Lebensgarten Steyerberg: ein lebendiges Chaos

von Ulrike Feher 

Das Charakteristische am Lebensgarten ist vielleicht, daß sich dieses lebendige Chaos schwer ,,festschreiben“ läßt, oder anders ausgedrückt, hat mal jemand auf die Frage, was denn der Lebensgarten sei, geantwortet: ,,Lebensgarten? Der muß jeden Tag neu erfunden werden!“ Für diejenigen, die noch nie von uns gehört haben, sind wohl ein paar nüchterne Fakten angebracht:

Das Ganze spielt sich in einer in der Nazizeit erbauten Reihenhaussiedlung abseits des Dorfes Steyerberg (wenige Kilometer von der Weser und dem Naturpark Steinhuder Meer gelegen, – A.P.) ab. In der Mitte des Geschehens das Herz der Gemeinschaft: Die Gemeinschaftsgebäude – riesig, erst zur Hälfte renoviert. Es gibt da z. B. bisher: die Kindergruppenräume, die Gemeinschaftsküche, Seminarräume, einen internen Bio-Laden (zu dem jede/r einen Schlüssel hat), ein Gemeinschaftswohnzimmer, einen Buchladen, einen Kreativraum, ein Ökodorf-Archiv, einen Meditationsraum, Büros, eine Schmuckwerkstatt, eine Kerzenwerkstatt, Anfänge einer Tischlerei, einen Theaterdachboden.

Außerdem gib’s ein schönes Seminarhaus, das gerade umgebaut und erweitert wird, einen biologischen Baustofffhandel, einen Edelsteinladen, ein Elektroauto, zwei Schwitzhütten, ein angefangenes Baumhaus, eine ,,Kneipe“, in der sogar geraucht und getrunken wird (wenn sie auf hat), eine Kapelle mit Bildern von allen möglichen mehr oder weniger Heiligen (da steht Jesus neben Yogananda neben Osho neben Sai Baba und jemand hat auch mal Nietzsche dazu gestellt) und guter Akustik, ein Permakulturprojekt mit behördlich genehmigten Bauwagen, Hunde, Katzen, ein paar zahme Ratten, 3 Pferde und viele nette Menschen.

Wir sind ungefähr 60 Erwachsene – davon knapp zwei Drittel Frauen – und etwa 35 Kinder (,,ungefähr“, weil’s gar nicht so leicht ist, zu sagen, wer nun so richtig dazugehört und wer nicht und weil eigentlich immer eine schwanger ist und ich jetzt keine Lust habe, neu zu zählen …).

Wir sind keine richtige ,,Kommune“ – jede/r ist eigenverantwortlich, ökonomisch unabhängig und zu nichts verpflichtet. Die Häuser sind zum größten Teil gemietet. Die Käufer der zehn Jahre lang leerstehenden Siedlung, die ursprünglich eine Ferienhauskolonie für Berliner planten, initiierten 1984 unter der Überschrift ,,Fantasie und Toleranz“ eine spirituell-ökologisch orientierte Siedlungsgemeinschaft, die zunächst stark durch die schottische ,,Findhorn-Community“ beeinflußt war.

Nachdem in den ersten Jahren die Renovierung der ziemlich heruntergekommenen Häuser im Vordergrund stand, entwickelte sich in letzter Zeit ein Seminarbetrieb größeren Ausmaßes. Auf diese Art und Weise sind mehr und mehr Lebensgärtner/innen in der Lage, sich ihre Vollkornbrötchen ,,auf dem Platz“, d.h. an Ort und Stelle zu verdienen. Einige arbeiten aber auch ganz ,,normal“, z. B. als Sozialpädagoge, Altenpflegerin, Krankenschwester usw. Durch die bauliche Struktur gibt’s wenig Wohngemeinschaften; die Kleinfamilie oder ähnliche Konstellationen und alleinstehende Frauen mit Kindern sind in der Überzahl. Neue haben’s schwer – wir haben eine lange Warteliste und sind randvoll. Besucher/innen sind einmal im Monat zu einer Führung willkommen – ansonsten hätten wir täglich unter dem ,,Zoo-Effekt“ zu leiden.

Wir – das ist ein bunter Haufen ,,aus den verschiedensten spirituellen, politischen, sozialen und ökologischen Himmelsrichtungen“. So steht’s im Seminarprogramm. ,,Doch uns allen gemeinsam ist die Beschäftigung mit dem (Spannungs-)Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft … Und so suchen wir in dieser Gemeinschaftsschule nach Wegen, zusammen spielen und arbeiten, lachen und weinen, tanzen, meditieren, denken und fühlen zu lernen.“

Es gibt etliche, die meinen, das wäre zu wenig. Sie kritisieren unsere Unverbindlichkeit –  alles ist freiwillig: Ob ich zum Bewohner/innentreff gehe oder nicht, ob ich mit den anderen zusammen (leckere Vollwertkost aus der Gemeinschaftsküche) esse oder allein, ob ich ,,nur“ hier wohne oder mich beteilige, ob ich in den Verein eintrete oder austrete – ich entscheide, wieviel Gruppe, wieviel Gemeinschaft, wieviel Alleinsein oder wieviel ,,Zweierkiste“ ich jetzt gerade leben möchte.

Einige behaupten, wir wären gar keine Gemeinschaft, sondern eine ganz unterhaltsame, nette, unpolitische Ansammlung von NachbarInnen, deren geistiger Horizont bis zum nächsten Therapie-Wochenende reicht. Oder wie Achim auf der ,,Schattenseite“ unseres vorletzten Programms feststellte: Der Lebensgarten ist ein riesiger subventionierter Spielplatz für Erwachsene. Jeder darf – keiner muß – aber wer meint, er muß, darf auch: spielen – seiner Macke folgen und dieses Spiel tierisch ernst nehmen. Bis es uninteressant wird – es gibt noch so viele Spiele. Der Lebensgarten ist für mich ein soziales Experiment, eine permanente Selbsterfahrungsgruppe, ein Labor ohne Laborant, wo sich die Chemikalien selbständig gemacht haben und alles Mögliche und Unmögliche ausprobieren … Es gibt aber keine bewußten Experimente und keine gemeinsame Auswertung, also keine kollektive Bewußtwerdung. Statt dessen gönnt man jedem seinen Spleen und pflegt den eigenen … Letzten Endes verpufft aber alles Gemeinschaftliche in der Reduzierung auf das Individuum, um welches sich alles dreht – auch in den Seminaren. Erkenne dich selbst – bis zum Ende der Welt.

Ich nenne diese ,,Unverbindlichkeit“ meine Freiheit. Mag sein, daß es mit meiner Biographie zusammenhängt: Nach einer äußerst ,,verbindlichen“ Familienstruktur, nach Schule, Uni, Arbeit und -zig Wohngemeinschaften mit ,,verbindlichen“ WG-Sitzungen, lassen mich die ernsten Beschwörungen in bezug auf Verbindlichkeit, Verantwortlichkeit und was wir als Lebensgarten alles müßten und sollten, kalt. Ich genieße es, mich jeden Tag ohne Gruppendruck und Schuldgefühle frei entscheiden zu können, wieviel Gemeinschaft ich leben will. Was nicht heißt, daß ich nicht von Zeit zu Zeit – und manchmal sogar jahrelang – Verantwortung übernehme. Aber ich bestehe darauf, es dann und so zu tun, wie’s mir entspricht. Um mit meiner ganzen Lust und Liebe bei der Sache zu sein, brauche ich Freiheit.

Das ist in der Gemeinschaft nicht anders als in jeder Beziehung – ich engagiere mich nicht mit ganzem Herzen, wenn ich mich verpflichtet fühle, wenn’s von mir erwartet wird, wenn die Alternativ-Lorbeeren winken, sondern bin dann voll da, wenn’s mir Spaß macht, ich in meinem Element bin, ja gar nicht anders kann, als meinem Gefühl zu folgen. Und – ich spüre trotz aller Unverbindlichkeit Verbindung – und das ist, wenn man so will, meine Vision, mein Ideal: eine Gemeinschaft von Freunden und Freundinnen, die sich vom Herzen her verbunden fühlen. Oft ist es da, wenn ich über unseren Platz gehe und hier und da jemand begegne – so ein warmes, feines Spinnennetz, das mich begleitet, auch wenn natürlich bei soviel Leuten die Drähte unterschiedlich stark zueinander sind und jede/r auch immer seinem derzeitigem Lieblingsfeind/in hat. Aber letztendlich – und da sind wir uns wirklich mal ausnahmsweise alle einig – sind wir uns darüber bewußt, daß wir unsere Wirklichkeit schaffen und daß alle unsere Erfahrungen in der Gemeinschaft nur widerspiegeln, was in uns ist.

Danaan Parry, der amerikanische Konfliktforscher, hat’s sinngemäß so ausgedrückt: Gemeinschaft ist der Ort, wo du hingehst, um deinen Problemen zu entkommen, um ihnen dann früher oder später wieder genau da ins Gesicht sehen zu müssen. So gesehen ist Gemeinschaft für mich ein ,,Dampfkochtopf“ für meinen Entwicklungsprozeß. Oder wie unser ,,Haustherapeut“ sagt: Gruppe ist Nachbrüten – und wer kann schon von sich behaupten, er wäre fertig und ausgeschlüpft in voller Größe?!

Natürlich gibt’s Zeiten, wo auch ich unsere ,,Buntheit“ als unzusammenhängendes Wirrwarr empfinde. Als ich z.B. die Kindergruppe geleitet habe und all die zig verschiedenen Ansprüche und Ideale der verschiedenen Elternteile unter einen Hut bringen wollte, ohne mich dabei aufzuopfern und zu verlieren. Oder als ich im vorletzten Jahr auf einmal nur mit einer Handvoll ,,eiserner“ Lebensgärtner/innen vorm großen Sommerfest stand, weil die eine Hälfte Urlaub von der Gästeflut auf Mallorca machte, während die andere sich auf dem Sommercamp einer anderen Gemeinschaft amüsierte. Aber letztendlich weiß ich, daß ich in diesen Situationen meine ,,Trips“, meine Muster und Konditionierungen zu begucken habe.

Für viele, die mit der Sehnsucht nach Wärme, Geborgenheit und kuscheligem Wir-Gefühl in den Lebensgarten kamen, gab’s erstmal ein böses Erwachen: Gerade in den letzten Jahren, wo die feurige, zusammenschweißende Euphorie des Anfangs und der Pionierzeit vorbei war, machte sich bemerkbar, daß es bei so wenig fester Gruppenstruktur und vorgegebenem Halt allein auf mich ankommt. Ich muß gucken, zu wem ich was empfinde, was ich wie leben will, wen ich wie oft sehen, spüren oder sprechen will und das ist nicht einfacher als ,,draußen“. Die Erfahrung, daß ich von ,,Mama“ Gruppe nicht mehr Geborgenheit und Nähe bekomme, als ich bereit bin zu geben und zu riskieren, ist kein Sonntagsspaziergang. Und wie in jeder Liebesbeziehung und Freundschaft geht’s auch um das empfindliche Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz, um Vertrauen und Offenheit, um Mut, mich zu zeigen, mit all meinen Bedürfnissen, Wunden, Verletzlichkeiten, Schattenseiten – und mit all meiner Kraft und Schönheit: Ein Garten wird schön durch die Farbe und den Duft jeder einzelnen Pflanze und meinetwegen darf er auch ruhig ein bißchen chaotisch sein!!

Nach den einschlägigen Forschungsergebnissen in bezug auf den Erfolg und die Langlebigkeit von Gemeinschaften, dürfte es uns nicht mehr geben: Es fehlt eine gemeinsame starke Ideologie/Religion. Und Monika, die inzwischen den Lebensgarten verlassen hat, meinte: ,,Seine große Stärke, die Toleranz, ist zugleich seine große Schwäche“. Es gab und gibt Lebensgärtner/innen, denen wir nicht eindeutig, nicht klar genug sind, die unsere ,,Botschaft“ vermissen. Und die gehen dann irgendwann – zu den Sefis, zu den Christen, zu Maiga … Da ist klar, woher der Wind weht und in welche Richtung die Fahne flattert. Sicherlich ist die ideologische/ spirituelle Gemeinsamkeit eine Erleichterung für’s Zusammenleben. Ich möchte unsere spirituelle Vielfalt nicht dagegen tauschen. Ich mag die vielen verschiedenen Ansätze und Anregungen, die hier zusammenkommen, genieße die Schwitzhütte, die sacred-dances a la Findhorn, die Zendo, das Osho-Video und daß es von jeder ,,Sorte“ ein paar gibt, so daß ich meine kleine Gemeinschaft in der Gemeinschaft leben kann, wenn ich will.

Ist der Lebensgarten nun für mich der Weisheit letzter Schluß, die Endstation oder wie ich mal in einem Interview gefragt worden bin: ,,Kannst du dir vorstellen, hier alt zu werden?“ Ich bin da nicht so sicher – ich bin zigmal umgezogen und von Natur aus eher eine, die immer unterwegs ist … Manchmal träume ich von mehr Platz, einer schöneren Landschaft, einer kleineren Gruppe, manchmal habe ich die Nase voll von Gruppe überhaupt … Und doch kann ich Achim zustimmen, wenn er schreibt: ,,Der Lebensgarten ist für mich immer (noch) das interessanteste real existierende Gemeinschaftsexperiment. Was der Lebensgarten für mich noch ist? Ein Arbeitslager, eine Idylle, ein Stück Zuhause, der Keim zum Lustgarten … die größte Projektionsfläche, die eine durchschnittliche Psyche heutzutage finden kann, ein Irrenhaus, eine Lebensschule, ein Abbild der Gesellschaft, ein Kindergarten, eine Ansammlung von Heiligen, die langsam erkennen, daß sie Menschen sind, hundert bunte Blumen, die nicht wissen, was eine Wiese ist …“

Ich glaube, es liegt da auch an der Perspektive: Vielleicht sieht man manchmal die Wiese vor lauter Blumen nicht? Für mich ist’s jedenfalls der Nährboden, den ich zur Zeit zum Wachsen brauche.

 

 

aus ICH 3/ 92