„Antiautoritäre“ Erziehung. Was wollte A. S. Neill wirklich?

 von Carola Luniak

Der schottische Pädagoge Alexander Sutherland Neill (1883-1973) war kein Psychoanalytiker, obwohl er sich einer solchen Behandlung unterzog und von Freuds Gedanken über die Bedeutung von Kindheit und Sexualität offenbar heftig inspiriert wurde. In späteren Lebensjahren ließ er sich von Wilhelm Reich therapieren und wurde bald einer von dessen engsten Freunden. Beide inspirierten sich gegenseitig.

Was Neill in über fünfzigjähriger Arbeit in seiner Summerhill-School gelang, war der praktische Nachweis dafür, daß eine – Erziehung genannte – Unterdrückung von Kindern durch gegenseitige Achtung und Souveränität ersetzt werden kann und sich eine Vielzahl neurotischer Verhaltensweisen dadurch überflüssig macht. So richtig populär wurde er damit allerdings erst in der Zeit der 68er Bewegung – und unter irreführender Bezeichnung.

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Einmal brachte eine Frau ihr siebenjähriges Mädchen zu mir. „Mr. Neill“, sagte sie, „ich habe jede Zeile gelesen, die sie geschrieben haben. Und noch bevor Daphne zur Welt kam, hatte ich beschlossen, sie genau nach ihren Prinzipien zu erziehen.“ – – Ich warf einen Blick auf Daphne, die mit ihren schweren Schuhen auf meinem Konzertflügel stand. Sie machte einen Satz auf das Sofa und stieß beinahe die Sprungfedern durch. „Sehen Sie, wie natürlich sie ist“, sagte die Mutter. „Das Neillsche Kind!“ – Ich fürchte, ich bin rot geworden.“  

Eine Episode aus dem Jahre 1953 – erzählt vom ,,Vater“ der ,,Antiautoritären Erziehung“ selbst. Die Mißverständnisse über Neillsche Pädagogik sind seither nicht geringer geworden. Im einen Teil Deutschlands befürchtet man dahinter Anarchismus, Chaos, wilde Tollerei – im anderen Teil belächelt man sie als Jugendsünde, die man hinter sich hat. Und als ,,Beweis“ dafür müssen immer wieder die ,,Kinderladen“-Kinder herhalten, die über ihre eigene Kindheit sagen, daß sie orientierungslos und ernst war. (Kinderläden: Von Eltern selbstbetriebene und verwaltete Tagesstätten für Kinder) Und daß sie nicht die fröhlichen, friedlichen und friedliebenden Menschen geworden sind, die eine Erziehung ohne Zwang, Unterdrückung und Strafen doch eigentlich hervorbringen sollte.

Ist damit A. S. Neill und seine Pädagogik nun endgültig widerlegt?

Die Erfahrungen der Kinderladen-Eltem sollten uns nützlich sein, wenn wir heute wieder einmal über neue Erziehung nachdenken. Kinderläden als freie Erziehungsstätten für Kinder waren die materielle Konsequenz der Ideologie einer Zeit/des Zeitgeistes. Die sogenannte antiautoritäre Erziehung bekam ihre große Popularität im Gefolge der gesamten 68er Bewegung in Westeuropa: Gleichheit unter den Menschen war großgeschrieben, niemand sollte je wieder über andere herrschen, der Mensch sollte des Menschen Freund sein. Man hatte gelernt: Die streng autoritätsgläubigen Väter – besonders die deutschen – hatten Europa und Deutschland selbst ruiniert. Und so bekam das Wort und der Begriff Autorität sein Stigma: Alles und jeden das/der mit diesem Begriff auch nur im entferntesten zusammenhing, wurde abgelehnt. Und was für die Erwachsenen galt, sollte natürlich auch für die Kinder gelten.

Konsequenterweise boten sich die Eltern selbst als die Objekte ihrer Theorie an: Mütter wurden Freundinnen und hießen nicht mehr Mama, sondern Karin; Väter waren die Kumpels ihrer Kinder; Kinder durften ebenso wie Erwachsene alles das tun, was sie wollten. Aber was heißt hier dürfen – sie mußten. Jeder akzeptierte und tolerierte alles und jeden – bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs. In der Konsequenz war antiautoritäre Erziehung, so wie sie damals praktiziert wurde, in meinen Augen nichts weiter als Erziehung zum Ungehorsam – und zwar ausgesprochen autoritär. Neill sagt: 

Diesen Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit können viele Eltern nicht begreifen. In einem Heim, in dem Disziplin herrscht, haben die Kinder keine Rechte. In einem Heim, in dem sie verwöhnt werden, haben sie alle Rechte. In einem guten Heim haben Kinder und Eltern jedoch gleiche Rechte.

Autorität also auf beiden Seiten – die Autorität freier und souveräner Menschen, ihrer Rechte und ihrer Würde (wobei ,,Würde“ schon wieder sehr moralisch klingt). Wie aber wird man souverän und frei? Neill sagt: 

Niemand hat je ein völlig autonomes Kind gesehen. Jedes Kind ist von seinen Eltern, seinen Lehrern und der Gesellschaft geformt worden … Leben nach eigenen Gesetzen – das ist das Recht des Kleinkindes, auf freie Entfaltung, ohne äußere Autorität in seelischen und körperlichen Dingen. 

Doch Leben nach eigenen Gesetzen zuzulassen bedeutet, die Gesetze des Lebens zu kennen. Wie aber können wir heute, nachdem ein Zivilisationsschub nach dem anderen diese Gesetze des Lebens überformt hat, unsere Natur erkennen?

Jean Liedloff schreibt in ihrem Buch ,,Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“: 

Etwa zwei Millionen Jahre hindurch war der Mensch … ein Erfolg. Er war vom Affendasein zum Menschsein evoliert als Sammler-Jäger mit einem wohlangepaßten Lebensstil, der ihm, wäre er beibehalten worden, sicher noch viele Millionenjubiläen beschert hätte … In den wenigen kurzen Jahrtausenden jedoch, seit er von der Lebensweise abgewichen ist, an die ihn die Evolution angepaßt hatte, hat er nicht nur die natürliche Ordnung des gesamten Planeten verwüstet, sondern er hat es auch fertiggebracht, das hochentwickelte sichere Gespür in Mißkredit zu bringen, das sein Verhalten endlose Zeiten hindurch leitete. 

Neill nannte dieses hochentwickelte sichere Gespür ,,Selbstregulation“: Die Fähigkeit des Menschen, seine Bedürfnisse zu empfinden und zu befriedigen.

Und diese Fähigkeiten sind – trotz zivilisatorischer Überformung – noch in uns: Kinder werden ,,sauber“, auch ohne daß ehrgeizige Mütter und Väter sie bereits in zartester Jugend aufs Töpfchen zwingen; sie können selbst herausfinden, was und wieviel sie essen müssen – vorausgesetzt, man hat sie nicht mit einem ,,Stillplan“ schon durcheinandergebracht; sie merken selbst, wann und wieviel sie schlafen müssen – vorausgesetzt, man läßt sie auch wach sein – und vieles mehr. Menschen finden in der Regel ihre eigenen, natürlichen Grenzen – wenn man sie diese selbständig finden läßt. Daß sie das können, beruht auf angeborenen natürlichen Grundbedürfnissen und auf elementaren verhaltensbiologischen Strukturen und Mechanismen, die den Lebensbedingungen des sich ständig verändernden Planeten widerstanden haben, die sich bewährten.

Babys zu stillen und am Körper zu tragen, ist zum Beispiel keine ,,Erfindung“ des Menschen – und es ist kein Zufall, daß wir die jahrtausendelange Entwicklung von Affen überlebt haben: als Säuglinge und Traglinge. Als Säugling kann der Mensch seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Zuwendung und (oraler) Sexualität befriedigen. Als Tragling wiederum – dieser Begriff ist kaum in unserem Wortschatz, geschweige denn in unserem Handlungsrepertoire – befriedigt der Mensch seine Bedürfnisse nach sozialem Kontakt, Nähe und Geborgenheit. Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß sowohl der Hautkontakt als auch das Getragenwerden im ersten Lebensjahr bedeutende Auswirkung auf die seelische und körperliche Entwicklung des Kindes haben: Kinder, die viel getragen wurden, befinden sich im natürlichen Gleichgewicht ihrer körperlichen, emotionalen, intellektuellen und sozialen Fähigkeiten; sie sind gleichaltrigen Kindern in ihrem Entwicklungstempo oft sogar weit voraus. Und – so paradox das klingen mag: Mütter, die ihre Kinder viel mit sich herumgetragen haben, wissen zu berichten, daß sie ihre Sprößlinge eher ,,loslassen“ konnten – ein wichtiger Schritt, um die natürlichen Bestrebungen des Kindes nach Umwelterkundung, Selbständigkeit und Autonomie zu unterstützen. Das Sich-Beruhigen durch Wiegen und Schaukeln, der Klammerreflex an Händen und Füßen, das Verlassenheits-Weinen sind Reste unserer ,,ehemaligen“ Traglingskonstitution.

Betrachten wir unser naturgeschichtliches Erbe im Lichte unseres zivilisatorischen Handelns an nur zwei.Beispielen: Ein Kind schreit. Es hat Hunger. Die Mutter aber ,weiß“, daß noch nicht Stillzeit ist. Es schreit weiter, bis es die Kraft verläßt. Es schläft ein. Mitten im Schlaf aber wird es geweckt, um zu trinken, weil ,,die Zeit heran ist“. Es ist viel zu schlaftrunken, um genügend zu trinken. Kurze Zeit später ist es deshalb wieder hungrig, aber es ist nicht die ,,richtige“ Zeit … Sicher ist, daß sich das Kind mit der Zeit anpassen wird, aber wieviel Resignation hat es bis dahin schon erlebt, wieviel Verunsicherung über sich selbst, über seine eigenen Bedürfnisse.

Oder: Ein Kind schreit. Es hat Sehnsucht nach Wärme und Zärtlichkeit. Es gehört ja zu seiner biologischen Grundausstattung, zu erwarten, daß es immer getragen wird. Es liegt in seinem sauberen, hübschen Bettchen in seinem eigenen sauberen, hübschen Zimmer. Und es weint nach Mutter oder Vater. In dieser ersten Entwicklungsphase verfügt das Kind noch nicht über ein Zeitgefühl. Alles, was ist, ist so ganz. Und es verfügt auch nicht über die ,,Fähigkeit“ Hoffnung: Es weiß nicht, daß Mutter oder Vater da sind, wenn es sie nicht spürt. Es weiß auch nicht, daß es ,,ungezogen“ ist, Mutter und Vater so zu vereinnahmen – es empfindet sie als Teil seines Daseins. Es fühlt nur, daß es nicht richtig ist, wenn es allein im Bett liegt. Es hat Angst, so allein. Es schreit nach den Eltern, die aber bleiben fest, aus Prinzip – weil sie es gut meinen.

Sicher ist es so, daß sich das Kind mit der Zeit ,,gewöhnen“ wird, aber wieviel Hoffnung hat es bis dahin schon verloren, wieviel Vertrauensverlust erlitten, Vertrauen auch in seine Befähigung zu zwischenmenschlichem Kontakt.

Solcherart Verunsicherung verfestigt sich im Kind und prägt es, sofern ein entsprechend autoritärer Erziehungsstil fortgesetzt wird. (Und hierzu gehört auch die ,,Überbehütung“.) Es werden überängstliche, risikoscheue, aggressive, autoritätshörige und -abhängige, unselbständige Erwachsene.

Im Grunde machen wir die Selbstregulation kaputt, um sie durch ,,Erziehung“ zu ersetzen. Und unser gesellschaftliches Umfeld unterstützt und bestätigt dieses Handeln. Angefangen von einer hochtechnisierten Entbindung im Kranken(!)haus, über Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt, Aufbewahrung im Kinderbett und Kinderwagen, Still-, Schlaf- und Wachplan, Delegierung von Erziehung an Krippe, Kindergarten und Schule bis hin zu weitgreifenden sozialen Beschränkungen wie Leben in Kleinfamilien, Isolierung von Behinderten und Alten in eigens dafür hergerichteten Heimen. Immer noch zu starre Rollenverteilungen tragen das Ihrige bei: gelangweilte und frustrierte Mütter, die meistens müssen, was die Väter meistens nicht können – Baby-Jahr, verkürzte Arbeitszeit, Hausarbeitstag, bezahlte Freistellung bei kranken Kindern. Patriarchalische Fehlleistung.

Am Ende dieses Weges stehen Erziehungsbücher.

Ich denke, daß wir in unserem heutigen Erziehungsverhalten völlig im Clinch liegen mit unserer Natur. Wir trichtern ein, ermahnen, stopfen, kauen vor, trainieren, ordnen an, beaufsichtigen fast jeden Schritt beim Kind und denken, es tut sich nichts, wenn wir nichts tun. Der Maßstab ist in jedem Fall der Erwachsene, und zwar am besten gleich der gesunde, dynamische, unabhängige, junge Mann zwischen 25 und 40. Unser Bild vom Kind geht immer noch von Defiziten aus: Was immer das Kind tut, denkt und fühlt – in jedem Fall kann es der Erwachsene besser. Erwachsensein ist das Ideal, und all unsere Erziehungsbemühungen richten sich darauf, das Kind vom Kindsein zu lösen.

Kindheit als eine eigenständige, enorm wichtige Phase des Lebens (in der man übrigens soviel lernt wie niemals mehr danach) zu betrachten oder gar als Bereicherung erwachsenen Lebens zu sehen, fällt den meisten Menschen schwer

Im Grunde aber sind das nichts anderes als Entäußerungen der Ideologie einer Leistungsgesellschaft.

Wir aber leben in einer Leistungsgesellschaft. Und sofort wird sich die Frage stellen: Was kann man anderes tun, als sich den Forderungen dieser Gesellschaft zu stellen? Wäre es nicht illusorisch, wenn nicht gar idiotisch – wenigstens aber märtyrerhaft – so zu tun, als gäbe es die Anforderungen nicht? Verbauen wir unseren Kindern damit nicht Chancen für ihr Leben? Neill sagt: 

Man fragt mich immer: „Wie sollen sich ihre Schüler jemals der Plackerei des Lebens anpassen?“ – Ich hoffe, daß diese freien Kinder als Pioniere bei der Abschaffung der Plackerei vorangehen werden.

Neills Schüler waren späthin nicht unter den Karriere-Machern zu finden, waren nicht die Geld-Haie und Macht-Haber, selbst Lehrer wurden nur einige. (Neill: ,,Wahrscheinlich hat das eine tiefere Bedeutung … Freie Menschen wollen nicht etwas lehren, sie wollen etwas tun; oder wie Shaw es formuliert hat: Wer etwas kann, tut es; wer nichts kann, unterrichtet.“)

Neills Schüler haben in der Mehrzahl Berufe gesucht und gefunden, in denen sie sich selbst verwirklichen konnten, die ihnen Freude machten – vom Maurer bis zum Mathematikprofessor reicht die Palette.

Die Kritik an Neills Pädagogik, sie habe auch keine leistungsfähigeren Menschen hervorgebracht als herkömmliche Zwangsschulen, ist damit hinreichend bestätigt. Genau das war ja auch beabsichtigt:

Jedes Kind, das in Freiheit lebt, spielt die meiste Zeit – und das jahrelang. Wenn aber die Zeit kommt, dann setzen sich die aufgeweckten Kinder auf den Hosenboden und packen die Arbeit an, die nötig ist, um die staatlichen Prüfungen zu meistern. In etwas über zwei Jahren wird ein Junge oder ein Mädchen den Stoff bewältigen, der sich beim gedrillten Kind auf eine Schulzeit von acht Jahren erstreckt … Ich weiß, daß verhältnismäßig viele Schüler Prüfungen bestehen, wenn sie Zwang unterworfen sind. Ich frage mich nur, was aus ihnen im späteren Leben wird. Wenn alle Schulen frei und der Besuch des Unterrichts freigestellt wäre, dann glaube ich, würden die Schüler ihre eigenen Maßstäbe finden.“

Und es gibt ganz neue Untersuchungen auf diesem Gebiet: Die Schulleistungen von Kindern, die sich auf Geheiß ihrer durchaus wohlmeinenden Eltern wohlangepaßt dem Leistungsdruck der Leistungsgesellschaft stellen, unterscheiden sich in ihrer Leistungsstärke in nichts von den weniger gestreßten Kindern – nur in einem Punkt: Sie können selbst dann nicht zufrieden sein, wenn sie ihre Sache gut gemacht haben. Umtriebig irren sie weiter zur nächsten Herausforderung. Perfekter kann eine Leistungsgesellschaft wohl kaum auf ihre Zöglinge wirken … Die Eltern dieser Kinder sagen von sich, daß sie von den eigenen Eltern Zuwendung und Liebe immer nur als Gegenleistung für eine von ihnen erbrachte Leistung bekommen haben und sie niemals nur um ihrer selbst willen geliebt worden sind. – Weitergegebene Erfahrung? Neill sagt:

Es gibt kein problematisches Kind. Es gibt nur problematische Eltern. Vielleicht wäre es noch besser zu sagen: Es gibt nur eine problematische Menschheit.

Aber er sagt auch: 

Der Menschheit wohnt eine Menge Gemeinschaftssinn und Liebe inne, und ich glaube fest daran, daß neue Generationen, die nicht schon im Säuglingsalter verkrüppelt worden sind, in Frieden miteinander leben werden, wenn die Hasser von heute nicht inzwischen die Welt zerstört haben.

Ich denke, erste Chancen liegen in einer demokratischen Gesellschaft (wenngleich Demokratie noch immer als Gewalt gegen Minderheiten angewandt wird, nicht aber als Volks-Herrschaft), die eine repressionsfreiere Erziehung ermöglicht. Neill sagt:

Es gibt so wenig Kinder, die nach eigenen Gesetzen leben dürfen, daß jede Beschreibung nur ein Versuch sein kann. Beobachtet man solche Kinder, so weisen sie auf den Beginn einer neuen Kultur hin, deren Beschaffenheit eine radikalere Veränderung aufweist als jede neue Gesellschaft, die von den politischen Parteien versprochen wird.

Das Prinzip Hoffnung. 

 

 

aus ICH 2/90