Das ZEGG – Fünf Jahre Experiment für eine gewaltfreie Lebenskultur

von Leila Dregger

Es ist Sonntag, der 7.7.96, ich befinde mich in der Roten Villa im ZEGG. Kurz vor dem fünften Geburtstag des ZEGG gibt es eine Premiere: Am anderen Ende des Platzes wird gerade ein Kind geboren. Es ist das erste Kind, das hier zur Welt kommt, und irgendwie fühlen wir uns alle ein bißchen wie die Väter aus der Karikatur. Der ganze Platz scheint unter Spannung zu stehen und wartet auf den erlösenden Aufschrei. Um zwei Uhr nachts hat die Geburt angefangen, die Mutter ist Dolores, und es ist auch ihr erstes Kind. Außer dem Vater und der Hebamme sind noch zwei Freundinnen dabei, und draußen vor der Tür sitzt eine kleine Gruppe von Menschen. Sie warten, singen oder reden leise, bewahren ein angenehmes und schützendes Umfeld für die Geburt und geben an die immer wieder mal – rein zufällig vorbeischlendernden – anderen ZEGG-Bewohner die neuesten Nachrichten weiter. Diese machen auf dem Platz die Runde, überholen sich gegenseitig und verwandeln sich in Gerüchte: „Die Wehen kommen jetzt alle zwei Minuten.“ „Die Wehen haben ganz aufgehört.“ „Dolores ist eingeschlafen.“ „Sie sitzt schon im Becken, es wird eine Unterwassergeburt.“ „Es kann jeden Augenblick soweit sein.“ „Es wird noch bis in die Nacht dauern.“

Vor fünf Jahren hatte das ZEGG-Suchteam im Hohen Fläming ein interessantes Gelände gefunden. Auf dem 16 ha großen Platz standen viele Gebäude, es gab Freiflächen, lichte Wälder, zwei eigene Quellen, viele Vögel, anderes Wildleben aus den umliegenden Wäldern – und eine dunkle Vergangenheit.

„Liebescamp im Stasilager“ wurde schnell zum Lieblingsschlagwort der Presse. Obwohl als Diffamierung gemeint, besagte es ja etwas sehr schönes: Das ZEGG errichtete an einem Ort, an dem die Stasi ihre Agenten ausgebildet hatte, der 30 Jahre lang total gesperrt war, wo noch früher die Nazis ihre Sportler für Olympia 1936 trainierten, der für Drill, Desinformation und Gewalt stand, eine Tagungsstätte für Gewaltfreiheit. In den gleichen Räumen, in denen Spionageabwehr gelehrt und kalter Krieg vorbereitet wurde, entstand ein Basislager für den Frieden zwischen Männern und Frauen.

Zu dem Zeitpunkt, als die ZEGGianer zum ersten Mal ihren zukünftigen Lebensplatz betraten, hatte das Netzwerk Meiga – gegründet im Zug der Neuen Linken und der Friedens- und Alternativbewegung in Westdeutschland – bereits seit 13 Jahren experimentell, geistig und politisch an alternativen und gewaltfreien Lebensformen gearbeitet. Hinter ihnen lag ein dreijähriges soziales Intensivexperiment mit fünfzig Personen im Schwarzwald, in dem sie den Fragen nachgingen: Auf welchen Grundlagen ensteht Vertrauen, wie sieht eine umfassende Kommunikation aus, wie kann Liebe und Sexualität gelebt werden, ohne sich gegenseitig abhängig zu machen, was für moderne Formen gibt es für Spiritualität? Nach der Wende suchten sie ein größeres Gelände, Ostdeutschland bot sich an.

Im September 1991 gründeten sie eine GmbH, kauften mit Hilfe von Unterstützern, Darlehensgebern und Bankkrediten für 2,15 Mio. DM das Gelände von der Treuhand. Es waren ungefähr gleich viele Frauen und Männer aus Westdeutschland, Schweiz und Österreich, in einem Durchschnittsalter von ungefähr 30 Jahren – inzwischen leben rund 50 Erwachsene und 11 Kinder fest im ZEGG, etwas mehr Frauen als Männer, und das Altersspektrum hat sich erweitert.

„Die Erde braucht eine neue Information,“ sagten die ZEGGianer, und solche „morphogenetischen Felder“ struktureller Gewaltfreiheit reichen von Gedanken zur pflegenden Umgangsweise mit der Natur bis zur Heilung der Erde, vom konstruktiven Austragen von Konflikten bis zum liebevollen Umgang mit sich selbst und anderen. Neue Erfahrungen in einem ganzheitlicheren Miteinander sollten gemacht werden.

Und solche Erfahrungen wurden reichlich gesammelt – zum Beispiel so:

Am Ende eines jener heißen Sommertage treffe ich im ZEGG ein. Aus Berlin, wo die Gluthitze der Asphaltschluchten mich nur halb so wahnsinnig macht wie die verschlossenen Gesichter der Großstadt, die immer nur eines zu sagen scheinen: Wer ist besser, du oder ich? Und dann im ZEGG: Die untergehende Sonne malt Häuser und Bäume golden. Die blühenden Kirschbäume strömen einen betörenden Duft aus. Die Vögel geben ein Galakonzert. Das San-Diego-Café öffnet seine Pforten. Eine Gruppe ist gerade zuende. Arm in Arm, lachend, turtelnd gehen die Menschen an mir vorbei. Etliche winken mir zu und begrüßen mich. Bori fällt mir um den Hals und sagt mir, wie TOLL es ist, daß ich da bin. Ich schlendere über den goldfarbenen Platz, zum Swimming Pool und mache einen Kopfsprung ins grüne Wasser, und als ich heraussteige, stehe ich nackt und naß vor Fritz, den ich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen habe. Die Begrüßung! Die Begegnung! Küsse zwischen Moos und Wiese. Als ich wieder aufstehe, scheint ein riesiger Vollmond vom Himmel, ich suche mir einen Schlafplatz am Platz der Stille, jemand anders liegt schon da, ich weiß nicht wer, aber ich weiß, daß es okay ist, hier zu sein. Ich bin zuhause. Film aus.

Nun ja. Solche Tage gibt es wirklich. Paradies. Ich erlebe es besonders oft, da ich seit drei Jahren Grenzgängerin bin, komme und gehe, verabschiedet und begrüßt und wieder verabschiedet und begrüßt werde und so die Sahne dieser Lebensweise abschöpfe.

Wenn dies das Paradies ist, warum lebe ich nicht hier? Warum bin ich überhaupt ausgezogen, nachdem ich über zwei Jahre hier gelebt habe? Warum, warum. In den zwei Monaten, die ich zur Recherche für mein Buch hier verbringen werde, will ich das herausfinden. Rotgoldene Sonnenuntergänge gibt es zur Zeit gar nicht, es ist verregnet und kühl. Auch sonst ist mir eher mulmig zumute. Wo ist meine Souveränität geblieben? Ich sitze im Plenum und habe Paranoia, vor der gesamten Gruppe angesprochen zu werden. Ich verbringe Stunden in irgendwelchen Gruppen, in denen so Weltbewegendes besprochen wird wie die Frage: „Wer hat die Kabeltrommel im Regen liegen gelassen?“ – und bin nicht in der Lage, ein interessanteres Gespräch in Gang zu bringen. Beim Volleyballspielen, beim Tanzen im Kulturhaus, beim Gang über den Platz merke ich: Mit dem ein oder anderen habe ich immer meinen kleinen Privatkrieg laufen; bis auf die Zähne, ich will Recht behalten, und gefallen lasse ich mir gar nichts. Ich sehe Kastor, Sarah und Brigitte zusammensitzen, möchte mich gerne dazusetzen und denke: Sicher wollen die das nicht, und gehe – irgendwie pfeifend – wieder weg. Ich freue mich wie ein Kind, wenn mich jemand wegen irgendetwas um Hilfe bittet. Ich werde ruppig, wenn jemand etwas an mir aussetzt. Ich erlebe Nähe. Erotisch, emotional, geistig – manchmal mehr Nähe, als mir lieb ist. Ich nehme am Forum teil – und erkenne das, was die Leute darstellen, an mir wieder. Durchschaut mich denn hier jeder? Ich fange an, Kaffee zu trinken und Zigaretten zu rauchen.

Aber alles, was ich tue, ist begleitet von etwas, das ich eine Zeitlang nicht mehr kannte: Emotionen. Emotionalität! Ich bin aufgewühlt, unsicher, schüchtern, agressiv. Meine schützende Schale, die ich drei Jahre lang gepflegt habe, bekommt Risse. Meine Stärke verschwindet.

Und das ist gut so. Erst mal. Ich war lange genug cool. Ich sitze an meinem Kraftplatz im Wald, betrachte die Blätter im Morgenwind, ich komme zur Ruhe.

Das tägliche Leben im ZEGG ist Forschungsarbeit – dazu gehört alles: die Arbeit im Garten, Meditation am Platz der Stille, experimentelle Solaranlagen, die Kommunikation untereinander, Traum und Schlaf, verschiedene Lebensformen für Liebe und Sexualität, Musik, Kunst und Sport. In Tagungen, durch Veröffentlichungen, durch Netzwerkarbeit werden Gedanken und Erfahrungen weitergegeben und ausgetauscht mit anderen Gemeinschaften und Projekten.

Gerade heute z.B. ging das Come-Together-Camp zuende, das jährliche Vernetzungscamp deutschsprachiger Gemeinschaften, dieses Jahr im ZEGG. Die Sonntagsmatinée war wie ein Erntedank. Die KommunevertreterInnen stellten ihre Ergebnisse vor, und das war vor allem eine Resolution über das eigene politische Selbstverständnis von ökologisch und sozial bewußten Gemeinschaften. Sie betrachten sich als „Entwicklungsprojekte des Nordens“, denn: „Der Norden ist das Problem, der Norden muß sich entwickeln.“

Zuvor sang der ZEGG-Chor mit Hagara erstmals das erste Lied des Canto General vollständig und mit solcher Inbrunst, daß etwaige falsche Töne die ergreifende Wirkung nur noch steigern konnten. „Für Dolores und das Kind,“ hatte Hagara vorher gesagt. Inzwischen ist es zwei Uhr nachmittags. Wilfried, der Wirt der Dorfkneipe, ist immer über den neuesten Stand unterrichtet: Das Baby läßt sich noch Zeit.

Geomantie-Spezialisten sagen, daß die Heilung der Erde geschehen kann, indem an geomagnetisch wichtigen Punkten eine andere Information erzeugt wird. Diese kann dann fließen wie bei einer Akupunkturnadel und über geheimnisvolle Erdmeridiane auch anderswo eine Transformation auslösen. Wenn die Geomantie recht hat, hat das ZEGG bereits einen Riesenbeitrag geleistet – damit ist nicht gesagt, daß dieser Prozeß bereits abgeschlossen ist, beileibe nicht.

Wenn ich schon bei Geomantie angekommen bin, kann ich auch gleich mit den Chakras weitermachen. Jeder Platz hat Chakras – so wie ein Körper. Hört sich das an wie aus der Esoterik-Ecke? Vielleicht, aber warum sollte man zu strenggläubig auf seine gewohnte Art bestehen, die Wirklichkeit zu sehen? Okay, also Chakras. Peter Dawkins, ein Geomantie-Spezialist aus England, kann sie sehen und hat bei einem Besuch im ZEGG festgestellt, daß diese Energieeintrittsplätze, ohne irgendwie geplant zu sein, weitgehend entsprechend ihrer Bedeutung genutzt wurden. Die Chakras liegen der Länge des Geländes nach aufgereiht von Osten bis Westen. Ganz unten im Gelände beginnend, beim Platz der aufgehenden Sonne, dann durch den zur Zeit noch feuchten Gemüsegarten, weiter durch das Eingangstor das ZEGG mit dem eindrucksvollen Schrottmonument „Stellwerk“ und schließlich, dreißig Schritte weiter bergauf, das San-Diego-Café – Disco, Kneipe, Kulturhaus: Das alles zusammen bildet das Wurzelchakra, also Fruchtbarkeit und Erotik; und selbst die Pflanzenkläranlage (gebaut auch als Pilotprojekt für die neuen Bundesländer), das „Ausscheidungsorgan“ steht hier richtig. Restaurant, Hotel und Kräutergarten zur Linken liegen auf dem zweiten Chakra – könnte Verdauung irgendwo besser funktionieren? Weiter geht es mit Solarplexus und Herzchakra: dazu gehen wir die drei Stufen zur Universität hinauf, werfen einen Blick in Aula, Bibliothek und Musikstudio. Im Laufe der Jahre hatte die ZEGG-Universität verschiedenste Referenten zu Gast, die in ihrem Bereich an gewaltfreien Strukturen forschen, z.B. Peter Caddy, Ernest Borneman, Rudolf Bahro, Rupert Sheldrake, Dhyani Ywahoo, Domenica Niehoff, Swift Deer und natürlich immer wieder Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels, die Gründer des Projekt Meiga.

Gäste- und Seminarräume lassen wir jetzt links liegen und schreiten durch den knirschenden Kies zum Dorfplatz – all das zusammen ist drittes und viertes Chakra, der lebendige Mittelpunkt des Platzes. Unter der Trauerweide hindurch folgen wir nun dem Weg zur weißen Baracke, wo die Menschen von Verlag und Zeitschrift arbeiten. Davor und dahinter finden wir die Künstler in ihren Freiluftateliers und an ihrer Feuerstelle. Beides entspricht dem Kehlkopfchakra und somit ihrem wahren Zweck: Kommunikation und Ausdruck. Das angrenzende Braunkohle-Heizwerk, vorher größter Luftverschmutzer des Ortes, wurde inzwischen in eine umweltfreundliche Abfallholzfeuerung umgerüstet.

Zum „dritten Auge“ haben wir es nun nicht weit. Es liegt genau im Zentrum des rund gepflasterten Campus. Die Tafel hier zeigt auf einer fünf Meter hohen Fläche die „Zwölf Thesen für eine gewaltfreie Kultur“ von Dieter Duhm.

Hier auf dem Campus finden Rituale wie Erntedank statt, gemeinsame Gesänge und Morgeneinstimmungen, für die Kids ist es Skateboardbahn, für besonders Phantasiebegabte ein UFO-Landeplatz: genau richtig für das Chakra der Wahrnehmung. Das Kronenchakra schließlich reicht vom Wohnblock bis zum Platz der Stille, und dort, im Garten für Alleinsein, Schweigen und Meditation, zwischen Wald- und Permakulturgarten, zwischen Tonskulpturen und Gewächshaus, endet dieser „geomantische Rundgang“.

Jetzt besuche ich noch einmal das Kronenchakra, will sagen, den Wohnblock. Hagara erklärt die Zusammenhänge zwischen Öffnung des Muttermundes und empfohlenem Atemrhythmus. Viele sehen müde aus, sie haben die halbe Nacht hier gewacht. Es ist vier Uhr nachmittags, und es wird noch ein wenig dauern.

Das ZEGG – eine Erfolgsbilanz? Nicht ganz. Fünf Jahre ZEGG bedeuten auch fünf Jahre schöpferische Dauerkrise. Projekte mußten abgebrochen werden, Entscheidungsstrukturen wurden verändert, neue Wohnformen ausprobiert, Gemeinschaftsrituale, die eine Zeitlang funktionierten, verworfen. Es gab einen mehrjährigen Prozeß der Selbständig-Werdung. Dieter Duhm, der das Projekt ins Leben gerufen hatte und lange Zeit geistiger Mentor war, hat nie hier gelebt. Es dauerte Jahre, bis im Mittelpunkt des ZEGG eine Gemeinschaft aus Menschen entstanden war, die ihre eigenen Visionen formulierten, dafür Verantwortung übernahmen und sich darüber verständigen konnten. Da sind vor allem Dolores Richter, Kastor Stein, Bori Kovats, Sarah Vollmer, Bill Nickl zu nennen, sicher auch noch viele andere. Bill kam von der Ökologie und wechselte zur Kunst. Bijou sieht ihre Lebensaufgabe darin, Kindern eine Heimat zu schaffen. Karsten liebt zunächst einfach die Frauen. Katharina tut das ebenfalls und genießt die Möglichkeit, zwischendurch auch einmal mit einem Mann zusammenzukommen. Wam ist langjähriger Friedensaktivist und arbeitet an der Frage: Was ist geiler als Gewalt? Katja ist Gemeinschaftsmensch aus Leidenschaft – rundum und ohne Einschränkungen. Brigitte ist eine Krankenschwester, die es leid hatte, die Symptome einer schwachsinnigen Lebensweise zu reparieren – und stattdessen direkt an der Heilung der Erde arbeitet. Sibylle ist eine, die mit Pflanzen spricht. Bruno programmiert Computer und möchte die weltweite elektronische Vernetzung eines Tages durch telepathische Vernetzung ersetzen.

„Bahnhof der neuen Eroberer“, so ließe sich das ZEGG auch benennen. Ein Bahnhof für Ideen, Menschen, Projekte. Ein „Durchlauferhitzer“, in dem die hohen Temperaturen auch für die Intensität von Gefühlen und Auseinandersetzungen stehen.

Im Laufe dieser Auseinandersetzungen sind eine Anzahl sehr zentraler Personen aus dem ZEGG ausgezogen. Mit dem fürs ZEGG typischen Sinn für trockenen Humor akzeptierte man schließlich, daß Krisen und Chaos zu einem sozialen Experiment dazugehören.

Fast alle ZEGG-Bewohner leben heute in kleineren Wohngemeinschaften zusammen. Auch die Kinder haben sich inzwischen aufgeteilt und leben dort mit ihren Eltern, anfangs hatten sie es vorgezogen, unter sich im Kinderhaus zu wohnen. Einige dieser Wohngruppen essen auch zusammen, haben ein gemeinsames Forum, sind ein gemeinsames Team, z. B. für Garten oder Verlag. Finanziell zahlt jeder einen Beitrag für Miete und Verpflegung. Ein Teil ist eingestellt vom ZEGG und kann das Geld dadurch aufbringen. Andere sind freiberuflich oder in einer der im ZEGG ansässigen Firmen angestellt. Wieder andere verlassen das ZEGG immer wieder, um anderswo zu jobben. „Sicher kein dauerhafter Zustand,“ sagt eine ZEGG-Bewohnerin. „Aber im Moment ist mir der Wechsel von Gemeinschaftsleben und Stadtleben ganz angenehm.“ Insgesamt trägt sich das ZEGG durch Mieteinnahmen und Tagungen und Seminare. Die finanziell oft angespannte Situation ist häufig Thema.

Zweimal in der Woche trifft sich das ZEGG zum Plenum, wo man sich gegenseitig über Termine und Gemeinschaftsvorgänge informiert. Hier werden auch die Entscheidungen bekanntgegeben und eventuell revidiert, die in den Gremium vorbesprochen wurden. Diese Gremien gibt es zu verschiedenen Themen wie Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit, Geländegestaltung und sie sind offen für alle Bewohner. Einmal in der Woche – mindestens – ist Forum für alle. Forum kann alles sein: Von Speaker´s Corner über Dinge, die man der Gemeinschaft unbedingt mitteilen will, bis hin zu künstlerisch dramatischem Rollenspiel. Es ist ein Theaterstück, wo die Grenzen von Publikum und Darstellern fließen und wo das Thema die eigene Situation oder die eigenen Gedanken sind. Die Teilnehmer sitzen im Kreis, wer etwas sagen oder darstellen will, geht in die Mitte und versucht, so authentisch und intensiv wie möglich zu sein. Übertreiben und Einseitig sein ist erlaubt; und manchmal dient auch die schöpferische Lüge der Wahrheit mehr als blanker Naturalismus. Nach jedem Beitrag gibt es Applaus wie im Theater; und wer will, kann aufstehen und einen Kommentar geben. Oft wird das Forum durch Musikeinlagen, Verkleidungen und andere künstlerische Effekte begleitet; es kann aber auch ganz nüchtern und trocken sein.

„Wenn wir das Forum nicht gehabt hätten,“ sagt Kastor, „würde es diese Gemeinschaft nicht mehr geben. Es ist eine Notwendigkeit, mit Spaß, aber auch mal ernst, sich so wahrhaftig wie möglich zu zeigen und kennenzulernen – und zu merken, daß es dann keine Verurteilung durch die anderen gibt.“

„Ohne Forum würde es meine Beziehung nicht mehr geben,“ sagt Karola. „Wir wären längst auseinandergegangen, entweder aus Eifersucht oder aus Unverständnis. Denn es gibt Situationen, in denen man zu zweit einfach nicht weiterkommt. Da kann das offene Ohr der Gemeinschaft ganz schön wichtig werden.“

Überhaupt Eifersucht. Die meisten ZEGG-Bewohner haben mehr als einen Partner. Wie geht man mit Eifersucht um? Anne: „Wenn ich eifersüchtig bin, dann liegt es meistens daran, daß ich vergessen habe, was ich an mir selbst liebe. Dann besinne ich mich am besten auf andere Quellen, meine Arbeit z.B. Wenn ich mich dann wieder angenabelt habe, kommt auch der Kontakt zum Geliebten wieder ins Lot. Allgemein ist Eifersucht hier im ZEGG nicht so dramatisch ist wie anderswo. Wenn sich der Geliebte in eine andere verliebt, muß ich ja nicht fürchten, daß er ganz weggeht, daß ich meinen ganzen Freundeskreis und meine halbe Existenz verliere. Meistens bleibt er in der Gemeinschaft – und dann, im Lauf der Zeit, gibt es die Chance, daß die Liebe wieder neu aufflammen kann. Das passiert oft.“ Freie Liebe ist eine Tautologie: Wirkliche Liebe ist immer frei.

Die Frauen im ZEGG erscheinen Besuchern oft als ungewöhnlich stark. Diese selbst bezeichnen ihre wachsende Verantwortungsbereitschaft und ihre Verständigung untereinander als beginnendes „Frauenfeld“. Monika Alleweldt dazu: „Es liegt an uns, die weiblichen Qualitäten zu entwickeln, die jetzt politisch und sozial so dringend gebraucht werden: Mitgefühl und Anteilnahme, Verbundenheit mit aller Kreatur und der Schöpfung, spirituelles und sexuelles Wissen, Fürsorge und Pflege.“ Die Frauen treffen sich einmal pro Woche für einen extra Frauenabend, um sich auszutauschen.

Daß das ZEGG Liebe und Sexualität als Thema Nr. 1 benennt, mußte in der Öffentlichkeit zu Reaktionen führen. Die kirchlichen Sektenbeauftragten erhoben die Zeigefinger, Belzigs Bewohner waren entsetzt. Es startete eine zähe Hetzkampagne gegen ein provozierendes Projekt. Auch Teile der Frauenbewegung kritisierten die sexuelle Offenheit im ZEGG heftig.

„Das Schlimmste ist,“ sagt Bori Kovats, „daß uns durch diese Kampagne gegen das ZEGG die öffentliche Stimme entzogen wird. Wenn es immer gleich heißt: Die sind ja sowieso eine Sekte, dann hört man auch nicht hin, was wir zu sagen haben. Für uns ist die ganze Sektennummer ein sehr moderner und gewiefter Kampf gegen oppositionelle Gruppen. Bloß, daß man nicht mehr mit Verbot und Strafe vorgeht, sondern mit Rufmord. Wir haben keine rechtliche Handhabe, weil die Hetze als freie Meinungsäußerung gilt. Alles, was wir tun können, ist zu informieren – immer wieder und wieder.“

Jetzt sind die Presswehen da. Emile, der Vater, strahlt wie an Weihnachten. Später wird man über seine teilweise übermenschlichen Kräfte sprechen, mit denen er Dolores Stunde um Stunde gestützt hat. Die Hebamme gibt Kommandos. Heike, Ina, Rotraut, Bori – die anderen im Zimmer hecheln den Atemrhythmus mit, um die Geburt zu unterstützen. Vor der Balkontür und auf der Wiese stehen und sitzen inzwischen über zwanzig Menschen. Wir singen – das beruhigt uns und enstpannt und harmonisiert die gesamte Situation. Man sieht schon den Hinterkopf des Babys. Bei der nächsten Wehe kommt der Kopf schon halb heraus – und schlüpft wieder zurück. Die Geburt dauert nun schon über zwanzig Stunden. Es ist halb elf.

Unter was für Schmerzen und Anstrengung ein Mensch zur Welt kommt! Aber zwischen den Wehen wird auch gelacht und gescherzt im Geburtszimmer. Und dann ist er da: Der Kopf, und dann flutscht der ganze Körper heraus. Aus vielen Kehlen kommt ein „Aaaah!“ Ein großer Kerl, fast vier Kilo wird er auf die Waage bringen, das erste ZEGG-Kind, ein Junge namens Manuel. Es ist drei Minuten vor elf. Und sofort läßt er seine kräftige Stimme hören. Die Hebamme saugt ihm den Schleim aus Mund und Nase und legt ihn Dolores auf den Bauch. „Komm, wir singen noch was,“ sage ich zu Hagara, die hinter mir steht. Und wir singen das Lied von der afrikanischen Wassergöttin; und das Wasser steht uns allen in den Augen.

 

 

aus ICH Frühling 97