Summerhill heute

von Mathew Appleton

Viele glaubten, als Neill im Jahre 1973 starb, daß Summerhill mit ihm sterben würde. Dies war nicht der Fall. Summerhill lebt auch heute noch als sich selbst regulierender sozialer Organismus, unabhängig von dem Mann, dessen Persönlichkeit so wesentlich mit dieser Konzeption verbunden war. Neill war sich bewußt, daß in vielen Augen sein Bild als der verständige Vater, den jeder gerne gehabt hätte, größer erscheint als die Einsichten in die Natur der Kinder, die er so leidenschaftlich mit seinen Schriften und seinem Leben vermittelte. In seinem Buch „Summerhill“ sagt er: „Oft wird mir die Frage gestellt ,Ist denn Summerhill nicht eine Ein-Mann-Show?‘ ,Ginge es auch ohne Sie weiter?‘ Summerhill ist keineswegs eine Ein-Mann-Show … Es ist die Vorstellung vom Nichteingreifen in die Entwicklung des Kindes und das Nichtausüben von Druck auf das Kind, das die Schule Summerhill zu dem gemacht hat, was sie ist.“

Um dies zu verstehen ist es notwendig, die dynamischen Prozesse zu verstehen, aus denen Summerhill aufgebaut ist und die Strukturen, die diese Prozesse stützen. Summerhill ist zuerst einmal eine Gemeinschaft von etwa 75 Kindern im Alter zwischen fünf und 18 Jahren und etwa einem Dutzend Lehrern, nicht miteingerechnet das Hauspersonal, das täglich herkommt und somit nicht voll am Gemeinschaftsleben teilhat. Es gibt etwa eine Handvoll „Tages“kinder; doch die meisten sind Internatsschüler. Das Schuljahr hat drei Trimester, jedes dauert elf oder zwölf Wochen.

Lehren und unterrichten bestehen innerhalb des Rahmens der Gemeinschaft, sind aber keineswegs das Zentrum der Aktivitäten. Sehr viel Zeit und Energie fließt in die tägliche Organisation und Aufrechterhaltung des Gemeinschaftslebens.

Als Hausvater in Summerhill bin ich verantwortlich für die Gesundheit und das Wohlbefinden der mir anvertrauten Kinder, doch habe ich keine Autorität über sie, ich habe lediglich die gleichen Rechte wie jedes andere Mitglied der Gemeinschaft.

Somit kann ich unter den Kindern leben, ohne die Rolle eines Polizisten spielen zu müssen, eine Rolle, die ich dankbar ablehne. Dies macht den Weg frei für kreatives Umgehen, als Freund, Heiler, Vertrauter und, was das wichtigste ist, als Gleichgestellten. Dennoch sind die Gesetze, nach denen wir leben, nicht uniform, sondern beinhalten ein ganzes Spektrum von Bedürfnissen und Unterschieden. Zum Beispiel:

Verschiedene Altersgruppen haben verschiedene Bettzeiten, das Personal keine. Diese Unterschiede wurden nicht von einer höheren Autorität auferlegt, sondern wurden von der gesamten Gemeinschaft abgestimmt. Sie beruhen rein auf praktischen Überlegungen und können jederzeit geändert werden. Dies ist der Grundsatz von Gleichheit, von dem unser soziales Leben abstammt.

Das Rückgrat von Summerhill besteht in seiner Selbstregierung … Selbstregierung bedeutet nicht ein halbherziges Zugeständnis, sie ist eine Lebensart. Die Gemeinschaft hält sich selbst gesund durch regelmäßige Treffen, die Experimente, Veränderungen und eine ständige Herausforderung für den bestehenden Zustand ermöglichen. Hieraus ergibt sich ein Gefühl unablässiger Mobilität und ständigen Wachstums, die nicht aus einer anonymen Bürokratie heraus kommen, sondern von persönlicher Beobachtung und vom Umgang miteinander, aus Diskussion und Diplomatie. Viele Gesichtspunkte werden erörtert. Einzelne üben sich in ihrem Recht, die Gemeinschaft, in der sie leben, in direkter Weise zu beeinflussen. Alles kann hinterfragt werden.

Es gibt wöchentlich zwei Treffen, das Tribunal am Freitag nachmittag und das allgemeine Treffen am Samstag abend. Die Teilnahme ist nicht Pflicht, doch ist gewöhnlich ein Großteil der Gemeinschaft aller Altersstufen anwesend. Jeder hat eine Stimme, vom Leiter bis zum jüngsten Kind. Jede Woche wird der Vorsitzende für die nächste Woche gewählt, so daß dieser Position immer wieder neues Leben eingehaucht wird. Hierdurch wird ein erstarrtes Behördentum vermieden, wie es durch eine permanente Position sonst leicht entstehen kann. Der Vorsitzende hat bestimmte Vollmachten, beispielsweise Bestrafung für störendes Verhalten (die gegenwärtige Strafe hierfür ist 1 penny), Abkürzung einer Angelegenheit, die anscheinend zu nichts führt und die Schließung eines Treffens, das zu chaotisch geworden ist, obwohl ich selbst dies nur ein einziges Mal erlebt habe. Diese Vollmachten, wie alle Vollmachten und Verantwortungen innerhalb der Gemeinschaft, werden vom Treffen delegiert und können vom Treffen jederzeit geändert werden. (Eine weitere Rolle, die viele Vollmachten und Verantwortung mit sich trägt, ist die der Bettzeitenbeauftragten – „Beddies Officer“ -. Jedes Trimester wird ein Bettzeitenbeauftragtenkomitee – „Beddies Officer Committee“ – gewählt, das die Einhaltung der Bettzeiten durchsetzt, wie sie vom Treffen dargelegt worden waren. Der Bettzeitenbeauftragte hat die Vollmacht zur Bestrafung; die gegenwärtige Strafe besteht darin, zum Frühstück aufstehen zu müssen und der erste in der Reihe zu sein, der Verzicht auf den Pudding beim nächsten Mittagessen, und eine 25-pence-Strafe für außerordentlich störendes Verhalten, nachdem das Licht aus ist. Die Bettzeiten sind immer eine Quelle vieler Debatten!) Somit sind die wirklichen Strukturen, nach denen wir leben, uns selbst auferlegte. Die Gesetze, die wir brechen, sind die Gesetze, die WIR machen.

Gesetzesbrüche und Streitigkeiten zwischen Einzelnen werden vor das wöchentliche Tribunal gebracht. Die Treffen haben etwas von der Atmosphäre einer Stammesversammlung. Die Kinder hören sich die vorgebrachten Fälle aufmerksam an, äußern ihre Ansichten und Vorschläge zur Lösung der Situation oder beschneiden bestimmte Aktivitäten. Vielleicht hat Nick Rogers Wasserpistole weggenommen und weigert sich, sie ihm wiederzugeben. Roger sagt Nick, „Ich werde dich vors Tribunal bringen, wenn du sie mir nicht zurückgibst“. Es besteht die Chance, daß er die Pistole irgendwann zurückgibt und wenn nicht, bringt Roger diesen Fall vor das Tribunal. Er erzählt dem Treffen seine Seite der Geschichte, dann hat Nick Gelegenheit, sich zu verteidigen. Wenn jemand noch etwas dazu zu sagen hat, hebt er seine Hand, um vielleicht einen Augenzeugenbericht abzugeben, der das Geschehen erhellt, oder einen Vorschlag zu machen, der in einer Strafe bestehen kann, in einem Abschluß der Angelegenheit oder in einem Ultimatum, die Pistole zurückzugegeben. Der Vorsitzende liest die Vorschläge vor und sie werden abgestimmt. Der angenommene Vorschlag wird nochmals vom Vorsitzenden vorgelesen, dann wird die Angelegenheit abgeschlossen und zur nächsten übergegangen.

Im Unterschied zu Fällen zwischen Einzelnen sind Fälle, die sich auf die Gemeinschaft beziehen, vielleicht ein wenig mehr willkürlich abhängig davon, wie gemeinschaftsbewußt der Einzelne ist. Doch gibt es immer genug Leute, die sich der weitreichenderen Bedürfnisse der Gemeinschaft bewußt sind, um den Ball im Rollen zu halten. Vielleicht hat Dawn ein Gemeinschaftsgesetz übertreten, indem sie allein nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt gegangen ist. Jemand bringt dies vors Tribunal. Sie hat die Gelegenheit, eine Erklärung abzugeben, dann kann jeder, der dazu etwas zu sagen hat, sein Stück dazu beitragen, dann werden Vorschläge geäußert. Es ist möglich, daß sie eine strenge Verwarnung bekommt, dies nicht wieder zu tun, oder eine Geldstrafe, oder eine soziale Strafe, wie z.B. eine halbe Stunde lang Abfall aufsammeln oder eher noch, sie wird für ein oder zwei Tage ‘gezügelt’, was heißt, daß sie während dieser Zeit überhaupt nicht in die Stadt darf. Die Gemeinschaft orientiert sich hauptsächlich an der Nachsichtigkeit. Denn schließlich wurden die meisten von uns irgendwann einmal wegen diesem oder jenem vor das Tribunal gebracht.

In den meisten Situationen, wo Erwachsene und Kinder zusammenleben, liegt alle Macht in den Händen der Erwachsenen und die vergessen bald, wie die Welt durch die Augen eines Kindes aussieht. Einmal wurde ich in einer Sommernacht durch Stimmen in meinem Nachbarzimmer geweckt. Ich ging hinein, gereizt und mit müden Augen, und traf einen ganzen Raum voller angezogener Kinder an, die sich fertig machten, sich hinauszuschleichen. „Wenn ihr rausschleichen wollt, könnt ihr dann ein wenig leiser dabei sein“, sagte ich ihnen. Sie entschuldigten sich und marschierten leise die Treppen hinunter und hinaus ins Freie. Ich hätte sie natürlich für diesen Ausgang vorbringen können, doch da sie nun ruhig waren, wollte ich kein Aufsehen darüber machen. Ich ging ins Bett zurück, konnte jedoch nicht wieder einschlafen. Nach einer Weile beschloß ich, statt hier zu liegen und zu grollen, lieber hinauszugehen und zu sehen, was sie machten.

Es war eine schöne Nacht, vom Mond hell erleuchtet, und bald verfolgte ich die kleine Bande nächtlicher Nomaden zur großen Buche, die etwas vom Haus entfernt an der Vorderseite des Schulgeländes steht. Während ich mich im Gebüsch versteckt hielt, machte ich einige furchterregende Geräusche, die von nervösem Geflüster und scharrenden Füßen erwidert wurden. Dann sprang ich hervor und wurde von den Kindern umringt, die überglücklich waren, daß ich mich zu ihnen gesellte … und nicht ein schreckliches wildes Tier war, das in den Wäldern haust. Für noch etwa eine Stunde wanderte ich mit ihnen im Gelände herum, wir entdeckten die Schatten, die die Nacht hervorbringt und die von den Ausmaßen des Tages so verschieden sind und teilte mit ihnen den Reiz, gegen das Gesetz zu verstoßen.

Am nächsten Tag wurde ich von einem der älteren Mädchen vor das Tribunal gebracht, weil ich mit einer Gruppe von Kindern aus war, nachdem deren Lichter gelöscht waren. (In dieser Gemeinschaft kann man keine großen Geheimnisse haben!) Die Kinder wurden alle mit dem Verzicht auf ihren Pudding und auf das späte Aufbleibendürfen an diesem Abend bestraft. (Freitags und samstags haben alle spätere Bettzeiten, sofern sie nicht die Bettzeitenregeln während der Woche massiv gebrochen haben.) Da ich keine Bettzeiten habe, wurde ich dafür mit dem Verzicht auf zwei Puddings bestraft. Dies war eine Erfahrung, die die meisten Erwachsenen, die mit Kindern zusammenleben, niemals mitmachen, eine Erfahrung, wodurch ich in die Welt der Kindheit zurückversetzt wurde und die Welt wieder unter diesem Blickwinkel sah. Dann und wann diesen Schritt zu tun bedeutet, seinen Kontakt mit der Kindheit zu erneuern, der für einen Erwachsenen mit seinen speziellen Sorgen eine wertvolle Übung darstellt. Das nächste Mal, wenn ich mich auf das hohe Roß begeben will, wenn eines der Kinder etwas getan hat, werde ich mich daran erinnern, wie es sich anfühlt, auf der anderen Seite des Zauns zu sein. In seinem 1926 veröffentlichten Buch „Wenn ich wieder klein bin“ schrieb der polnische Pädagoge Janusz Korczak:

„Du liegst falsch, wenn du glaubst, daß wir uns kleiner machen müssen, um mit Kindern umgehen zu können. Im Gegenteil, wir müssen uns nach ihren Gefühlen, auf Zehenspitzen stehend, ausstrecken.“

Genau aus diesem Grund funktioniert die Selbstregierung vollständiger als eine von Erwachsenen kontrollierte Umgebung, da die Kinder die emotionalen Dimensionen ihrer Handlungen besser verstehen als es die meisten Erwachsenen können.

Der Ton im Tribunal ist weder moralistisch noch psychologisch. Das Tribunal versucht nicht, eine Angelegenheit aufzubauschen, sondern ihr als Zusammentreffen von menschlichen Bedürfnissen und Wünschen gerecht zu werden. Wir sind in Summerhill insgesamt sehr unkompliziert. Antisoziales Verhalten wird akzeptiert, es wird ihm aber nicht nachgegeben. Mit akzeptiert meine ich nicht, daß es erwünscht sei. Was ich meine, ist folgendes: In Summerhill sind wir dem Leben gegenüber offen und ehrlich, und wir sind uns bewußt, daß fast jeder irgendwann einmal etwas gestohlen oder seine Beherrschung verloren hat, in Anderer Bereiche eingedrungen ist oder sich so verhalten hat, daß er eines Anderen Gefühle verletzt hat. Das Gefüge unseres menschlichen Daseins ist mit solchen Schwächen durchwoben. Wenn ich deshalb sage, daß wir antisoziales Verhalten tolerieren, so meine ich damit, daß wir ihm nicht mit Ärgernis oder Empörung begegnen, sondern mit nüchternen, praktischen Lösungen. Es ist nicht akzeptierbar und wir geben dem auch nicht nach, doch tolerieren wir, daß wir alle uns dann und wann ein wenig gehen lassen. Wir mögen uns manchmal durch die gegenseitigen Unzulänglichkeiten belästigt fühlen oder genug von ihnen haben, fühlen uns aber nicht erhaben darüber.

Sie mögen fragen, wie ein Kind lernen soll, Recht von Unrecht zu unterscheiden, wenn nicht moralisiert wird? Recht und Unrecht sind jedoch lediglich künstliche Unterscheidungen, mit denen wir unsere eigene Art, die Welt wahrzunehmen, definieren. Einem Anderen kann sie ganz unterschiedlich erscheinen. Wie kann ich behaupten, daß meine Sichtweise von der Welt anderen überlegen ist? Wer bin ich, daß ich mir ein Urteil über jemanden erlauben darf? Wer weiß, welche nebelhaften Alpträume jemanden in ein dunkles Erwachen treiben? Wer kann die Konfigurationen Anderer Ängste, Befürchtungen und Einsamkeiten verstehen? Jeder von uns trägt sein eigenes Stigma, eine eigene verwundbare Natur, mit der wir zurechtzukommen versuchen. Ich habe nicht das Recht zu richten, die Welt in Recht und Unrecht zu unterteilen, ich kann nur mein eigenes Recht verteidigen, die Welt durch meine eigenen Augen zu sehen, und diese Sichtweise nicht durch die Realität eines Anderen trüben oder auslöschen zu lassen. Das ist das Recht jedes lebendigen Wesens, gleichgültig wie klein oder hilflos es sein mag.

Sie mögen fragen, wie von Kindern erwartet werden kann, daß sie einander verstehen, wenn nicht psychologisch mit ihnen umgegangen wird? Kinder verstehen einander sehr viel direkter, wenn ihre Sinne nicht mit den Vorstellungen der Erwachsenen vollgestopft werden, wie sie zu sein haben. An der Wurzel jeder boshaften und antisozialen Handlung liegt eine natürliche Expansion hin zu einem lebensbejahenden Kontakt, die vereitelt worden ist. Je mehr wir uns auf das Symptom konzentrieren, desto mehr verkomplizieren wir die Sache. Wenn wir beginnen, die Person als ganze zu akzeptieren, dann kann sie damit beginnen, sich selbst anzunehmen. Dann beginnen ihre Widerstände dahinzuschmelzen und ihr lebensbejahender, natürlicher Kern kann sich ausdehnen und sich bis in den Vordergrund ihres Lebens erstrecken. Die harten Kanten beginnen sich abzurunden. Die Psychologie hat ihren Platz auf der Welt, doch Akzeptanz und Selbstregierung sind in sich therapeutisch.

Dennoch ist es wichtig, zwischen Toleranz und Nachgiebigkeit zu unterscheiden und gerade hierin erweist sich in Summerhill die nüchterne, praktische Herangehensweise an Probleme als höchst effektiv. Simon wird vor das Tribunal gebracht, weil er etwas aus dem Orange-Peel-Café (ein Café, das ein Komitee von Kindern für die Gemeinschaft leitet) gestohlen hat. Er hatte versucht, sich Freundschaft zu erkaufen, indem er freigebig Süßigkeiten und Schokolade verteilte. Diejenigen, die auf das Café sehr viel Mühe verwendet hatten, waren wütend und fühlten sich betrogen, da sie Geld zur Verbesserung des Cafés sammelten, um Comics und Spiele zu kaufen, damit das Café zu einem Zentrum gemeinschaftlicher Aktivitäten würde. Beim Tribunal wurde eine Menge harter Ansichten erörtert, vom Café-Komitee und von denen, die es benutzen. Simon wurde bestraft: er mußte in der Holzwerkstatt ein Regal für das Café basteln und das Café die nächsten drei Male, wenn es geöffnet hatte, sauber machen. Da gab es keine lange Diskussion über seine Motive. Seine Unsicherheiten wurden nicht in die Arena des Treffens gezerrt. Nach dem Treffen ist ihm niemand feindlich gesinnt, die Situation ist bereinigt. Er merkt, und wenn auch nur für einen Schimmer, daß ihn die anderen annehmen, wie er ist, daß er keine Show abziehen muß, um andere zu beeindrucken, daß Freundschaft nicht gestohlen werden muß, sondern von selbst kommt. Er merkt das, weil er ertappt worden ist und nicht, weil er abgelehnt wurde. Das Beispiel mit dem Puddingverzicht zeigt die Einstellung der Gemeinschaft und nicht langwierige Diskussionen und Analysen.

Ebenso wie es weder Moralismus noch Autorität gibt, genausowenig wird der Person, die vor das Tribunal gebracht wurde, gegrollt. Der Konflikt ist rational und beruht nicht auf einem Machtkampf deshalb ist auch die Reaktion rational. Das Skateboard-Fahren innerhalb des Gebäudes wurde vom Tribunal untersagt, doch die Jungens im Zimmer neben mir fuhren ständig hin und her, was einen störenden Lärm verursachte. Nach mehreren Bitten, das sein zu lassen, die aber ungehört blieben, sagte ich dem Hauptschuldigen, daß ich ihn vorbringen werde. Er wurde, glaube ich, beim Treffen mit 25 pence gestraft, doch gingen wir hinterher in die Stadt und er war so freundlich und heiter wie immer. Die Angelegenheit war erledigt und es gab keine Verstimmung.

Oftmals können zwei Kinder zusammenspielend beobachtet werden, von denen einer gerade wegen einer Sache bestraft wurde, die der andere vorgebracht hatte. Weil sie in der Lage sind, ihre Probleme auf ihre Weise zu äußern und sich nicht auf die große Bastion der Erwachsenenautorität verlassen müssen, um Schritte zu unternehmen, fühlt niemand die auferlegten Nachteile, der Konflikt wurde nicht mit Machtkämpfen jenseits des eigentlichen Ereignisses vermischt.

Einige können es jedoch, besonders zu Beginn, schwierig finden, beim Treffen zu sprechen. Deshalb können sie sich jemanden aussuchen, der ihnen hilft, oder einen Ombudsmann, der sie in ihrem Fall vertritt. Ombudsleute werden zu Beginn jeden Trimesters gewählt. Gewöhnlich sind dies eine Gruppe älterer Kinder, die einen Dienstplan entwerfen, wobei drei Ombudsleute pro Woche zur Verfügung stehen, um bei den unmittelbaren Streitigkeiten zu schlichten. Die Namen der Ombudsleute für die kommende Woche werden beim Tribunal verkündet und wenn jemand ein Problem mit einem anderen hat, das nicht bis Freitag aufgeschoben werden kann, so rufen sie einen Ombudsmann, der in ihrem Namen handelt. Vielleicht will Kevin nicht aus Lucilles Zimmer hinausgehen, so ruft sie einen Ombudsmann, der sie in ihrem Recht unterstützt. Gewöhnlich werden Ombudsmann-Fälle sogleich gelöst, doch wenn ein Fall für ernst genug erachtet wird, oder wenn keine sofortige Lösung erzielt werden kann, kann ihn der Ombudsmann auch am Freitag vorbringen, und die Partei, die einen Verstoß begangen hat, kann bestraft werden. Die Ombudsleute haben nicht die Vollmacht zu bestrafen, doch haben sie die Befugnis, Dinge zu beschlagnahmen, die in gefährlicher oder bedrohender Weise benutzt werden.

Zu Beginn des Haupttreffens am Samstag abend wird immer über das Tribunal berichtet, ein Überblick, wer aus welchem Grund vorgebracht wurde und welche Strafe ausgesprochen wurde. Am Ende des Treffens gibt es eine „Berufung“, wobei jeder Berufung gegen die tags zuvor oder bei einem anderen Tribunal ausgesprochene Strafe einlegen kann, wenn die Strafe noch gültig ist. Sehr oft wird eine Strafe gemildert oder fallen gelassen, denn kaum jemals wird gegen eine Strafe Berufung eingelegt, wenn die betreffende Person nicht wirklich glaubt, zu hart oder ungerecht bestraft worden zu sein. Vielleicht war ein Fall zu emotional und in der Hitze des Augenblicks wurde eine etwas übereifrige Strafe verhängt. Am nächsten Tag ist die Atmosphäre bereinigt, und jeder sieht die Dinge ein wenig ruhiger. Die Berufung wird angenommen.

Die wichtigste Funktion des Haupttreffens ist jedoch, die Gesetze zu formulieren, nach denen wir leben und diejenigen zu streichen, mit denen wir nicht übereinstimmen, oder sie so zu ändern, daß sie den Bedürfnissen der Gemeinschaft zu dieser Zeit besser entsprechen. Es ist zur Erfahrung geworden, daß die Gemeinschaft eine ganz Menge an Gesetzen streicht, wenn sie sich von ihnen überladen fühlt, und der Vorgang beginnt von neuem. Bei jedem Tribunal und Haupttreffen fungiert jemand als Sekretär, der die Vorschläge notiert und das Protokoll führt. Wenn jemand einen Fall behandelt haben möchte, setzt er sich zuvor mit dem Sekretär in Verbindung und sein Name wird aufgerufen, wenn er an der Reihe ist. Er hat dann Gelegenheit, die Gültigkeit jedes beliebigen Gesetzes anzuzweifeln und seine Streichung oder den Ersatz durch ein angemesseneres Gesetz vorzuschlagen, oder er möchte ein neues Gesetz verfassen lassen, das seiner Meinung nach deutlicher bestimmt werden sollte. Gewöhnlich gibt es eine Diskussion, dann können weitere Vorschläge gemacht werden. Diese werden abgestimmt und jedes Gesetz, das angenommen wird, bleibt Gesetz bis zu dem Augenblick, bis jemand es vorzieht, es anzuzweifeln. Somit sind die Schulgesetze ständig in einem Zustand der Evolution und widerspiegeln die Stimmungen und Haltungen der Gemeinschaft zu der jeweiligen Zeit.

Gelegentlich ziehen sich diese Fälle eine lange Zeit hin. Ob sie langweilig werden oder nicht, hängt vom emotionalen Engagement des Einzelnen für diese Sache ab. Letztes Trimester gab es nach der Bettzeit eine Menge Lärm im Obergeschoß. Jemand schlug eine spätere Bettzeit vor, ein Vorschlag, der mich stark erregte, da ich nach einem langen Tag zur Bettzeit eine gute halbe Stunde damit beschäftigt bin, heiße Schokolade auszuteilen, Heftpflaster zu entfernen, Arzneimittel zu geben und mich allgemein um die in letzter Minute noch wichtigen Bedürfnisse der Kinder zu kümmern. Danach bleibt mir noch etwa eine Stunde, um zur Ruhe zu kommen, bevor ich zu Bett gehe. Der Gedanke an eine noch spätere Bettzeit ließ mich verzweifelt gegen den Vorschlag argumentieren. Die Debatte dauerte endlos lange, doch da es für mich eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit war, schien die Zeit für mich im Nu zu verfliegen. Als jedoch der nächste Fall an die Reihe kam, über Skateboard-Fahren in der Stadt, hatte dies für mich keine emotionale Bedeutung und schien deshalb ewig zu dauern. Dies ist die Art der Selbstregierung. (Es ist auch bemerkenswert, daß im Falle der Bettzeiten viele der Kinder eine spätere Bettzeit erhalten hätten, wenn dieser Vorschlag angenommen worden wäre, doch bezogen sie meine Position und stimmten gegen den Vorschlag. So viel zur Vorstellungswelt, es ginge zu wie bei „Der Herr der Fliegen“.)

Alle Gesetze passieren das Treffen, mit Ausnahme gewisser Gesundheits-, Sicherheits- und anderer Gesetze, die nach Ansicht der Gesetze des Landes obligatorisch sind. Entscheidungen darüber, in welchen Zimmern die Kinder schlafen, werden vom Personal getroffen. Dies dient dazu, Cliquenbildung beliebter und Ghettobildung unbeliebter Kinder zu vermeiden. Da dies niemals eintritt, wird sich jeder der Qualitäten anderer Kinder auf einer viel breiteren Grundlage bewußt, und ein größeres Verständnis für die menschlichen Unterschiede verbreitet sich in der Gemeinschaft. Das Personal entscheidet auch, welche Kinder für die Schule angenommen werden und, wenn nötig, wenn es auch glücklicherweise nur sehr selten vorkommt, welche Kinder die Schule verlassen sollten. Zugang zu Informationen, beispielsweise über das Zuhause oder andere wichtige Hintergrundinformationen, von dem der Einzelne nicht möchte, daß sie der ganzen Gemeinschaft preisgegeben werden, können in einer solchen Entscheidung den entscheidenden Unterschied ausmachen. Für diesen Bereich zielt auch die Erfahrung der Erwachsenen daraufhin, ein möglichst verläßliches Barometer zu haben, weil sie ein größeres Verständnis für Angelegenheiten insgesamt haben, jenseits der unmittelbaren Belange der Gemeinschaft. Doch muß dies nicht immer wahr sein. Die Gefühle der Gemeinschaft als ganze werden gewiß gründlich berücksichtigt.

Das Treffen kann dafür stimmen, jemanden zu suspendieren oder vor Ende des Trimesters nach Hause zu schicken und es kann dem Personal vorschlagen, daß jemand die Schule verlassen solle, obwohl auch dies nur sehr selten vorkommt. Die Einstellung von Personal ist ebenfalls die Angelegenheit des Personals, da die hierzu nötige Hintergrundinformation von der Gemeinschaft ganz schwierig anzueignen oder zu bearbeiten sein können. Wenn sich jedoch die Bewerber in der Schule vorstellen, werden die Ratschläge und Meinungen der Kinder als vorrangiger Beitrag für eine Entscheidung angesehen. Die Entlassung eines Personalmitgliedes obliegt der Leiterin, da sie letztendlich für die Schule verantwortlich ist und sie auch letztendlich gegenüber jeder Kritik von außerhalb geradestehen muß.

Selbstregierung ist also eine mächtige Strömung, die unser Leben in Summerhill leitet und der Gemeinschaft Form und Substanz verleiht. Die Treffen sind keine lahmen Geschichten, über die die Erwachsenen wohlwollend hinwegsehen, sondern sind dynamische, lebendige Begebenheiten, die die Kraft unseres täglichen Lebens gut und aufrichtig in die Hände der Gemeinschaft legen. Vor kurzem schlug ein Mitglied des Personals vor, daß alle Fernsehgeräte abgeschafft werden sollten mit Ausnahme des gemeinschaftlichen Gerätes im Aufenthaltsraum. Dies war eines jener ungewöhnlichen Ereignisse, als das Personal nahezu einstimmig für den Vorschlag stimmte und die Mehrheit der Kinder dagegen. (Das Personal ist gewöhnlich verschiedener Ansicht bei der Abstimmung wie jeder andere auch.) Der Vorschlag wurde abgelehnt. Die Kinder in Summerhill sehen nicht zum Personal auf, wir sind ihnen gleichgestellt. Sie folgen nicht selbstverständlich unseren Meinungen, sie haben ihre eigenen. Sie sind in der Lage, ihr eigenes Urteil abzugeben, wie sie leben wollen. Sie sind dazu mehr fähig als wir, wenn wir entscheiden sollen, wie sie ihr Leben gestalten sollen. Durch die Selbstregierung lernen wir beständig, aufeinander zu hören und unsere eigenen Bedürfnisse auf eine für andere nicht schädliche Weise auszudrücken. Dies gilt für die Erwachsenen in der Gemeinschaft genauso wie für die Kinder.

Die wöchentlichen Treffen stellen den Puls dar, der den Fluß des Gemeinschaftslebens reguliert. Es gibt viel, was ein Richter oder Politiker von einem Summerhill-Treffen lernen könnte. Wenn ich einer Parlamentsdebatte im Radio zuhöre, bin ich erstaunt, wie wohlgeordnet und rücksichtsvoll unsere Treffen im Vergleich dazu verlaufen. Neill war sich bewußt, daß Kinder fähig sind, den Lauf ihres Lebens selbst zu bestimmen. Er sah seine Aufgabe als Sprecher für die Kinder, weil die Welt der Erwachsenen ihnen nicht zuhören wollte, als ein Beschützer für die Kinder, weil die Erwachsenenwelt sie nicht wahrnehmen konnte. Die Ursache für dieses Problem liegt nicht bei den Kindern, sondern in den Haltungen der Erwachsenen den Kindern gegenüber. Seit den Tagen, an denen Neill Summerhill leitete, mag es wohl einigen Szenenwechsel gegeben haben, doch das Szenario ist im Grunde immer noch das Gleiche. Immer noch wird Kindern nicht die Unterstützung und Rücksicht entgegengebracht, wie sie sie als lebendige Wesen verdienen. Durch eine konfuse Mischung aus Autorität, Bestechung und Verführung werden die Jüngsten immer noch an der Kandare der Erwachsenenwelt gehalten, eine Welt, die den Kontakt zu ihrem eigenen lebendigen Kern verloren hat und deshalb das Lebendige, wie es sich in allen seinen natürlichen Funktionen äußert, nicht verstehen kann. Neills Erkenntnisse auf das Maß seiner Persönlichkeit zu reduzieren, bedeutet das Unwesentliche mit dem Wesentlichen zu verwechseln. Summerhill besteht bis heute, nicht im Schatten eines Mannes, sondern aufgrund seines miteingebauten Systems der Selbstregierung, die den Erwachsenen keine Macht über die Kinder erlaubt, sondern uns die Freiheit gibt, Seite an Seite zu leben und voneinander zu lernen, in welcher Art von Welt wir leben wollen. Es ist ein lebendiges Erbe, das Neill hinterließ, keine abgestreifte Haut leerer Sentimentalitäten.

 

 

Leicht gekürzt und mit freundlicher Genehmigung nachgedruckt aus der Zeitschrift „Lebensenergie“

Übersetzung: M. Fuckert

 

aus ICH 1/ 93