Von einem, der (sich) auszog und das Fürchten lernte. Kommuneerfahrungen in der„Aktions-Analytischen-Organisation“

 von Jürgen Fischer

In der Zeit kurz nach der 68er Studentenrevolte, war die „AAO“ (Aktions-Analytische Organisation) in der Szene der westdeutschen Jugendbewegung ziemlich populär. Ursprünglich vom Wiener Aktionskünstler Otto Mühl gegründet, wollte sie Erkenntnisse Wilhelm Reichs über die Zusammenhänge von Sexualität, Charakter und Gesellschaft in die (Kommune-)Praxis umsetzen. Dieser Versuch ist kläglich gescheitert. Die angestrebte Freiheit in Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung schlug ins Gegenteil um. Die Idee, menschliches Zusammenleben offener und lustvoller zu gestalten, pervertierte.

Jürgen Fischer hat 1977, kurz nach seinem Ausstieg aus der AAO, eine sehr emotionale – und deftige – Bilanz dieses Zusammenlebens gezogen. Das zu lesen könnte helfen, Wiederholungen zu vermeiden.

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Wie ich in die AA hineingekommen bin 

Die AA war in meinem Leben ein Schritt, der sich folgerichtig aus meiner Entwicklung ergeben hat. Ich habe mich nie entschieden: „so, jetzt gehe ich in die AA“. Irgendwann war ich da und bin dageblieben, genau so habe ich damit aufgehört: Irgendwann habe ich gefühlt, daß die AA für mich zu Ende ist und bin gegangen.

Ich habe viel über mich und über die Menschen gelernt in dieser Zeit. Vor allem weiß ich jetzt, daß nur ich allein für mein Leben verantwortlich bin, daß ich niemandem die Verantwortung für meine Gedanken, Gefühle und Handlungen zuschieben kann.

Ich bin in Berlin in einer Beamtenfamilie aufgewachsen. Ich war immer brav, lieb, in der AA sagt man dazu „schleimig“. Kurz nach meinem Abitur, 1970, bin ich von meinem Elternhaus weggegangen. Ich hatte glücklicherweise einen Fernsehregisseur kennengelernt, der von meinem Genie überzeugt war, und so wurde ich gleich nach dem Abitur Fernsehautor und Regisseur. Ich fing an zu studieren, Publizistik, Erziehungswissenschaft, Politik und Germanistik und zog zu dem Regisseur in eine große Wohngemeinschaft. Dort machten wir eine TV-Produktionsfirma, einen Kinderladen und lebten zusammen, 13 Erwachsene und 3 Kinder. Der Regisseur hatte den „Fimmel“, ein Wohn und Arbeitskollektiv zu machen. Er hatte ein schönes, großes Haus in Berlin Lichterfelde gemietet und allen Leuten angeboten, dort zu leben, die er für interessant hielt. Er selber arbeitete beim WDR in Köln. Wir lebten tatsächlich als Kollektiv, machten Musik, Theater, Bühnenbilder, Kindertheater, einen Kinderbuchverlag, Filme und vieles mehr. Vor allen Dingen: Wir lebten genüßlich. Der Regisseur und seine Frau verlangten, daß wir konsequent und diszipliniert an irgendwelchen Projekten arbeiteten. Wir dagegen machten uns einen Spaß aus dem Leben und kümmerten uns um uns selber. Es kam zu Konflikten, und ich pfiff auf eine „Karriere“ beim Fernsehen oder sonstwo. Wir wurden rausgeschmissen und ich fand mich in einer Wohngemeinschaft mit Zweierbeziehung und Kind wieder. Ich studierte, hatte aber weder Lust auf ein ernsthaftes Studium noch auf politische Aktivität. Ich begann zu meditieren, ging in ein linkes Verlagskollektiv und begann Spaß an der Arbeit zu finden.

Ende 1975 sind wir als Kollektiv aufs Land gefahren und haben mal nicht über Politik und Geschäfte geredet, sondern über uns selber. Wir waren sechs Leute, und wir wußten, daß vieles, was bei uns nicht klappte, mit unserer Kommunikationsstruktur zusammenhing. So versuchten wir, uns als Personen zu vermitteln. Diese Woche war für uns alle ein intensives Erlebnis, und nachher war nichts mehr wie zuvor. Wir spürten, wie die Arbeit uns auffraß, wir wollten unsere Kollektivsituation verändern. Wir kamen in eine antiautoritäre Phase. Anstatt unseren von außen (der Ökonomie) und innen (dem Pflichtbewußtsein) diktierten Aufgaben nachzukommen, diskutierten wir wochenlang unsere Beziehungen untereinander und die Hierarchiestrukturen. M., der das Kollektiv aufgebaut und geleitet hatte, wurde wegen seines Führungsanspruches hart angegriffen. Wir hatten den Anspruch „gleich“ zu sein. M. verließ das Kollektiv, und das Chaos wurde immer größer, die Verlage und Buchhandlungen wurden sauer, denn nichts funktionierte mehr. Irgendwie aber wollten wir mit unseren Arbeits- und Kommunikationsschwierigkeiten fertig werden. Als der finanzielle und organisatorische Ruin sichtbar wurde, spaltete sich das Kollektiv. Die einen wollten wie gehabt die Arbeit ökonomisch organisieren, die anderen, auch ich, stellten die Forderung auf, alles gemeinsam zu machen, zusammenzuziehen und gemeinsam zu leben und zu arbeiten.

Wir verließen also das Kollektiv und wollten eine Alternative aufbauen, einen Bauernhof auf dem Land mieten und von dort aus einen linken Buchversand betreiben. Aber dazu kam es gar nicht: Wir waren unfähig, unsere Bedürfnisse gemeinsam zu organisieren.

Ich hatte zu dieser Zeit eine Zweierbeziehung zu Gerlinde. Das war sehr problematisch, ich versuchte, sie an mich zu ketten, u.a. durch die Kollektivarbeit, in die ich sie mit einbeziehen wollte, sie versuchte, sich von mir zu distanzieren und zog in eine Frauenwohngemeinschaft.

Für mich war alles zu Ende. Das Kollektiv war geplatzt, die Zweierbeziehung war hin. Außerdem waren wir aus unserem Haus in Marienfelde rausgeschmissen worden. Das alles hatte wichtige Teile meiner Identität ausgemacht. Nachdem ich einige Wochen in depressiver Stimmung herum ge Sumf hatte, machte ich mich auf den Weg nach Spanien, wo ein Freund in meditativer Stille auf dem Land lebt. Ich ließ alles hinter mir zurück.

Auf dem Weg nach Spanien wollte ich John besuchen, den ich einen Monat vorher kennengelernt hatte. John hatte viel über Wilhelm Reich geredet, er machte eine Orgontherapie beim einzigen Schüler von Wilhelm Reich in der BRD und baute Orgonakkumulatoren. John faszinierte mich. Ich versuchte, ihn in München aufzutreiben und erfuhr schließlich, daß er in einer Kommune, 30 km nördlich von München lebte, der neuen Mooskommune, d.h. der AA-Versuchsgruppe München.

Ich hatte von der AA schon einiges gehört, sie war bei uns häufig Gesprächsthema gewesen. Ich hatte eine ihrer Veranstaltungen besucht, aber da war es so voll und laut, daß ich überhaupt nichts mitkriegte. Die einzigen Erfahrungen mit den AAs hatte ich vor der TU-Mensa gehabt, wo ich manchmal Bücher verkaufte und die AAs den Stand neben uns hatten. Die Leute waren mir irgendwie unheimlich, aber eigentlich waren sie recht nett. Sie machten immer irrsinnigen Wirbel und es gab große Menschenansammlungen, wenn sie ihre Selbstdarstellungen (SD) machten. Ich begriff nicht ganz, was es mit dieser wahnsinnigen Aktivität auf sich hatte und reagierte ablehnend. Ich ließ mich auf kein Gespräch ein und ordnete sie für mich zwischen Hare Krishna, KPD und Kasperletheater ein.

So fuhr ich mit sehr gemischten Gefühlen zur Mooskommune.

Freie Sexualität oder die Beziehungen der Beziehungslosigkeit 

„Freie Sexualität“ ist der Begriff, unter dem in der AAO die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander geregelt wurde.

Es geht darum, daß jeder Mann mit jeder Frau ficken können muß und umgekehrt (Das Wort „ficken“ ist das einzige Wort, das ich kenne, das nicht aus einem anderen Sinnzusammenhang entlehnt wurde. Deshalb finde ich es erst einmal in seiner Direktheit ehrlich.). Ist das nicht so, dann hat man „schlechte Kommunikation“ . Die Sexualität wird quantitativ aufgefaßt, nicht qualitativ. Am besten also, man fickt oft und möglichst gerecht auf alle verteilt. Liebesbeziehungen, die auf die Intensität des Gefühls gerichtet sind, sind nicht erwünscht und jeder, der sich über intensive Beziehungen in der AAO zu organisieren versucht, wird starke psychische Spannungen zu ertragen haben. Werden intensive Beziehungen als „Zweierbeziehungen“ entlarvt, gehen diejenigen das Risiko ein, getrennt zu werden, d. h. sie werden eventuell in verschiedene Gruppen geschickt.

Als ich in die Mooskommune einzog, hatte ich ziemliche Angst vor der „freien Sexualität“. Aber das kam nicht raus, denn es gab nur vier Frauen und acht Männer. Als Gerlinde mit einzog, hielten wir uns gegenseitig zunächst ganz fest und schliefen eine Woche lang nur zusammen. Wir liebten uns wie noch nie. Unsere Verlustängste hielten uns beisammen. Das schlug dann plötzlich in Haß um. Wir machten Selbstdarstellungen über unsere Situation. Mein Problem war, daß ich eifersüchtig war und real viel zu wenig Frauen da waren. Ich verstrickte mich in meinen Gefühlen, sah nicht mehr, inwiefern die Probleme real waren und was irrationale Ängste waren. Ich fühlte mich mies, und das hinderte mich daran, offen auf andere Frauen zuzugehen.

Wenn ich allein im Bett lag, hörte ich jedes Stöhnen und bekam Angst, wenn es aus der Richtung kam, in der ich Gerlinde vermutete. Es half mir gar nichts, daß wir alle in dieser Zeit nicht ficken konnten, weil wieder einmal irgendeine Geschlechtskrankheit ausgebrochen war. Überhaupt konnte ich in den sechs Monaten AA über zwei Monate lang wegen andauernder Kuren und Quarantänen nicht ficken. Ich selber hatte nie etwas, ich mußte nur immer warten, bis die anderen wieder gesund waren.

Ich lag also in meinem Bett und hörte auf die nächtlichen Geräusche der Kommunarden. Oft wußte ich überhaupt nicht mehr weiter und ging in die Bibliothek, wo nachts meist noch einige Männer saßen.

Mitte August fuhren wir zum Treffen der AA-Versuchsgruppen nach Ottingen. Gerlinde und ich waren wieder ein Herz und eine Seele. Sie hatte gemerkt, daß ihr das Ficken nur mit mir Spaß machte und das war mir recht so. Als ich mich in Ottingen neben eine andere Frau legte und mit ihr herumschmuste, flippte Gerlinde aus. Es war das erste Mal, daß ich mitkriegte, daß Gerlinde in derselben beschissenen emotionalen Situation wie ich war.

Irgendwann kam Otto Mühl mit einigen Wiener Kommunarden. Wie jedes Mal, wenn die Wiener im Moos waren, flippte alles total aus. Nach den Selbstdarstellungen, ich hatte mich wieder einmal erfolgreich gedrückt, standen Gerlinde und ich ziemlich bedrückt rum. Otto kam auf uns zu und nahm uns in den Arm. Wir erzählten ihm von unserer Zweierbeziehung. Otto meinte, wir müßten uns auf alle Fälle trennen und in verschiedene Gruppen gehen, da wir unsere Entwicklung gegenseitig behindern würden. Wir waren totunglücklich, sahen aber ein, daß das wohl die einzige Möglichkeit wäre, weiter in der AAO zu bleiben.

In der Tat behinderte uns die Zweierbeziehung, aber nur im Sinne der AA-Ideologie. Die Strukturen der AAO sind auf die Kommunikations und Beziehungslosigkeit der Leute untereinander aufgebaut. Niemand wagt es, tiefe Beziehungen anzustreben, die „Angst vor der Liebe“ wird geschürt. Es ist klar, daß in jeder Liebesbeziehung tiefe Ängste geweckt werden, infantile Strukturen, die oft seit der Kindheit verdeckt waren, können aufbrechen und zu Reaktionen führen, die einem selbst unbekannt sind und Angst erzeugen. Wer kennt das nicht. Deshalb zu behaupten, daß Liebesbeziehungen überhaupt das Grundübel der Welt sind, ist blanker Humbug. Ich halte es für Dummheit, in eine Organisation zu gehen und zu glauben, es wäre möglich, sich anders zu organisieren und damit hätte man die Fähigkeit erlangt, glücklich zu sein. In der AAO jedenfalls wird das Problem so gelöst, daß alle psychischen Strukturen auf einen Nenner gebracht werden und zwar das Funktionieren der Gruppe. Wer da nicht hineinpaßt, wird entweder unglücklich oder geht wieder hinaus.

Direkte Demokratie und Hierarchie 

Kommunikation in den Gruppen findet statt über die Organisation der Arbeit, über die „freie Sexualität“, Selbstdarstellungen und Bewußtseinskurse. Jede andere Kommunikation trägt in sich den Ruch der Zweierbeziehung und so läßt sich niemand wirklich auf den anderen ein. So sieht die Kommunikation beim Essen z. B. so aus, daß die meisten schweigen und die in der Hierarchie oben stehenden, die „Posis“, erzählen etwas. Gespräche unter einzelnen beim Essen habe ich nur selten erlebt. Jeder, der einfach irgendetwas sagt, geht das Risiko ein, sofort aufgefordert zu werden, es laut zu sagen, es vor der

Gruppe darzustellen, denn wer leise etwas sagt, hat es vor der Gruppe verborgen. Überhaupt werden Gruppensituationen fast immer dazu genutzt, „Bewußtseinsarbeit“ zu machen, also Selbstdarstellungen, Reden, Vorträge usw. Je weiter unten man in der Hierarchie steht, desto mehr Leute fühlen sich berechtigt, einen „aus therapeutischen Gründen“ anzugehen. Also ist es das Klügste, die Klappe zu halten und daran zu arbeiten, in der Hierarchie aufzusteigen. Am besten, man geht die Leute hart an, die unter einem stehen. Wer in der Hierarchie oben steht, hat das Sagen, ob er nun Ahnung hat oder nicht.

So ist Andreas, damals ca. Nr. 10 in der Münchner Hierarchie in die Küche gekommen, als John und ich gerade dabei waren, die Wände mit Alufolie zu verkleiden. Wir machten das, weil es uns gefiel, und es hatte den praktischen Zweck, die Fett und Wasserspritzer von der weißen Wand abzuhalten. Andreas verstand das nicht und meinte, wir wären total ausgeflippt und wollten aus der Küche einen psychedelischen Beatschuppen machen. (Radio hatten wir uns auch besorgt.) Er alarmierte sofort die Hierarchiespitze, die sich sofort über uns hermachte. Ein anderes Mal kam Burkhard in die Küche und meinte, er brauche „ein paar Negos zum Türenschleppen“. Und das war kein Scherz.

Die Küche war schon immer ein Abstellplatz für die „Negos“ gewesen. Wir machten uns einen Spaß daraus. Ich stieg fest in die Küchenarbeit mit ein, und von nun an waren John und ich die Küchengruppe. John hatte gerade die biologische Vollwerternährung eingeführt und nun zwangen wir die Gruppe gemeinsam, sich gesund zu ernähren.

Die Münchener Gruppe sollte damals für den bevorstehenden AA-Kongreß Berichte der Arbeitsgruppen abfassen und an den Friedrichshof (AAO-Zentrale) schicken. John hatte einen Bericht über die neue gesunde Ernährungsweise der Münchener Gruppe verfaßt. Die Gruppe fand es gerade noch erträglich, gesund ernährt zu werden, aber das auch noch zu veröffentlichen war zuviel. Der Bericht wurde als „größenwahnsinnig“ abgelehnt. Erst auf Anraten der Berliner Kommunarden, die gerade da waren, wurde der Bericht abgeschickt. Die Antwort vom Friedrichshof war ein Hammer: die Münchener Gruppe wurde in einem Rundbrief des IOB („Internationales Organisationsbüro“ der AAO, die AAs haben einen Abkürzungsfimmel, das ist die besondere Note der Bürokraten in der AAO) als leuchtendes Vorbild in ihrer Ernährung hingestellt. Und nicht nur das, der Bericht wurde in der nächsten Nummer der AA-Nachrichten abgedruckt und das Größte: Die biologisch vollwertige Ernährung wurde auf dem AA-Kongreß im Dezember zum AA-Prinzip erhoben. Ein „triumphaler Erfolg“ der Münchener Gruppe.

John und ich richteten uns die Küche funktional und gemütlich ein, und wir kauften uns Bücher um uns weiterzubilden. Oft war es so, daß ich den Brotteig knetete und John saß neben mir auf dem Tisch und las aus den Büchern vor. Wir fuhren total darauf ab, zusammen die Küchengruppe zu machen.

Aber das führte zu ungeahnten Problemen. Die Ernährungsumstellung war für viele zu viel des Guten. Es wurde häufig gemotzt, man wollte auf Schokolade, Zucker, Fleisch und tägliches warmes Essen nicht verzichten. Wir bekamen verständliche Aggressionen zu spüren. Aber wir blieben hart. Wir meinten, gerade wer glaubte, auf sein gewohntes Essen nicht verzichten zu können, sollte sich nur noch von Salat und Nüssen und Getreide ernähren und seine orale Schädigung bearbeiten. Aber es gab gegen unser irrationales Verhalten genauso irrationale Opposition. Und zwar von Hans-Ludwig, und das war schlecht für uns, denn der war Nr. 1 in der Hierarchie.

Aber wir ließen uns in unserem Spaß nicht be-irren, verschlossen die Speisekammer und gaben Nußrationen für Nichtraucher aus. Ja, wir bekamen sogar Rückenstärkung vom Friedrichshof. Ami, die dort die Küche geleitet hatte, meinte zu uns, wir sollten gegen die Widerstände der Gruppe aushalten.

Wir entfernten uns in unserer Kommunikation immer mehr von der Gruppe. John versuchte zwar oft klarzustellen, worum es uns ging, aber wenn wir beide miteinander redeten, blickte kein anderer mehr durch. Es war sehr suspekt,

daß zwei Männer gerne miteinander arbeiteten, viel redeten und lachten und sich offensichtlich gut verstanden. Das hatte es in der Kommune noch nicht gegeben, und das durfte es auch nicht geben. Dann kam Herbert Stumpfl, damals hinter Otto Mühl und Bernd Stein die Nummer 3 in der Hierarchie der AAO. Er deckte unsere „schwule Beziehung“ auf.

Unter dem Motto „Geilheit in die Küche“ forderte er die Gruppe auf, uns voneinander zu trennen, da wir eine „schwule Männerbeziehung“ hätten. Damit war gemeint, daß wir eine Freundschaft geschlossen hätten, die darauf gegründet wäre, unsere gegenseitigen Konkurrenzgefühle in einem stillschweigenden Übereinkommen zu verdrängen, sozusagen eine gleichgeschlechtliche Zweierbeziehung. Herbert Stumpfl hatte recht, wir waren Freunde und machten keinen Hehl daraus. Herbert Stumpfl wollte offenbar ein Exempel durchführen. Auf mich hatte er es irgendwie abgesehen. Ich hatte ihn, als er angekommen war, offen begrüßt. Schließlich hatten wir ja in Österreich manchmal im Büro zusammen gearbeitet. Er begrüßte mich gar nicht erst, sondern wies mich zurecht, ich würde versuchen, mich bei ihm „einzuschleimen“. Stumpfl forderte also die Gruppe auf, John und mich zu trennen und unsere Beziehung besser zu überwachen und dafür zu sorgen, daß Männer und Frauen gleichmäßig verteilt in der Küche arbeiteten. Er analysierte bei mir eine „schwule“ Vaterfixierung, was ich ihm bestätigen mußte, da ich nichts Besseres wußte. Ich war total fertig, wollte mich am liebsten überhaupt nicht verhalten. Aber ich mußte eine Selbstdarstellung machen. Ich leistete mir meinen größten Fehler in meiner AA-Laufbahn, ich stellte meine Gefühle dar. Ich hatte wahnsinnige Aggressionen gegen die Gruppe und Herbert Stumpfl. Sie hatten mich gegen die Angriffe von Herbert Stumpfl im Stich gelassen. Das stellte ich dar. Stumpfl unterbrach meine Selbstdarstellung und meinte, ich sei total wahnsinnig, ich sollte gefälligst meine Vaterschädigung darstellen. Das konnte ich nicht und ich setzte mich.

Ich wußte wieder mal nicht mehr, was läuft. Ich muß tatsächlich sehr krank gewesen sein, denn ich glaubte, daß der ganze Fehler in meiner Charakterstruktur läge. Daß an der AAO etwas nicht stimmte, getraute ich mich nicht einmal zu denken. Aber ich wollte den Schwachsinn eines Herbert Stumpfl nicht akzeptieren, selbst wenn ich der miese Küchenjunge in der Münchener Gruppe war und Herbert Stumpfl Nr. 3 der AAO. Schließlich ging es nicht nur um eine Selbstdarstellung, sondern um meine Freundschaft mit John und einen Arbeitsplatz, an dem ich mich wohlfühlte. Beides wollte ich nicht so einfach aufgeben. Ich begann zu ahnen, was „Bewußtseinshierarchie“ tatsächlich ist.

Am gleichen Abend wurde die „Bewußtseinshierarchie“ der Münchener Gruppe festgestellt. Alle mußten sich in einer Reihe aufstellen. John und ich stellten uns irgendwo im letzten Drittel auf. Daß wir jetzt keine Chance auf einen guten Platz hatten, war klar. Während sich die meisten darum rangelten, möglichst weit nach vorn zu kommen, stellten John und ich uns immer hinter den anderen. Wir wollten nicht akzeptieren, daß der andere unter einem stand. Und da es nicht möglich ist, sich in der AA-Hierarchie nebeneinander zu stellen, landeten wir beide auf diese Weise am Schluß der Hierarchie, John an vorletzter, ich an letzter Stelle.

Ich war also „Nego“, daran war kein Zweifel mehr. Es war nicht ausgesprochen angenehm, aber immerhin wußte ich wieder, wer ich war: der „Nego Jürgen“.

Aber die nächsten Tage wurden zur Qual. Ich wußte mich John gegenüber nicht mehr zu verhalten. Einer von uns mußte raus aus der Küche. Oder wir mußten darum kämpfen, in der Küche weiter zusammenbleiben zu können. Der bloße Gedanke daran verursachte bei mir eine Gänsehaut, denn Herbert Stumpfl wollte in wenigen Tagen wiederkommen. Ich war mir nicht klar darüber, ob ich mit John um die Küchenleitung kämpfen sollte. Schließlich hatte ich einen Arbeitsplatz, an dem ich mich auskannte und der mich völlig zufriedenstellte. Und ich hatte mehr organisatorischen Überblick als John, dem alles Technische ein Greuel war, Statistik, Kassenabrechnungen, Mengenberechnungen für die Mahlzeiten. Außerdem hatte ich genug Informationen über John, die sonst keiner wußte, z. B. seine Ausflüge zu Freundinnen, die in München wohnten. Ich kannte ihn schließlich am besten.

Da John in der nächsten Woche für Isolationsarbeiten benötigt wurde, führte ich die Küche alleine, probeweise sozusagen. Jetzt arbeitete ich wieder mit anderen zusammen, die an der Küchenarbeit gar nicht interessiert waren, sondern vom AO, dem Arbeitsorganisator, dazu abkommandiert waren. Ich versuchte, John aus dem Weg zu gehen. Wenn ich ihn traf, startete ich irrationale Angriffe gegen ihn, z. B. weil er tagsüber oft stundenlang im Bett lag anstatt zu arbeiten. Das hatte er immer getan, auch als wir zusammen gearbeitet haben, und es hatte mich nie gestört. Im Gegenteil, wir erlaubten uns durch unsere Arbeitsweise gegenseitig manche Freizeit, die mit anderen kaum möglich gewesen wären. Aber jetzt ging mir das auf die Nerven, denn ich hatte selber keine Lust mehr zu arbeiten.

Nach dieser Woche entschied ich mich, nicht die Küche weiterführen zu wollen. Ich wurde im Büro eingesetzt, weil ich die Qualifikationen für Büroarbeit hatte. Ich kam vom Regen in die Traufe. Im Büro saß Gerlinde. Wir waren meist alleine, denn die anderen, die sonst im Büro zu tun hatten, waren auf den AA-Kongreß zum Friedrichshof gefahren. Meine Beziehung zu Gerlinde gestaltete sich so widersprüchlich, daß ich schließlich durchdrehte und abhaute. Ich bin jedesmal heimlich verschwunden, denn ich fühlte, daß ich der Auseinandersetzung mit der Gruppe nicht hätte standhalten können.

Gerlinde und ich hatten offiziell unsere „Zweierbeziehung“ überwunden. Sie stand über mir in der Hierarchie. Wir waren in der Gruppe, also vor den anderen, kalt zueinander. Aber wir fickten bei jeder sich bietenden Gelegenheit und es war wunderbar. Gerlinde war die einzige Frau, zu der ich in der Gruppe wirklich intensive Gefühle hatte. Das Ficken war mit ihr keine rein körperliche Übung wie mit den anderen Frauen, sondern viel mehr. Wir tauschten viele liebevolle Gefühle aus. Wir machten auch möglichst viel miteinander, fuhren täglich in der Stadt herum, um irgendetwas einzukaufen. Wir verbrachten manche Tage zusammen draußen und unbeobachtet verhielten wir uns so, wie es uns gefiel. Wir schmusten, hielten uns bei den Händen und waren verliebt. Es war wie in der Pubertät, als die wichtigen Sachen, unbeobachtet von den Eltern, im Auto geschahen. Wir träumten davon, wie es wäre, wenn wir einfach losfahren würden in die Welt …. aber dieser Gedanke machte uns schon Angst. Wir hatten ein schlechtes Gewissen und verhielten uns vor der Gruppe um so kälter zueinander. Dann brachen in der Gruppe die Filzläuse aus. Gerlinde und ich gehörten zu den wenigen, die verschont blieben. Jetzt durften wir ungeniert so oft zusammen ins Bett wie wir wollten. Aber das verschlimmerte meine Situation.

Als eines abends Hubertus aus der Berliner Gruppe sich plump und direkt an Gerlinde heranmachte, hielt ich das alles nicht mehr aus. Ich griff mir die Schlüssel für das Tor, das nachts verschlossen war, packte das Nötigste zusammen und war verschwunden.

 

 

 

Wir bedanken uns beim Autor für die freundliche Genehmigung, den obigen Beitrag aus dem Buch „Die Falle. AAO = Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ – stark gekürzt – übernehmen zu dürfen. Dieses Buch ist 1977 erschienen im Parallel Verlag Berlin.

 

 

aus ICH Frühling 97