Tag Andreas!
Ziemlich aufgebracht hat mich Dein Pommritzabriß, das Gefühl, hier wertet ein Unbefugter. Du liebst diese Ansätze nicht, aber alle diese Keime brauchen halt liebevolle Kritik, Beschreibung aus Erfahrung, Erleben, nicht die von Vorurteilen volle Oberflächlichkeit (ein inhaltlicher Höhepunkt – die Reisebeschreibung). Mir ist nach dem Lesen so, als ob ich über Dich einiges mehr erfuhr als über Pommritz, ausgedrückt etwa so: Ich habe zwar mit Spiritualität nix am Hut, aber was die da machen ist doch echt zu wenig oder wenig zu echt. Aber erstmal wieder weg und irgendwo … Verzichten? – abgelehnt! – auch das sind sichere Schritte zur Ökodiktatur, so gut wie jede Tüte Pommes frites. Und wenn Du Bier und Askese (was ja von ,,Übung“ kommt) gegenüberstellst, würde ich noch immer ,,Selbstüberwindung“ der Selbstvergiftung vorziehen. Es gibt nicht nur geistige Zerstörung. Oder geistige Verantwortung.
In der BRD gibt es seit 20 Jahren einen lebenden, funktionierenden Stamm in Füssen, in Spanien bis Franco ganze Regionen, die sich in Subsistenzwirtschaft organisierten – Bahro stellt doch keine Weichen! Glaubst Du das wirklich?
Mensch Andreas, ich glaube nicht, daß alles gleich gültig ist, was wir machen. Es ist auch zumindestens zu fragen, wo eigentlich Skepsis am Platze ist.
Tschüß!
Roland Gorsleben, Zarnekla
… habe ich auch ein paar Probleme mit dem „Aussteigen“. Mag sein, daß ich eben noch nicht ganz auf dem Laufenden bin und noch immer zu denen gehöre, die irgend etwas richten oder verändern wollen und sowohl von den Angepaßten als auch von den Aussteigern als Don Quichote’s belächelt werden. Aber ich glaube doch mehr auf dieser Seite des Lebens zu stehen. Zum Aufgeben ist es noch immer viel zu früh, zum „Schönmachen“ aber wohl auch. Ich glaube nicht, da wir schon mit irgend etwas fertig sind und die Ärmel herunter krempeln können. Ich lebe jetzt und hier und auch meine Kinder tun das und werden das wahrscheinlich auch nach mir noch tun. Also werde ich jetzt und hier versuchen, das Meine in die Gesellschaft einzubringen und ihr Akzeptanz abzutrotzen. Ich kann darin, daß man sich ausschließt, auch wenn man das im Kollektiv tut, keine wirkliche Alternative sehen. Nach meinem Verständnis kommt das einer Kapitulation gleich, oder anders gesagt: Man entzieht sich der Verantwortung. Ich denke, es wäre mir unmöglich, aus der Distanz eines Selbstversorgerdorfes zuzusehen, wie die Ethik, die Kultur und alles, was an humanitärem Gedankengut und Lebensformen vorhanden ist, im „Rest“ der Gesellschaft zugrunde geht. Abgesehen davon, Kriege und Gewalt im Allgemeinen bis hin zur Umweltverschmutzung machen um die Enklaven der Alternative keinen Bogen. Passiver Widerstand hat selten etwas verändert oder gar gebessert.
Es stimmt, ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendwann das gute Beispiel siegt und wir alle „alternativ“ leben. Dazu müßten jahrhundertealte Prägungen und auch heute noch (oder wieder) geförderte Ansprüche beseitigt werden. Auch wenn man sich vor den unaufhörlich produzierten Müllbergen der Überflußgesellschaft, und da schließe ich den ideologischen Müll in Form von manipulierenden Medien, Werbung und politischer Demagogie ein, verweigert, werden sie unbeirrt weiter wachsen – und Einfluß nehmen -, weil der Kampf um Haben, Macht und Markt heute aktueller ist, als wir uns das in der „Diktatur des Proletariats“ je vorstellen konnten. Es genügt nicht, die Augen zu verschließen vor der häßlichen Welt und auszuprobieren, ob der Allesfresser Mensch allein von Chlorophyll und Vitaminen leben kann. Auch wenn es Grund genug gibt, sich der zivilisatorischen Stilblüten und Exzesse zu schämen, sind wir für ein Leben wie in der Steinzeit wohl kaum mehr geeignet.
Ich denke, daß es weder sinnvoll noch möglich ist, eine Kulturevolution, wie immer sie auch aussehen mag, zu stoppen oder auch nur zu ignorieren. Das Leben will gemacht sein, je offensiver, desto besser. Natürlich kenne ich auch das Gefühl „ich bin hier falsch“, aber hier bin ich zu Hause und ich bin derzeit weit davon entfernt, mir das von irgend jemandem streitig machen zu lasse. Ich muß in diesem Zusammenhang an ein Wort denken, daß Christa Wolf in ihrer Rede „zur Sache Deutschland“ 1991 benutzte, das aber bereits aus dem Jahre 1871 datiert und eigentlich von Fontane ist: „Ja, es gibt eine Tendenz der Kolonialisierung der ostdeutschen Gebiete durch westdeutsche Verwalter … aber der Tatbestand der Kolonialisierung sollte erst dann als erfüllt gelten, wenn sich die Eingeborenen wie Kolonialisierte verhalten …“. Vielleicht nicht ganz passend, aber wenn man den Begriff der Kolonialisierung benutzt, dann glaube ich schon, daß es an der Zeit ist, sich zu wehren.
Wehren z.B. dagegen, daß, wie kürzlich in Hamburg geschehen, die Fahrgäste einer S-Bahn seelenruhig zusehen, wie eine 17jährige vor ihren Augen vergewaltigt wird, oder daß man allen Ernstes erwägt, das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen, weil man mit der Kinder- und Jugendkriminalität nicht mehr fertig wird. Es liegt nicht daran, daß die Kinder heutzutage zu Monstren mutieren, die man mit Gewalt beherrschen muß, es liegt auch nicht daran, daß die Menschen stumpf und ohne Interesse füreinander sind. Es liegt vielleicht daran, daß wir uns wieder auf dieses erschreckend primitive Niveau begeben, auf dem man glaubt, daß es genügt, den Erwachsenen genug Geld und den Kindern den Anschluß ans Internet zu geben. Nicht eingestandene Mängel, unerfüllte Notwendigkeiten und Bedürfnisse lassen uns aggressiv – oder depressiv – werden. Dort ist dringend Veränderung, ja auch Veränderung der Wertmaßstäbe, nötig. Es genügt bei weitem nicht, dagegen zu sein. Man sollte versuchen, etwas gegen Ignoranz oder einfach nur Ahnungslosigkeit zu tun. Ich wünsche mir, daß ICH sich nicht damit zufrieden gibt, Wege aus der kaputten Gesellschaft zu weisen, sondern auch denen, die wieder mal „hierbleiben“ wollen, den Rücken stärkt und Argumente gegen die zunehmende seelische Verdummung und emotionale Verarmung liefert.
Genug fürs erste, ich denke, ich sollte vielleicht noch etwas zu mir sagen: Ich werde in diesem Jahr 40, habe zwei wunderbare Kinder (8 und 17), lebe in einer etwas „wilden“ Beziehung und habe in „unserer Landeshauptstadt Dresden“ eine Arbeit, die mir auch noch Spaß macht. Ich mag Dresden sehr, lebe aber in einer 2,5-tausend-Seelen-Gemeinde, die mir so wichtig ist, daß ich seit ’94 dort Gemeinderätin bin. Ich gehöre zu der seltenen Spezies, die nur Rundfunkgebühren bezahlen, weil sie kein Fernsehgerät besitzen, dafür ein paar Bücher. Ich lese gern und viel und bin froh, nach langer Suche nun auch in der Dönhoff-Zeitung „Die Zeit“ ein Blatt gefunden zu haben, das sachlich anregt zum Nachdenken, auch über Politik, und nicht an der Oberfläche der Sensationen bleibt, sondern auch schon mal Grundlegendes in Frage stellt. Manchmal zeichne ich ein bißchen und manchmal schreibe ich, zumeist für mich selbst – ein unregelmäßiges Tagebuch -, sehr gern Briefe, auch schon mal an Zeitungen oder Minister.
Ich lebe nicht so sehr gesund: Ich esse was und wann ich will, hatte aber noch nie „Gewichtsprobleme“‚, rauche, trinke furchtbar gern Kaffee, schwarz und ohne Zucker und liebe den Wein, wenn er trocken und kräftig ist und die richtigen Leute dabei sind. Mein einziger Sport sind die Fahrradtouren mit der Familie und ab und an der todesverachtende Gang durch das Wassertretbecken meines Heimatortes, der gern Kneippkurort werden will. Im übrigen liebe ich Chopin und bewundere Tina Turner. Die Musik ist ein Teil von mir, auch wenn ich mich selbst für unfähig halte, welche zu machen. Das tut meine Tochter und manchmal beneide ich sie schon darum. . .
Eine politische Partei, der ich mich anschließen würde, gibt es nicht und auch mit den gängigen Religionen habe ich so meine Schwierigkeiten. Mein Glaube ist die Humanität, meine Liebe sind meine Mitmenschen und meine Hoffnung die Lust am Leben. Ich mag starke, sensible Menschen um mich – die es nicht nötig haben, sich selbst zu „vermarkten“ und unentwegt darzustellen (habe ich das nicht eben selbst gemacht?) – jedenfalls wäre ich gerne so und hoffe nicht die Orientierung zu verlieren.
Friedericke Hill, Hartha
… Meine momentane Meinung zu „Alternativen Lebensweisen“: Vielleicht ist das Wichtigste daran der Kontakt zu anderen Menschen, das offene Miteinander-Umgehen-Lernen statt Oberflächlichkeit und Vereinzelung. Probleme zu bearbeiten statt unter den Teppich zu kehren.
Ansonsten: Es sind Lebensweisen in unserer Gesellschaft, deren Rahmen ziemlich weit gesteckt ist. „Ausstieg“ erscheint kaum möglich – auch der 100 %ige Selbstversorger muß Geld für die Grundsteuer oder die Pacht erarbeiten, und wenn er ein Kind hat, schlägt die Schulpflicht zu.
Thomas Schuberth, Augustfelde
aus ICH 4/ 94, 2/ 96, Sommer 97