder unterrichten, hätte aber auch was anderes werden können«. Für grundsätzliche Neuorientierungen im Berufsleben bleibt sie durchaus aufgeschlossen: »…Ja, auch was Neues dann, wäre nicht schlecht«. Päd­agogische Vorstellungen zum Schulunterricht kommen und gehen. »Mit pädagogi­schen Formulierungen halte ich mich zurück, weil ich gemerkt habe, wie es kommt und geht… Bei mir wechselt es auch: Frontalunterricht und offener Unterricht. Würde ich nicht werten«.

Das Auskommen mit Kolleginnen wird mit einem nichtssagenden »ist gut« kommentiert, und auch ansonsten scheint sie keine besondere »Kommunika­tions­spezialistin« zu sein: »Ich leb‘ alleine jetzt gerade«; auf störende SchülerInnen »…muß man sich halt drauf einstellen«. Vieles ergibt sich aus dem Augenblick bzw. dem Gegenüber. So lautet ihr päd­agogisches Grundkonzept: es »ergibt sich aus der Klasse, was man macht«.

Freizeitbeschäftigungen »gibt’s ’ne ganze Menge«, doch hinterläßt ihre Aufzählung den Eindruck einer Unverbindlichkeit und Beliebig­keit, der sich dann bei den Aussagen zur bevorzugten Lektüre fort­setzt: »Das ist Querbeet… Kommt immer darauf an. Wenn ich in die Buchhandlung gehe, kaufe ich manchmal was ganz Unberechenbares«. »Das wechselt« ist ihre Antwort auf die Frage, ob sie öfter ins Kino gehe und was sie da beeindrucke.

Bei bettelnden Personen kommt es ihr »…auf die Person an« und politisch steht sie »…eher ein bißchen links von der Mitte«, doch außer einer gewis­sen Unbestimmtheit läßt sich daran kaum etwas erkennen. Über ihre politische Ak­tivität sagt sie selbst: »So richtige Funktionen habe ich da nicht übernommen«. Unterlegenheitssituationen werden von ihr weitgehend vermieden und sie fügt hinzu: »…habe mich zum Teil angepaßt«.

Das Überspielen von Langeweile ist ein besonderes Kennzeichen des innerlich ent­leerten und darum passiven Marketing-Charakters: Der Beruf dient ihr in erster Linie als Anregungsmedium und deshalb schätzt sie vor allem »daß mir nie lang­weilig ist«. Wahlloses Fernsehen dient demselben Zweck: »Kam schon vor, daß ich lange ferngesehen habe, alles was kommt«. Ihre Lebenspartner dürfen keinesfalls langweilig sein, doch häufige Trennungen belegen ihre tief sitzende Beziehungsschwäche. Der Sinn des Lebens wird von ihr als ein ständiger Versuch erlebt: »dabei passiert etwas«. Die innere Leere und Passivität äußert sich in der Hoffnung, daß etwas von außen Kommen­des sie belebt und verändert: Manchmal passiert etwas durch »körperliche Sachen, die verändern einen auch«. Darin gipfelt auch ihre Vision von dem Men­schen, der sie gerne werden möchte: »Manchmal passiert etwas, dann ist es da, es kommt von außen«. Folgerichtig gilt: »Ich mag das Geheimnisvolle, bin dafür offen, nicht so hier, aber auf Reisen«. Bei all ihren Weiterentwick­lungsaktivitäten mag sie vor allem »…nicht so festgelegt« sein.

Verbindendes Traumziel? Der produktive Charakter

Der produktive Charakter will lieben, tätig und vernünftig sein. Ihm geht es um lebensfreundliches Wachstum – bei sich und anderen. Er sucht die Kräfte einzuset­zen und zu entfalten, die diesem Ziel dienlich sind. Er ist deshalb fürsorglich und achtsam, kann teilen, mitteilen und geben, ist aktiv (statt aktivistisch-umtriebig oder passiv) und vermag realitätsgemäß wahrzunehmen. Produktive Bezogenheit ist weder symbiotisch noch distanziert, sondern autonom-interessiert, das heißt der produktive Charakter ist verbunden und bezogen, ohne aber die Autonomie und Integrität bei sich und beim anderen aufzugeben.

Unter den 30 Befragten wurde nur bei einem Interview eine produktive Charakterori­entierung ermittelt. Bei neun weiteren Interviews dominiert ein anderer Charakter, doch zeigt sich eine sekundäre Mischung mit der produktiven Orientierung. Werden alle 10 Interviews mit einer dominant oder sekundär produktiven Orientie­rung betrachtet, ergibt sich, daß die produktive Orientierung bei sieben ostdeut­schen LehrerInnen, aber nur bei drei westdeutschen erkennbar ist.

Wie zeigen sich die spezielle Dynamik und typischen Charakterzüge des produkti­ven Charakters bei den Interviewten? Die Arbeit als LehrerIn kann mehr oder weniger produktiv gemacht werden. Fol­gende Merkmale kennzeichnen produktive Arbeit: Der produktive Charakter hat »Freude daran, mit Kindern zusammen zu sein, ihnen etwas zu zeigen«. Am Lehrberuf mag derselbe Lehrer »die Lebendigkeit, mit anderen Menschen um­zugehen. Die persönlichen Beziehungen sowohl zu den Kindern als auch zu den Eltern. Die Freude am Lernfortschritt«. »Zu erleben, wie sie sich entfalten«. Der oder die produktive LehrerIn findet Gefallen an den wesentlichen Anforderungen des Berufs, nämlich mit Menschen zusammen zu sein und anderen etwas beizubringen. Dies geschieht nicht vorrangig wegen des Wunsches der Eltern, wegen der Ferien, des guten Gehalts oder um andere beherr­schen zu können oder sein Selbst dadurch aufzuwerten, sondern aus Freude am Zusammensein mit Menschen. Entsprechend wird versucht, den Unterricht »kindgerecht zu machen«, ihn so »nach individuellen Gegebenheiten (zu gestalten), daß jedes Kind Unterstützung in seinen Fähigkeiten bekommt, daß die Persönlichkeit des Kindes ausgebildet wird, begünstigt wird«. Der produk­tive Charakter will »nicht aussortieren«, sondern »fördern«, »integrieren« und bezieht gegebenenfalls einen Sonderpädagogen mit ein, der »gezielt fördern« kann. Er sieht in den Kindern Personen, und er findet es schön, zu »erleben, wie sie sich entfalten, und man nur ab und zu einige Impulse zu geben braucht«. Er ist mehr an menschlichem Wachstum interessiert als an wissensmäßi­gem oder materiellem und will, daß der Unterricht lebendig ist, »nicht einfach so nach der Norm durchgezogen«.

Jeder Mensch muß sich auf die eine oder andere Art auf sich und seine Mitwelt beziehen. Der produktive Charakter tut dies besonders durch Liebe. Er achtet an­dere in ihrer Menschenwürde. »Gewalt und Stupidität« lehnt er ab und ver­sucht »darüber zu stehen, über Gemeinheiten und Furcht«. Er will »die Fehler von anderen Menschen noch besser verstehen« lernen. Die wichtig­sten Werte sind für ihn Achtung, Verständnis, Humor, Güte und Fürsorge. In der Liebe sieht er den Sinn des Lebens.

Sein Ziel ist nicht: zu haben, sondern: zu sein, »dazusein«, »für andere etwas zu tun«. Human zu sein heißt lebendig zu sein, zu fühlen und Gefühle auszudrücken statt an Gefühlskälte, Sentimentalität oder Gefühlsstau zu leiden. »Selbstgefühl und Selbstbewußtsein« sind unverzichtbar, ebenso aber auch die Wertschätzung – nicht des eigenen Könnens, sondern der Kinder; »Sie hat sich immer sehr mit uns gefreut, wenn jemand etwas konnte und konnte das auch zei­gen«. Gefühle, die ausdrücklich genannt werden, sind: Freude, Ärger, Liebe. Der produktive Charakter ist »kein Streßmensch«, sondern will Zeit und Gelegenheit haben, um sich persönlich zu entwickeln durch Besinnung und Arbeit an sich selbst.

Der produktive Charakter ist nicht vorrangig auf Karriere oder Erfolg aus, sondern er tut etwas um seiner selbst willen, aus eigenem Antrieb, weil er sich dafür interessiert, es wichtig oder auch erfreulich findet. Er will nicht nur selbst ein Mensch sein, der gern mit anderen zusammen ist und sich freut, anderen etwas beibringen zu können, sondern sucht und schätzt auch solche Menschen wie etwa den Rettungsschwimmer, der »immer mit ganzer Kraft darin lebt und voll davon begeistert ist« oder den Sportlehrer, der immer freund­lich war und »den Sport aus reiner Freude betrieben« hat.

Kontaktnahme und Interessiertsein sind weitere Merkmale produktiver Liebe. Nicht von ungefähr wird »Freundschaften pflegen« bei den Freizeitbeschäftigungen an erster Stelle genannt. Der produktive Charakter ist über den eigenen engeren Kreis hinaus engagiert und interessiert sich für seine Mitwelt und für die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse.

Des weiteren zeichnet sich der produktive Charakter durch den produktiven Ge­brauch seiner Vernunft aus. Er will wissen, was um ihn herum vorgeht und er be­müht sich um Informationen über die Realität. Er nimmt die Wirklichkeit nicht verzerrt, sondern objektiv, das heißt wirklichkeitsgerecht wahr. Konkurrenz wird von ihm nicht verleugnet: »Konkurrenz emp­finde ich oft beim Sport. Auch in Sachen Frauen. Mit meinem Kumpel gibt es da häufig Konkurrenz. Er ist auch oft besser als ich«. Er sieht den Sinn des Lebens nicht nur darin, »für andere etwas zu tun, dazusein«, sondern auch darin, »daß andere selber für einen da sind«. Dieser Lehrer sagt denn auch von sich: »Ich kann gut allein leben und bin gern bei anderen Leu­ten gesehen«. Der produktive Charakter ist selbstkritisch und findet es wichtig, sich menschlich zu entwickeln: »dann schätze ich die Fähigkeit zur Arbeit an wir selbst« Als wichtige Werte nennt er Ehrlichkeit, Vernunft, Menschenwürde. Er sucht sich mit anderen zu verständigen, sie besser zu verstehen.

Für den produktiven Charakter ist wesentlich, daß er spirituell orientiert ist, er diese Dimension wahrnimmt, nicht verdrängt, weder gleichgültig noch dogmatisch, sondern sensibel ist. Er spürt, daß Verstand nicht alles ist, »daß es etwas gibt, das man nicht begreifen kann. Daß es eine Macht gibt, die außerhalb steht«. Er bemüht sich um »Selbstfindung, Nachdenken, Feierlichkeit, Kultur«. Diese religiösen, spirituellen Strebungen wären mißverstanden, wenn sie als etwas Abgehobenes, als bloße Innerlichkeit verstanden würden. Sie sind, im Gegenteil, wesentlicher Impuls, sich um menschliches Wachstum und menschliche Zustände zu bemühen. Der produktive Charakter will nicht in erster Linie funktio­nieren, managen, wegschaffen, sich anpassen oder sich grandios fühlen, sondern er will Zeit für sich haben, um sich zu besinnen und sich zu entwickeln. Genau dies ist auch wichtig im Hinblick auf Staat, Gesellschaft und Politik, etwa in dem Bemü­hen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen: »Wir haben ja in der Nähe das KZ Buchenwald. Ich gehe alle halbe Jahre mal hoch. Da oben kommt man zur Be­sinnung über die deutsche Geschichte«.

 

„Die Charaktermauer. Zur Psychoanalyse des Gesellschaftscharakters in Ost- und Westdeutschland“, eine Pilotstudie bei Primarschullehrerinnen und -lehrern, verfaßt von der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft. Dieses Buch, aus dem der obige Beitrag zusammengestellt wurde, ist 1995 erschienen im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen/Zürich. Wir danken dem Verlag und der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft für die freundliche Abdruckgenehmigung. In Weltall, Erde, … ICH war der Beitrag ursprünglich nicht enthalten.

Siehe zu diesem Beitrag auch das Interview mit Petra Tauscher: Wo bleibt der produktive Charakter? 

 

 

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