Das Projekt Pommritz. Rudolf Bahros Ideen in der Praxis

Kurzbesuch einer zerbrechlichen Utopie (1994) von Andreas Peglau

VORAB

Aus Rudolf Bahros Vorschlag für die Presseerklärung eines ökologisch denkenden Kanzlerkandidaten, 1979 (1):

Nach allen Informationen, die wir besitzen, haben wir nur zu wahrscheinlich mit einem weltweiten Zusammenbruch des Ökosystems zu rechnen, der noch zu Lebzeiten der jetzigen mittleren und jüngeren, nicht einmal der jüngsten Generation einsetzen wird. In unserem dichtbesiedelten Land wird er – wahrscheinlich an den Küsten und an den Flüssen beginnend – besonders dramatisch verlaufen. Der Versuch, sich dann noch aus dem Stand zu retten, wird in einen fürchterlichen Kampf aller gegen alle ausarten…

Wenn wir das alles nicht wollen, müssen wir der Gefahr jetzt begegnen, wo wir eine vielleicht gerade noch hinreichende Bremsstrecke haben … Der Hauptgedanke besteht darin, die Grundlast, mit der unsere Zivilisation auf die lebendige Erde drückt, um den Faktor von mindestens 1O: 1 zu senken …

Was heißt ,,die Grundlast senken“? Seien wir uns klar: Sie ergibt sich aus der Zahl der Köpfe pro Einheit Erdoberfläche und aus der Höhe des Pro-Kopf-Anspruchs … Wir müssen aber bei uns anfangen: Es gibt zu viele Deutsche in Deutschland, besonders in Westdeutschland … Unser Territorium hält unsere täglich durchschnittlich 150-160 verbrauchten Kilowattstunden nicht aus. Laßt uns also wenigstens den Geburtenrückgang akzeptieren … Und dann betrifft die Senkung der Grundlast unsere materiellen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung und Gesundheit sowie die Bedürfnisse nach (militärischer) Sicherheit(???), nach Mobilität und nach Kommunikation, auch die Bedürfnisse nach Genuß- und Entwicklungsmitteln …

Welchen Weg können wir gehen, wenn … wir hauptsächlich mit den mineralischen, agrarischen und atmosphärischen Ressourcen auskommen müssen, die wir im eigenen Land noch vorfinden? Dann müssen wir uns zuerst daran erinnern, daß der Mensch nicht immer von der nährenden Erde und von den Werkzeugen seiner Arbeit getrennt war..

Trotz der dichten Besiedlung reicht das Land in der Bundesrepublik noch für unser aller Selbstversorgung aus biologischem Anbau, insbesondere dann, wenn wir das Fleischessen zurückschrauben. Also können wir uns mit unserer Hände Arbeit ernähren …

Es kommt auf die Bereitschaft zu so einer um die Kommune (lokal und als Lebensgemeinschaft) organisierten Existenzform an. Die Arbeitsteilung würde wesentlich von dort aus neu aufgebaut werden. Im Zentrum aber wird nicht Arbeiten, sondern Leben stehen, zwischenmenschlicher Verkehr einer hohen, liebevollen Kultur, wo die Werte des Seins über denen des Habens stehen.

14 Jahre später stellen Bahros Beziehungen zum sächsischen Freistaatschef Kurt Biedenkopf die Weichen für den Aufbau einer solchen Kommune in einem kleinen Dorf am Südrand der Oberlausitz. 40 Menschen zwischen 3 und 54 Jahren gründen 1993 das ,,LebensGut Pommritz“.

HINFAHRT

Sonnabend, 26.Juni, das bisher heißeste Wochenende des Jahres. In Pommritz ist Besuchszeit (wie an jedem letzten Wochenende im Monat). ,,Da Pommritz eine eigene Bahnstation auf der Strecke Dresden-Görlitz hat, bitten wir unsere Gäste, auf die Anreise mit PKW möglichst zu verzichten“. Abgelehnt. Ich will zwischendurch öfter mal anhalten können, baden, mich umsehen, was essen. Apropos ,,Essen“: In Pommritz kann man sich auch zum Übernachten und Verpflegenlassen anmelden – ,,überwiegend vegetarische Vollwertverpflegung“. Ich denke an Graupen und vielleicht gar an ein gemeinsames Großgruppen-Mittagessen mit vorheriger Pflichtmeditation (schließlich ist auf den Informationsblättern unter anderem von einer angestrebten ,,geistig-spirituellen Grundhaltung“ die Rede) – und steige in Schwarze Pumpe noch schnell bei einem Imbiß aus. Übernachten will ich in Pommritz eh‘ nicht – ich kann mir nichts vorstellen, was meinen Horror in bezug auf Gemeinschaftsschlafräume (,,bitte Schlafsack mitbringen“) überwinden könnte.

Was will ich überhaupt dort?

Als ich vor zwei Jahren Rudolf Bahro und Hans-Joachim Maaz gleichzeitig auf einer Veranstaltung erlebte, hatte ich den Eindruck, daß Bahros Ideen vielleicht da weiterhelfen könnten, wo die ,,psychische Revolution“ vielleicht aufhört: Wenn alle Interessierten ,,durchtherapiert“ wären, leiden und lieben könnten u.s.w., müßten sie dann immer noch voneinander isoliert in Betonbunkern wohnen und Tag für Tag zu Jobs latschen, die sie ankotzen? Sich selbst versorgende Kommunen könnten eine sinnvolle Alternative sein, wenn das Alternativ-Sein sich nicht aufs rein Ökonomische beschränkt. Daß es tatsächlich um ,,mehr“ geht, wird in Pommritz betont:

,,Unsere Perspektive ist eine ganzheitliche, ökologische Subsistenz. Damit ist

1) eine Kreislaufwirtschaft gemeint, die naturverträglich ist

2) eine Sozialdynamik bzw.-ordnung, die menschenwürdig ist

3) eine geistig-spirituelle Grundhaltung, die nach umfassender Weisheit sucht.“

Kein kleiner Anspruch. Ich bin skeptisch, vor allem, was Punkt 2 und 3 betrifft. Da ich das Angebot des Informationsblattes ,,eine Weile mit uns zu leben und zu arbeiten“, nicht annehmen werde, wird mir diese Skepsis wohl auch erhalten bleiben. Allerdings fahre ich nicht auf gut Glück dorthin. Da ich mich mit Ilona verabredet habe, hoffe ich, wenigstens die subjektive Sichtweise einer ,,Pommritz-Insiderin“ genau genug kennenzulernen, um sie weitergeben zu können.

ANKUNFT

Wer bei ,,Bautzen“ nur an Knast denkt, liegt falsch. Spätestens seit die Altstadt Stück für Stück restauriert wird, erinnert hier schon beim bloßen Durchfahren einiges an schöne Ecken in Prag. Pommritz ist jetzt nur noch wenige Kilometer entfernt (von Berlin sind es insgesamt etwa 220). Das letzte Wegstück könnte so manchem klarmachen, wie langweilig ,,Majorka“, Schwarzwald und Co. im Vergleich zu ,,Meiner Heimat DDR“ sind: die grünen Hügel der Oberlausitz mit kleinen Orten dazwischen, die noch nicht so genormt geschönt wurden, daß man sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Als mich vom nächsten 200-Meter-Gipfel eine Kirche begrüßt (,,Hochkirch“ heißt passenderweise der Ort), muß ich rechts weg: ,,Pommritz 1km“. Zwei weitere Kurven – das eigentliche Dorf bleibt dabei links liegen – und die erhöhte Konzentration junger Männer mit langen Haaren zeigt mir, daß ich am Ziel bin. Ansonsten: Staub, Sträucher, Landmaschinen, umgeben von teils stark ledierten Gemäuern. Nicht gerade abstoßend. Aber auch kein bißchen romantisch.

,,Das Gut hat eine lange Tradition als Versuchs- und Forschungsstätte. Zu ihm gehören schöne, alte und teilweise gut erhaltene Wohngebäude, Scheunen und Stallungen, und 100 ha fruchtbarer Boden, mit Gärten und Feldern, Wiesen und Wäldern. Diese sind noch zum Teil verpachtet und werden nach und nach von uns übernommen. Vorläufig dient uns das ehemalige Gutshaus mit seinen vielen Räumen als Wohnung. An den anderen Gebäuden sind noch Sanierungs- und Rekonstruktionsarbeiten notwendig. Später soll die Anlage durch den Bau einer ökologischen Siedlung erweitert werden.“

Es ist 14.30 Uhr, ich habe mich um eine halbe Stunde verspätet, und Ilona ist nirgends auffindbar. Thomas springt in die Bresche, er stammt aus Bautzen, ist 29 Jahre alt, ehemaliger NVA-Offizier und – wie ich später erfahre – der Vater des Kindes, das anfängt, Ilonas Bauch zu runden. In Pommritz ist er seit einem Jahr, hat – wie die meisten hier – eine ABM-Stelle, die noch bis 1995 bezahlt werden soll. Seine selbstversorgende Arbeit kreist um die Schwerpunkte Verwaltung, Tierhaltung und Käse – letzterer hergestellt mit freundlicher Unterstützung der projekteigenen Ziegen und Kühe.

In der Eingangshalle des Gutshauses (das bis zur ,,Wende“ als Lehrlingswohnheim gedient hat), vor der Wand mit der gerade mal einen Monat alten ,,Verfassung“ erzählt er von den schwierigen Versuchen, gemeinsame Orientierungen zu finden:

,,Einige wollten einfach nur so aufs Land ziehen, andere hatten gleich mehr vor. Manche hatten Bahro gelesen. Im Prinzip waren wir alle kopflastige Typen, Lehrer, Philosophen, Ingenieure, abgebrochene Studenten, auch Hausfrauen. Alles Ossis, vor allem aus der Umgebung von Bautzen, aus Berlin, eine aus Riebnitz-Dammgarten. Dieter, unser Ältester; war zwischendurch lange Jahre in Westen.

Viele sind hergekommen und wollten alles machen: Brot backen, töpfern, Schafe hüten, pflanzen. Aber es hat sich gezeigt, daß das so einfach nicht geht. Jeder muß doch irgendwie einen eigenen Bereich übernehmen und dafür verantwortlich sein. Irgendwo ist Planung hier genauso wichtig wie ,draußen‘. Man steht sowieso immer in dem Zwiespalt: Machen wir jetzt den gleichen Scheiß wie draußen oder was ist neu an dem, was wir tun? Manchmal ist nur neu, daß dahinter eine andere Idee steckt, die Subsistenzidee. Aber selbst die legen wir manchmal ganz verschieden aus. Geht‘s nur um Selbstversorgung? Das macht jeder Bauer auch, er produziert ein spezialisiertes Produkt, verkauft es und ernährt davon sich und seine Familie. Teilweise gehen wir doch schon über diesen Status hinaus. Es passiert schon innerer Austausch ohne Bargeld – zum Beispiel zwischen der Käserei, der Bäckerei, dem Ackerbau.

Wie sich das hier allerdings mal wirklich selbst tragen soll, ist nach wie vor nicht klar. Zur Zeit gibt jeder seine monatlichen Einkünfte in eine gemeinsame Kasse (über unsere Spareinlagen haben wir noch nicht geredet). Das sind so etwa 26000 Mark im Monat, die wir nach Bedarf auf die einzelnen Bereiche verteilen. Ein erster ,Planungserfolg‘ ist, daß wir uns gestern einen nagelneuen Traktor kaufen konnten, einen ,Beloruß‘. Aber auch darum gab es ziemlichen Streit: Ist das nicht auch schon wieder unökologisch, muß man nicht eigentlich ganz aufhören mit der normalen Landwirtschaft?

So richtig die Form für die Bewältigung solcher Konflikte haben wir noch nicht gefunden. Wir waren von Anfang an bestrebt, neben den sachlichen Montags-Runden ebenfalls wöchentlich emotionale Runden zu machen – die heißen auch ,Emo-Runden‘ – wo wir unsere Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen. Das läuft einerseits ganz gut – es gab ja auch noch keine Abspaltungen aus der Gruppe. Andererseits denke ich, ist das alles irgendwie noch zu lasch. Unser Problem ist, daß wir vieles gleichzeitig machen, daß wir schon angefangen haben, miteinander zu wirtschaften, obwohl wir uns über uns selbst und unsere Beziehungen untereinander noch gar nicht richtig klar sind. Wir haben nach wie vor keine Leitung oder soetwas, Kompetenzen entstehen aus sich heraus, aber wir scheuen uns davor, sie auch klar zu benennen.“

Thomas erzählt noch, daß er nach 1990 zwei Jahre bei der Bundeswehr geblieben ist, aber schließlich doch nicht damit klarkam und sich dann mit ein paar anderen auf die Suche nach einem kleinen Hof machte, um ,,etwas wirklich Konsequentes“ zu tun, da alles andere ja doch ,,keine echte Alternative“ gewesen sei. Dann muß er zu einer Sitzung, übergibt mich zum Rundgang an Uta. Aber bevor sie zum Zuge kommt, taucht plötzlich Ilona auf, die bis dahin hinter dem Haus darauf gewartet hatte, von meiner Ankunft zu erfahren.

RUNDGANG

Rechts hinten in der Eingangshalle öffnet Ilona die Tür zur Bibliothek, noch immer verziert mit dem Schild ,,Umkleideraum Jungen“. Vorbei an Beständen der ehemaligen Gemeindebibliothek, drei Stufen hoch: ein kapellenartiger Raum. Dieser Eindruck ist wohl vor allem auf die kleine Nische im weißgestrichenen   Mauerwerk zurückzuführen, in der Blumen und Kerzen eine Ikone umrahmen. 8-10 Decken liegen ordentlich verteilt im Kreis. Offenbar der Platz, wo die Spiritualität angesagt ist, oder?

,,Als wir einzogen, war das hier die Kutscherstube, so eine Art Gaststätte. Jetzt finden hier verschiedene Sachen statt: Morgenbesinnungen, gemeinsames Singen oder Trommeln, ab und zu auch Meditationen. Mit mehr oder weniger Beteiligung. Manchmal sitzen auch nur Zwei hier. Ich bin auch ganz lange nicht dabeigewesen. Jeder muß wohl für sich herausfinden, was er unter Spiritualität versteht. Für mich ist es jedenfalls eher der Kontakt mit der Erde und mit meinen Pflanzen draußen.“

Gut. Freiwiliges Spirituell-sein-Wollen kann ich ertragen. Andererseits kommt mir gelegentliches Trommeln etwas wenig vor, um die von den Pommritzern gewünschte seelisch-geistig-spirituelle Basis zu schaffen für – Zitat Informationsblatt – ,,eine wirkliche Gemeinschaft, deren Solidarität, Offenheit und Verbindlichkeit Räume schafft für die individuelle Entfaltung“.

„Wir hatten auch schon einige Male jemanden hier, der therapeutische Sachen mit uns gemacht hat oder ähnliches. Einige von uns waren auch schon bei Therapien, ich zum Beispiel in Halle bei Hans-Joachim Maaz. Vor 14 Tagen hat Vincenco Bianco aus Berlin eine ,Schamanische Einführung‘ gemacht. Für mich war das schön. Aber ich glaube auch nicht, daß es reicht.

Wir sind auch immer noch mitten in einer Krise, würde ich sagen. Die Probleme sind ja auch nicht gerade klein. Zum Beispiel der Wohnheim-Charakter dieses Hauses. Jeder Erwachsene hat zwar einen Raum für sich, die Kinder schon nicht mehr. Wir haben eine große Küche mit einem großen Speiseraum, gemeinsame Duschen, gemeinsame Waschräume… – schon das reibt mit der Zeit ganz schön auf

Und dann ist es wahnsinnig anstrengend, sich ständig mit 40 verschiedenen Befindlichkeiten auseinanderzusetzen. Entweder ich bleibe in meinem Zimmer, dann bin ich ganz für mich alleine – oder sobald ich die Tür aufmache, stehe ich hier in der Öffentlichkeit und werde mit Sachen konfrontiert, die ich gar nicht wissen will oder gar nicht verarbeiten kann oder wogegen ich mich nicht abgrenzen kann. Ich war jedenfalls in den letzten Monaten an einen Punkt gekommen, wo ich mit einem Bein schon draußen stand, wo ich dachte, ich muß gehen. Hier will ich mein nächstes Kind nicht kriegen.

Jetzt habe ich mich für die Variante dazwischen entschieden, also doch für einen kleineren Bezugsrahmen. Wir versuchen uns in einer kleineren Gruppe zusammenzufinden, acht Erwachsene und vier Kinder, uns ein bißchen herauszulösen, zumindestens gemeinsam die Mahlzeiten einzunehmen – daß das doch wieder ein bißchen einen familiäreren Rahmen bekommt.“

Szenenwechsel: raus aus dem Wohnhaus, in dem sich mittlerweile 10-15 Besucher zu tummeln scheinen (,,Manchmal kommt man sich hier vor wie im Zoo!“), im gegenüberliegenden Haus hinein in die Backstube. Micha, ,,der Bäcker“, zeigt uns seinen ,,Bereich“: Teigknetmaschine, kürzlich fertiggestellter Backofen (zuvor wurde ein imposantes Gerät auf der Gutshof-Mitte dafür genutzt). Die Backstubenwände sind frisch gekachelt – von wem?

,,Im Prinzip haben wir hier drin alles selber gemacht“, sagt Micha. ,,Auch die E-Anlage. Ich bin eigentlich Elektrotechniker.“ Wäre das nicht auch eine Möglichkeit, Geld ranzuschaffen? Elektriker-Arbeiten werden doch sicher in den umliegenden Dörfern gebraucht. Oder wäre das dann wieder keine richtige Selbstversorgung mehr, ,,draußen“ zu arbeiten?

,,Einer von uns arbeitet auch draußen. Aber ich will das eigentlich nicht machen, richtig als Elektriker arbeiten. Ich habe ja auch nicht umsonst mit diesem Beruf aufgehört. Das ist einfach nicht mein Ding. Für den Hausgebrauch – na gut, obwohl ich manchmal auch keine Lust habe, hier an der achtzig Jahre alten Elektroanlage rumzufummeln. Aber wer soll‘s sonst machen.“

Das Brot selbst (schweres, dunkles Vollkorn), ist übrigens in einem anderem Raum zur Lagerung aufgebahrt. Es soll gut schmecken, reicht aber nicht für alle, jedenfalls wird noch Brot dazugekauft. ,,Vor allem Mischbrot, weil sich Micha weigert, welches zu backen“, läßt mich Ilona wissen. Auch Käse- und Butter-Vorrat müssen von ,,außen“ noch ergänzt werden, nur der Quark entstammt zumeist vollständig LebensGuteigener Produktion. Insofern ist das Spruchband, das wir nun unterqueren, nicht ausschließlich von historischer Bedeutung: „100 Liter mehr pro Kuh: Unser Beitrag zum 35. Jahrestag“.

Auf diese Weise eingestimmt, betrete ich das ,,Info-Cafe“, das bis zum 1 Juni einfach ,,Kneipe“ hieß. Letzterer Name wäre allerdings nach wie vor zu rechtfertigen: Mehrere halbgeleerte Weinflaschen nebst entsprechenden Gläsern sowie ein Kasten landestypischen Bieres verleihen der ehemaligen bäuerlichen Wohnstube gastronomisches Aussehen und Geruch. Abstoßend? Für mich ganz bestimmt nicht. Erstens bin ich ein echter Fan von ,,Eibauer Schwarzbier“, und zweitens entspannt mich die Tatsache, daß es hier offensichtlich nicht so asketisch zugeht, wie ich befürchtet habe.

Eine Abstinenz-Regel gibt es also in Pommritz nicht. Einige andere Regeln schon. Ich frage Ilona, wie sie zum Beispiel damit klarkommt, was in der ,,Verfassung“(2) steht.

 ,,Ich habe sie nicht mit unterschrieben. Was mich unter anderem daran gestört hat, sind solche Formulierungen wie dieses ,Verantwortung übernehmen für alle und alles‘. Das war mir einfach ein Stück zu groß, zu allgemein und zu dehnbar Auch wenn da steht, daß es Pflicht ist, an den EMO-Runden teilzunehmen, empfinde ich das als zu großen Druck für mich.“

Jetzt komme ich dazu, Ilona nach ihrem ,,nichtkommunitären“ Vorleben zu fragen: Was war vor Pommritz?

„Gewohnt habe ich in Fürstenwalde. Ganz am Anfang war ich mal kurz Lehrerin. Dann war ich ziemlich lange zu Hause. Anschließend habe ich sechs Jahre in der EDV gearbeitet, am Computer gesessen. Dann kam eine ABM-Stelle als Sozialarbeiterin in der Diakonie. Ich war froh, als die nach einem halben Jahr nicht verlängert wurde. Krankheit und Arbeitslosigkeit kamen hinterher, und seit einem Jahr bin ich jetzt in hier. Meine beiden Mädchen, 11 und 13, sind hier die ältesten Kinder. Im ersten halben Jahr wollten sie am liebsten wieder zurück in die Stadt oder zu ihrem Vater. Aber seit Frühling geworden ist, scheint es ihnen hier zu gefallen.“

Wo gehen sie zur Schule? Die Pommritzer Selbstdarstellung legt nahe, daß auch aus üblichen Erziehungsstrukturen ein Ausstieg gewagt werden soll: ,,Für unsere Kinder wollen wir neue Formen der Bildung finden, denn auch wir können von ihrer Spontanität, Offenheit und Natürlichkeit lernen“. Eine ,,freie Schule“ also möglicherweise, in der Ilona auch wieder an ihre pädagogische Vergangenheit anknüpfen könnte?

,,Ja, sowas war mal in der Diskussion hier. Aber das wird wohl so bald nichts werden. Die Kinder gehen alle in Hochkirch zur Schule. Und ich selbst würde auch nicht noch mal Lehrerin sein wollen. Auf keinen Fall. Meine Sache ist mehr so diese Strecke Schafhaltung und die Wolle dann auch entsprechend zu verarbeiten – also Spinnerei, Weberei, Färberei. Von daher auch die Arbeit mit den Pflanzen. Und das ist es, was meine Chance hier wäre, wenn ich sie nutzen würde: Arbeiten und Leben an einem Ort und an einer Sache, in die ich auch wirklich eindringen kann. Nicht nur zu arbeiten, um was zu verkaufen. Sondern vor allem, weil‘s mir Spaß macht Die Resultate, die letztlich rauskommen, brauche ich für mich persönlich gar nicht.“

Wir beenden die Besichtigung geschlossener Räumlichkeiten und wenden uns dem Umland zu, darauf zunächst dem einzigen Pommritzer Eber, der fröhlich vor sich hinpinkelt und grunzt. Was soll aus ihm werden, wenn er einmal alt ist? Soll er überhaupt alt werden? Wie steht man in Pommritz zum Fleischessen?

,,Keiner wird hier gezwungen, sich vegetarisch zu ernähren. Die Meinungen darüber gehen auch sehr auseinander. Außerdem ist es ja noch etwas ganz anderes, fertige Wurst zu kaufen, oder Tiere zu schlachten, die man selber mit großgezogen hat.

Wir haben jetzt versehentlich einen kleinen Schafbock bekommen, obwohl das alles eigentlich weibliche Lämmer sein sollten. Jetzt stehen wir auch vor dem Problem, was wir mit ihm machen. Also schlachten mag ich den nicht. Thomas und Hubert haben ja schon mal ein Ziegenböckchen geschlachtet Und den gab‘ s dann auch zum Essen. Aber die Reaktionen darauf waren eben auch sehr unterschiedlich.“

Auf dem Weg zum Schafgehege, vorbei am leeren Kuhstall (man befindet sich momentan auf der Weide), sprechen wir über Geld. Eine gemeinsame Kasse ist so etwa das Vorletzte, was mir gefallen könnte. Mehrheitsbeschlüsse darüber, was ich mir kaufen darf und was nicht?

,,Das ist auch ziemlich schwierig. Allerdings werden hier keine Mehrheitsbeschlüsse gefaßt, sondern versucht, nach dem Konsens-Prinzip zu entscheiden. Und selbst nach einer Entscheidung hat man noch ]4 Tage lang das Recht, ein Veto einzulegen. Bis jetzt klappt das wohl im Prinzip. Ich war am Anfang auch nicht bereit, meinen ganzen Lohn einzuzahlen und habe das dann auch erst ab November gemacht. Wir hatten dann auch so einen Taschengeldsatz um die ]50-300 Mark festgelegt, mit dem jeder machen konnte, was er wollte. Und was darüber hinaus geht, da möchte man doch bitte schön die anderen informieren. Und damit bin ich ganz gut klargekommen, mal brauchte ich es, mal nicht, aber ich wußte immer, daß es da ist Aber jetzt kamen dann diese ganzen Diskussionen, alles rein zu tun – also auch Kindergeld und Alimente – und das konnte ich schon nicht mehr so gut finden. Und ich machs auch im Momenl nicht.

Und so ein Mißtrauen, ob der andere für das selbe Geld nicht weniger tut als man selber, so ein gegenseitiges Belauern, das ist schon da.“

 Was macht man dann damit? Bringt man es in die EMO-Runden?

,,Es kommt ja leider meistens nicht da an, das ist ja das Schlimme. Zum Teil kommt‘s auch in die Runden. Aber ich hab so das Gefühl, daß das längst nicht alles ist, daß viel hintenrum läuft Ich meine, ich bin auch nicht frei davon. Ich gehe auch bestimmten Typen einfach aus dem Wege, wo es eigentlich was zu sagen gäbe.“

Muß man denn immer mit allen streiten? Muß ich denn wirklich jedem sagen, wenn ich ihn blöde finde? Ist das nicht auch schon wieder eine Art Nähe oder Intimität, die ich mit manchen gar nicht will?

Ilona scheint mir beizupflichten, erinnert sich aber jetzt auch an die Kehrseite der Medaille:

,,Mitunter ist das auch so, daß solche reinigenden Gewitter stattfinden; also wo es wirklich mal auf den Plautz kommt und ziemlich lautstark auch, aber wo es dann hinterher auch wieder klar ist, wo anschließend auch kein Nachtragen passiert. Und das ist dann auch ziemlich faszinierend.“

 Das wäre ja schon etwas, was in einem normalen Arbeitskollektiv eher unwahrscheinlich ist.

Begünstigt vielleicht doch diese Umgebung und diese Art des Arbeitens konstruktivere Konfliktlösungen?

,,Ja. Ich glaub schon. Vor allem in kleineren Gruppen ist das möglich, wenn man sich Leute dazuholt, zu denen man Vertrauen hat.“

 Die Schafe kommen ins Blickfeld, mehrere Generationen und Rassen friedlich vereint. Ich will noch was über Sex wissen.

In Pommritz leben mehr Männer als Frauen. Sie arbeiten jeden Tag mehr oder weniger intensiv zusammen, verbringen große Teile der Freizeit miteinander, sind räumlich kaum getrennt. Führt das nicht nahezu notwendigerweise auch zu körperlicher Nähe und Angezogensein? Und kann nicht ein einziger ,,Fall sexueller Untreue“ eine ganze Gemeinschaft sprengen, deren Mitglieder so intensiv aufeinander angewiesen sind?

,,Nee, also im Moment ist es nicht so. Aber ich weiß nicht, ob das nicht auch mehr so verdrängt ist.“

Und noch ein Tabu-Thema hinten ran, während wir am Rande des Feldgartens entlanglaufen: Was passiert mit dem Abfall, vor allem mit dem körpereignen? Bei ,,Kreislaufwirtschaft“ denke ich auch an die Kette ,,menschliche Nahrung-menschlicher Kot-Dünger für zukünftige menschliche Nahrung“ und so weiter.

Aber Fehlanzeige. Im Moment gibt es nur ein nahezu unbenutztes Kompost-Klo ganz hinten im Garten, weitab vom Wohnhaus. Letzteres wiederum ist nicht nur zentral beheizt, sondern wird auch ganz normal entsorgt. Eine Umstellung auf Humustoiletten war angestrebt, aber bislang undurchführbar bei Preisen um die 7000 DM pro Öko-Thron. Grün sein kann teuer werden.

,,Das ist noch einer der zusätzlichen Gründe für uns, eine kleinere Gruppe zu bilden. Mit der kann man – zumindest im Sommer – aus diesem auf Verschwendung angelegten Riesenhaus raus und wesentlich weniger aufwendig in Bauwagen wohnen.

Aber das macht den anderen natürlich noch mehr Angst: Wollt Ihr dann keine Verwaltungsarbeiten mehr machen, keine Besucher mehr rumführen, wollt ihr euch von uns trennen?“

Drei Stunden sind vorbei. Mir schwirrt der Kopf. Erst mal wieder weg und irgendwo in einen See springen. Wir verabschieden uns.

RÜCKFAHRT

Ich hätte vielleicht nicht so abrupt gehen sollen. Andere hatten sich auch noch bereit erklärt, mit mir zu reden. Vielleicht wäre am Abend doch so etwas wie romantisch-alternatives Gemeinschaftsgefühl zu mir rübergeschwappt? Aber ich hasse es inzwischen, in Gruppenveranstaltungen hineingezogen zu werden, die ich nicht will, mit Mehrheit zu Gefühlen gezwungen zu werden, die nicht meine eigenen sind. Allerdings: Was hat das alles mit Pommritz zu tun? Wahrscheinlich herzlich wenig. Wenn ich mich mal bemühe, mein gewohntes Mißtrauen zu unterdrücken, war doch gerade die relative Freiheit von Gruppenzwängen das Beeindruckendste für mich im ,,LebensGut“. Ilona hatte mir am Anfang gesagt, sie wäre kein gutes Aushängeschild für dieses Projekt, weil sie ziemlich kritisch dazu stünde. Ganz im Gegenteil, finde ich. Wenn man sich so vielen Mehrheitsbeschlüssen oder -meinungen offen widersetzen kann, so viel Eigenes ausprobieren kann, ohne als Aussätzige dazustehen – phantastisch! Vielleicht steckt aber keine wirkliche Toleranz dahinter, sondern nur Desinteresse oder Angst vor offenen Auseinandersetzungen? Keine Ahnung.

Und werden die großen gemeinsamen Ziele nicht gefährdet, wenn jede und jeder davon abweichen darf? Aber was sind das für Ziele? Subsistenzwirtschaft um jeden Preis, als Selbstzweck, notfalls diktatorisch durchgesetzt? Geschrieben steht jedenfalls (wenn auch erst an zweiter Stelle ihrer Perspektiv-Vorstellungen), daß es in Pommritz auch um eine menschenwürdige Sozialordnung geht. Und die ,,Projektanten“ selbst zitieren: „Die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller, und so für die Kraft des Ganzen.“

Bis August ist noch ,,Aufnahmestop“ für Neueinsteiger, ,,weil wir erstmal unsere eigenen Probleme klären wollen“. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dabei ohne eine regelmäßige psychotherapeutische Begleitung viel mehr möglich ist, als Kratzen an der Oberfläche mit gelegentlichen, schwer integrierbaren Ausbrüchen. Aber das ist natürlich wieder nur meine persönliche Sichtweise. Und eine ,,therapeutische Diktatur“ wäre ja schließlich genauso sinnlos wie eine ,,ökologische“, seufze ich, während ich durch die Mondlandschaft der Hoyerswerdaer Tagebaue auf die Schlote des Kraftwerks Boxberg zufahre.

 

Anmerkungen

(1) zitiert aus: Rudolf Bahro ,,Logik der Rettung – Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik“, 1990 im Union Verlag Berlin erschienen.

(2) Darin heißt es u.a.:,,Jeder trägt materielle und ideelle Verantwortung für alle hier lebenden Menschen und das gesamte Leben sonst. Jeder, der sich beteiligen möchte, kann hier leben, arbeiten und sich orientieren. Jeder, der hier nicht oder nicht mehr leben möchte, kann wieder gehen …“

In einem weiteren Gemeinschaftspapier wird u.a. folgendes ergänzt: ,,Für alle gilt: 6-Tage-Arbeitswoche/ Teilnahme an gemeinschaftlichen Entscheidungprozessen des Alltags/ Teilnahme an Emo-Runden zum Ich-und Wir-Erkennen/ Offenheit für Spiritualität“ und eine ,,verbindliche Zeit des Einlassens (mindestens 3 Jahre)“ wird gefordert.

 

Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 3/1994 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

Aktuelle Informationen zum Pommritzer Projekt: http://www.lebensgut.de/