von Detlef Balke
Stichwort Kibbuz: Heute gibt es 275 derartige Gemeinschaftssiedlungen in Israel, mit Einwohnerzahlen zwischen 100 und 2.000. Ca. 175.000 Menschen, 2,7 % der jüdischen Israelis, sind kollektive Eigentümer und Mitglieder von Kibbuzim. Sie produzieren einen großen Teil der industriellen und landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Landes. Organisiert sind die Kibbuzim in drei Verbänden, jeder mit seiner eigenen historischen und ideologischen Eigenart. Der größte ist der sozialdemokratische TAKAM (etwa 60 % der Kibbuzbevölkerung), gefolgt vom stärker linksorientierten Kibbuz HaArzi (32 %) und schließlich der politisch rechten religiösen Kibbuzbewegung (8 %).
Die Kibbuzim sind nicht das einzige, aber das konsequenteste kollektive Produktions- und Siedlungsmodell in Israel. Die Geschichte dieser Projekte ist nahezu 100 Jahre alt. Je nach politischer Prägung werden sie entweder als gesellschaftliches Symbol oder als ein eher beiläufiges Phänomen der Geschichte des Staates Israel behandelt.
Der Kulturwissenschaftler Detlef Balke reiste 1991/ 92 zum ersten Mal nach Israel: „auf der Suche nach einem großen Traum“. Die Kibbuzim erschienen ihm wie „sozialistische Inseln in einem kapitalistischen Meer: Offen, mit ungeschützten Ufern, sind sie in der Gefahr von diesem Meer verschlungen oder zu Reservaten sektiererischer Weltverbesserer zu werden.“ Heute, etliche Israel-Aufenthalte später, versucht er, eine Bilanz zu ziehen.
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Von der Stadt aufs Land
Vor ca. einem Jahrhundert begann die zionistische Revolution, die aus dem zerstreuten jüdischen Volk eine Nation schaffen sollte. Ihr Ergebnis ist Israel.
Die zionistische Bewegung litt anfänglich jedoch unter einem deutlichen Mißverhältnis zwischen ihrem proklamierten Anspruch und dem realen Tun. Das unterentwickelte Palästina, eine vernachlässigte Provinz am Rande des Osmanischen Reiches, konnte nur eine kleine Anzahl der Einwanderer aufnehmen. Und auch sie blieben lange Zeit von außen abhängig. Dazu kam, daß ihre mühsame Existenzsicherung keine Perspektiven für die Vielen eröffnete, die nun vor allem aus Osteuropa und Rußland kamen bzw. kommen sollten.
Eine Mischung von Pragmatismus, Idealismus, kollektivistischer Praxis und sozialer Utopie führte ab 1909 zur Gründung kollektiver Siedlungen mit gemeinschaftlicher Produktion, die Kvuza (Gruppe) oder Kommuna (Kommune) genannt wurden.
Diese Gemeinschaften folgten und folgen auch heute nicht einem allgemein verbindlichen ideologischen Konzept (siehe Kasten). Ihre übergroße Mehrheit verstand sich jedoch als sozialistisch. Aber ihr Sozialismus schöpfte aus verschiedenen Quellen und ist mit den Namen St. Simon, Fourier, Owen, Proudhon, Kropotkin, Tschernyschewski, Lawrow, Landauer, Marx und Borochow und mit dem Vorbild der Pariser Kommune verbunden.
Kommunistische Produktions- und Verteilungsprinzipien waren in vielen Gruppen jüdischer Einwanderer bereits geläufige Praxis. Neu war vor allem die örtliche Bindung. Und aus den Erfordernissen ihrer kollektiven Produktions- und Lebenspraxis entwickelten sich schließlich weitere „linke“ Normen und Vorgehensweisen, wie z.B. die kollektive Kindererziehung oder das kommunistische Leistungsprinzip. All das trug dazu bei, daß die Kvuza als „Arbeiterrepublik“ bespöttelt, bewundert und verachtet wurde.
Hierher kamen fast ausschließlich junge Leute, unerfahren und voller Ideale. Nach ihremVerständnis war Zionismus eine revolutionäre Bewegung, vor allem, weil er die Wiedergeburt der Juden als Volk bedeutete. Die Elite dieses Volkes wollten sie selbst sein, als Chaverim (von Chaver: Genosse, Freund) und als besitzlose und eigentumslose Arbeiter, die das Fundament der neuen Gesellschaft schaffen. Gleichheit, die Überwindung des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Mann und Frau, zwischen Stadt und Land, waren ihre Ideale, Arbeit ihr Mittel zu Gewinnung einer neuen Identität.
Die Kvuza wurde als Alternative gesehen zur bloßen sozialen Integration in die bestehende palästinensische Gesellschaft, als geeignete Form, sowohl jüdische als auch praktisch solidarische Beziehungen zu gestalten. Aus dem toten Hebräisch der Synagogen und der Schriften machten sie wieder eine lebendige Sprache, in der sie auch für ihre mitgebrachten russischen Lieder neue Texte fanden. Die jüdischen Feiertage entkleideten sie ihrer religiösen Gewänder und feierten sie als jahreszeitliche Feste.
In den 20er Jahren begann der Wandel von Kvuza zum Kibbuz. Der Begriff Kibbuz (Sammlung) betonte die Größe dieser Gruppe und die soziale Perspektive dieses gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens.
Kibbuz war aber nicht nur eine quantitative Erweiterung ihrer intimen Gemeinschaft, sondern stand auch für Ausweitung und Differenzierung der Produktion, und überhaupt für das Potential der Arbeiter, unabhängig von ihrem Wohn- und Arbeitsort. Kibbuz war deren landesweite Organisation und das Ideal der künftigen Gesellschaft, die den Staat überwinden sollte.
In den 30er und 40er Jahren wurden die Kibbuzim zunehmend mit den nationalen Interessen der jüdischen Gemeinschaft in Palästina identifiziert. Sie übernahmen die aktive Rolle bei der Erweiterung und der Sicherung des jüdischen Siedlungsgebietes. Ihre Einwohner, die Kibbuznikim, verzichteten auf Wohlstand und trugen die Last der Integration der europäischen Flüchtlinge. Trotz ihrer Vorstellung von einer kommunitären Gesellschaft setzten sie die Grenzpfähle für den kommenden Staat, übernahmen in der Gewerkschaft und der Exekutive der zionistischen Weltorganisation, in der Verteidigung Verantwortung. Aber 1948 – mit der Staatsbildung – wurde ihr Einfluß beschnitten.
Die einsetzende Masseneinwanderung nach Gründung des Staates Israel, die neben den Überlebenden aus Europa auch Hunderttausende orientalischer Juden nach Israel führte, änderte das demographische und kulturelle Gesicht des Staates. Die meist „weißen“ Kibbuznikim und die eher konservativen, als „Schwarze“ bezeichneten Orientalen standen sich fremd gegenüber.
Und mit dem wachsenden Bewußtsein, daß sich Israels zionistische Mission erfüllte, daß es nunmehr ein Staat unter anderen Staaten sei, setzte auch in den Kibbuzim eine Identitätskrise ein. Sie erreichte einen Höhepunkt nach dem Regierungswechsel von 1977: Nach 50 Jahren sozialistischer Rhetorik und sozialdemokratischer Praxis entschied sich Israel für einen bürgerlichen Neuanfang.
Auch die Modernisierung der Wirtschaft forderte ihre Opfer. Anstatt ihre alternative soziale Position auszubauen, setzten die Kibbuzim auf den Wirtschaftsboom im Gefolge des Krieges von 1967. Sie nahmen langfristige Kredite auf, investierten in die lang entbehrte Konsumtion, spekulierten an der Börse. Die unausbleibliche Wirtschaftskrise und die Inflation türmten astronomische Schulden auf.
Heute sind die Kibbuzim als wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft zersplittert. Ihre Bindung an die nationalen Kibbuzbewegungen ist praktisch ohne Belang, obwohl einige zentrale Forschungs-, Bildungs- und Kultureinrichtungen der Kibbuzbewegungen weiterbestehen. Mit dem faktischen Ende der gesamtnationalen Kibbuzorganisationen wurde das wirtschaftliche Überleben immer mehr zur Angelegenheit der einzelnen Kibbuzim. Regionale Zusammenarbeit löst den früheren Zentralismus ab. Dabei wächst der Abstand zwischen reichen und armen Kibbuzim.
Insbesondere die einst sozialistisch gesonnenen Bewegungen haben seit dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ Identitätsprobleme. Die linken Kibbuznikim verstanden sich zwar bereits seit der fortschreitenden „Stalinisierung“ der Sowjetunion, Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre, ausdrücklich als einzig wahre Kommunisten. Und im Kibbuz sahen sie Israels Alternative zum sowjetischen Modell, denn Kibbuz war konkreter Beweis, daß Demokratie und Sozialismus sich idealerweise ergänzen. Doch mit dem Scheitern des Realsozialismus verschwand auch ein Maßstab, an dem sich der Kibbuz messen konnte.
Allerdings waren von der totalen Basisdemokratie der ersten Kibbuz-Phase ohnehin immer mehr Abstriche gemacht worden. Äußeres Zeichen: Der Speiseraum, in dem früher kollektiv über alles Wichtige und Unwichtige entschieden wurde, entwickelte sich zur Kantine.
Die Mitgliederversammlung blieb zwar das höchste Gremium im Kibbuz, doch viele Entscheidungen, z.B. über Investitionen, die die Experten hier zur Abstimmung vorlegen, können von den Kibbuznikim kaum noch nachvollzogen werden. An den Versammlungen nehmen dementsprechend nur noch wenige teil. Auch ihre Übertragung im Kibbuz-TV ändert daran nur wenig. Statt der Mitgliederversammlung wurde daher in großen Kibbuzim die Repräsentantenversammlung eingeführt und die öffentliche Abstimmung vielfach durch die Wahlurne ersetzt.
Auch dramatische Spaltungen und Ausschlüsse von Mitgliedern gehören zwar zur Kibbuzgeschichte, aber kaum noch zu deren Gegenwart. In der oft schon vierten Kibbuz-Generation ist der asketische Purismus und die ideologische Rígorosität der einstigen Gründer vergangen. Unfähig, Druck gegenüber unwilligen Mitgliedern auszuüben, wird der Kibbuz gelähmt und zum Hemmschuh für die Engagiertesten, die ihre Bildung der Gemeinschaft verdanken und sie zu verlassen drohen. Entscheidungen werden aufgeschoben bzw. nicht vollzogen.
Auch das alltägliche Zusammenleben hat sich deutlich verändert. War anfangs jede Spur von Privatheit verpönt, gilt inzwischen längst die Familie als gleichberechtigte Säule der Sozialisation. Und ihre Rolle nimmt weiter zu. Die Kleiderkammer des Kibbuz, aus der man sich einst einkleidete, wurde Nähstube und Waschsalon und den Gemeinschaftsbesuch eines Konzertes löste ein Kulturbudget ab.
Schritt für Schritt ist der Kibbuz also „auf dem Weg in die Gesellschaft“. Gegen diese Tendenz regt sich Widerstand. „Kibbuz Tamid“ (Kibbuz für immer) oder „Ruach Acheret“ (Ein anderer Geist) heißen die entsprechenden Bündnisse und Plattformen, doch ihre Entpolitisierung steht schon jetzt nicht mehr in Frage.
Für die vielen neuen Fragen gibt es keine Antworten. Die Theoretiker erweisen sich als hilflos.
In diese Situation hinein wirkt die Vorstellung einer grundlegenden Reform – der Übergang in die Genossenschaft, die Einführung des Leistungsprinzips und der Differentiallöhne – für viele wie die Erlösung. Erhöhung der Effizienz heißt die Botschaft. Doch sie macht auch Angst, denn sie bedeutet das Ende der gewachsenen Gemeinschaft. Läßt sich das gemeinschaftliche Eigentum bewahren, die gesundheitliche Betreuung, die Kindererziehung, die Bildung und die Altersversorgung? Auf jeden Fall sind die neuen Maßstäbe ökonomische. Individuen werden dann auch im Kibbuz den Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfen und auf ihren Tauschwert geprüft.
Allerdings, ein einheitliches Modell Kibbuz existiert auch heute nicht. 275 Kibbuzim bestehen gegenwärtig in Israel und damit vielleicht genauso viele Modelle dafür, was ein Kibbuz ist.
Pragmatiker
Der Kibbuz Urim ist festlich geschmückt. Bunte Fahnen wurden aufgezogen und wehen nun stolz im nicht enden wollenden Wind.
Vor 50 Jahren wurden in einer Nacht elf Kibbuzim im nördlichen Negev gegründet. Einer war Urim, erklärt mir Rani Schavit. Er selbst ist halb so alt und wurde noch in Sarid geboren, einem großen Kibbuz in Galiläa. Sein Vater stammt aus Erfurt und entkam 1933 nach Palästina.
Wie viele junge Kibbuznikim hat Rani die Welt gesehen. Erfurt hat er ausgelassen. Seinem hochgewachsenen Kollegen und Boss Itzik erklärt Rani, daß es sich dabei um ein kleines Dorf in der Nähe von Berlin handle. Rani nutzt gern die Gelegenheit, Weltläufigkeit zu praktizieren. Allerdings stimmt ihn der Anlaß der Nachfrage argwöhnisch: Warum um Himmels willen, seien die wenigen thailändischen Arbeiter derartig wichtig? Nach inoffiziellen Angaben ersetzen zwischen 50.000 und 100.000 Kontraktarbeiter aus Thailand und aus Rumänien in der israelischen Landwirtschaft und in der Bauindustrie Arbeitskräfte aus den Autonomiegebieten. Und nur 25 davon hat Urim selbst unter Kontrakt. Ihr Arbeitgeber sei auch nicht direkt der Kibbuz. Vielmehr haben drei benachbarte Kibbuzim ihre landwirtschaftlichen Arbeiten von der Produktion bis zur Vermarktung einem gemeinschaftlichen Unternehmen übertragen.
Es gäbe aber nichts zu verbergen, stellt er fest und weist auf drei Wohnwagen gegenüber der Wirtschaftsbaracke. Sie bilden einen kleinen staubigen Innenhof. Früher dienten sie als provisorische Unterkunft für Neueinwanderer aus der ehemaligen UdSSR und aus Äthiopien. Der massenhafte Bau von Wohnungen machte sie überflüssig.
Vor den Wohnwagen wächst Kohl und anderes auf selbst angelegten Gemüsebeeten. In den Speisesaal des Kibbuz gehen die Thailänder nicht. Die thailändischen Arbeiter regeln ihre Angelegenheiten unter sich, darum brauche er sich nicht zu kümmern. Zudem seien sie gern unter sich. Sie sind überdies fleißig und freundlich und anderen Arbeitern von draußen weit überlegen. Und sie sind billig. Ihre Arbeitszeit beträgt acht Stunden täglich. Bei sechs Arbeitstagen pro Woche erhalten sie den israelischen Mindestlohn von 1.000 Shekel (ca. 500 DM). Ein weiterer Vorteil sei, daß sie als Asiaten selbst im israelischen Völkergemisch leicht zu identifizieren sind. Niemand könne also illegal im Lande verbleiben.
Am Anfang gab es viele Diskussionen, ob sie die Thailänder aufnehmen sollten. Doch wo sei da der Unterschied zu anderen Lohnarbeitern, fragt Rani rhetorisch und ohne alle Ironie.
Nähere Beziehungen zwischen den thailändischen und den israelischen Jugendlichen ergäben sich sowieso nicht. Sexuelle Kontakte sind unvorstellbar. Hebräisch oder Kenntnisse über das Land, die israelische Geschichte, das zionistische Ethos der Arbeit nützten ihnen ohnehin nichts. Die Verträge regeln die nötigen Bedingungen ihres Aufenthaltes.
Selbstverständlich handle der Kibbuz wie ein gewöhnlicher Kapitalist, und das sei richtig so. Für die sozialen Utopien seien die Theoretiker des Forschungsinstituts von TAKAM zuständig.
Doch gern erinnert Rani an das Erntefest Schavuot, bei dem auch ihre Thailänder auftraten. Es hat allen sehr gefallen.
Idealisten
Seit den 70er Jahren zieht der Negev jüdische Jugendliche aus den westlichen Industriestaaten an, vor allem aus den USA. An seinem heißen und trockenen östlichen Rand liegt das Wüstengebiet der Arava. Sie gehört zu den malerischsten Landschaften Israels. Den blauen Himmel am Horizont begrenzen die roten Berge Jordaniens. Die Grenze ist nah, und nur der weiße Sand trennt die beiden Staaten. An der Straße nach Eilat finden sich wieder und wieder grüne Flecken. Die Kibbuzim entstanden nicht zufällig hier. Sondereinheiten der israelischen Armee gründeten sie, um die lange Grenze zu sichern. Die Grenze blieb friedlich.
In diesem sonnenreichsten Gebiet Israels liegt der Kibbuz Samar. Er „gehört zu einer Reihe von Neugründungen (1976), in denen versucht wurde, auf bestimmte Ideale der Gründerzeit zurückzugreifen. Man erprobte freiere Formen der Sexualität, den unkontrollierten Umgang mit Gemeinschaftseigentum sowie lockere Arbeitsdisziplin. Inzwischen wurden diese Reformen allerdings weitgehend wieder zurückgenommen“, weiß ein Kibbuzführer zu berichten.
Tatsächlich, ein verbindliches Arbeitsreglement gibt es in Samar nicht. Verabredet werden einzig die Dienste, die eine regelmäßige Mitarbeit benötigen, wie die Versorgung der Rinder oder der Küchendienst. Dabei ist Samar ein ökonomisch sehr erfolgreicher Kibbuz. Seine Fabrik für Landmaschinen sei ebenso effizient wie die Rollrasenproduktion oder die organische Dattelwirtschaft, betont Bryan Medeved, einer seiner drei Sekretäre. Ehedem aus Michigan, lebte er früher in einem wenige Kilometer entfernten Kibbuz. Doch hier in Samar gefällt es ihm besser. Wer sie als Anarchisten bezeichne, brauche wohl Etiketten und sage mehr über sich selbst aus, denkt Bryan. Lohnarbeiter brauchen sie in Samar nicht. Und Gastarbeiter aus Thailand werden sie hoffentlich nie einstellen.
Der Zaun umgibt ein ausgedehntes Areal und läßt viel Platz für ein Projekt, das Bryan Medved gemeinsam mit Professor Fainman von der Universität Beersheba entwickelte: eine futuristische Konstruktion zur Nutzung von Sonnenergie für die Elektroenergieproduktion.
Wann die Arbeit tatsächlich beginnen kann, hängt von den dafür notwendigen Geldern ab. Noch ist der Optimismus groß, denn alle Voraussetzungen für das Projekt sind günstig, vor allem könnten die Eigenleistungen der Kibbuznikim die Kosten erheblich reduzieren. Unklar ist allerdings, wie sich die Regierung verhält. Denn ein Teil des Geldes wird auch von ihr erwartet.
Mit ihrem selbst erarbeiteten Geld gehen die Leute von Samar bedachtsam um. Budgets wie in anderen Kibbuzim, die kontrolliert werden müssen, lehnen sie ab. Jeder kann sich aus der Kasse nach eigenen Bedürfnissen bedienen. Allerdings gilt das nur für die Mitglieder von Samar. In Israels Kibbuzim ist sie legendär, die Schüssel mit Bargeld zur allgemeinen Bedienung im Speisesaal von Samar. Sie sei aber im Büro, sagt Bryan Medved.
Vom Land in die Stadt
Städtische Kibbuzim sind kein neues Phänomen in Israel. Versuche, die Idee des Kibbuz mit der Entwicklung der Städte zu verbinden, waren bereits in den 20er Jahren unternommen worden. Damals sollte der Kibbuz selbst den Gegensatz von Stadt und Land aufheben; den städtischen Wohngebieten wurden landwirtschaftliche Flächen zugeschlagen. Und nach der Gründung von Arad wurde versucht, einen städtischen Kibbuz um eine Fabrik zu entwickeln. In den offiziellen Darstellungen tauchen sie allerdings selten auf. Vielleicht, weil sie nicht unbedingt erfolgreicher Teil der Siedlungsgeschichte sind. Aber in den 70er Jahren, als Israel im Alltag einer kapitalistischen Gesellschaft angekommen war, wurde er wiederentdeckt: der städtische Kibbuz, als Sozialstation städtischer Notstandsgebiete und an der Peripherie des Landes plazierter Entwicklungsstädte.
Die rasche Verstädterung Israels mag dazu führen, daß die einst geplante Verbindung von Stadt und Kibbuz jetzt neu entsteht. Nun allerdings in einer postindustriellen Gesellschaft. Die grünen Inseln des Sozialismus sind auf dem Weg, zur grünen Lunge der Stadtlandschaft am Mittelmeer zu werden. Vielleicht 70 Kibbuzim, ca. ein Viertel aller Kibbuzim, werden so „heimgeholt“. Vielleicht bieten sie auch eine Chance für ein neues städtisches Lebenskonzept: eine autonome, selbstverwaltete, egalitäre Gemeinschaft als Teil der Stadt, vielleicht ohne Landwirtschaft, aber als Dienstleistungszentrum und Wohnquartier mit idealer Lebensqualität.
Einer der städtischen Kibbuzim Israels ist Migvan („vielfarbig“). „Wir werden die rote Fahne nicht hissen, wir wollen die Gesellschaft nicht verändern. Wir wollen eher ein Beispiel geben dafür, daß es auch anders geht“, erklärt Noamika Ben Zion dessen Ziele. Sie ist Gründerin von Migvan, eine der vier, die blieben. Aufgewachsen in einem Kibbuz im Jordantal als Enkelin eines bekannten Führers der Kibbuzbewegung, litt sie als junges Mädchen unter dem Gegensatz ihrer heilen kleinen Welt zur rauhen Wirklichkeit. Zuerst mußten die vertrauten Freunde ihrer Eltern als Kommunisten und Nichtzionisten den Kibbuz verlassen. Später – in der Schule, in der Fabrik, in der Armee, in der Jugendbewegung – stieß sie auf den Haß und das Mißtrauen der Orientalen, die sich als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlten: Überall waren sozialistische Kibbuz-Zöglinge wie Noamika in den Positionen der Ranghöheren, der Gebildeteren, der Vorgesetzten, der Eigentümer. Dieser Haß gegen die privilegierten „weißen“ Kibbuznikim wurde wiederum im Kampf gegen die Linke mit Erfolg genutzt.
Während ihrer, in Israel auch für Frauen normalen, Armeezeit arbeitete Noamika als Lehrerin mit Jugendlichen, die ihre Schulausbildung nicht beendet hatten. 1987 schließlich errichtete sie mit ihren Freunden in zwei blaßgelben Wohnblöcken inmitten des eher trostlosen Städtchens Sderot, unweit des Gazastreifens, einen Kibbuz. Es war eine kurze Zeit des politischen Umbruchs, als sie hierher kamen. Junge Linke eroberten mit verheißungsvoller Radikalität die konservative Wählerschaft des verschlafenen Ortes. Einer von ihnen wurde eine Zeitlang Bürgermeister.
Sderot bot jedoch für die ambitionierten und interessierten jungen Leute auf die Dauer zu wenig Anregung. Der Bürgermeister kletterte ein Stück höher auf der Karriereleiter. Ein Großteil der einstigen Mitglieder verließen den Kibbuz. Neue kamen hinzu. Ungefähr zwanzig junge Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, fast alle Paare und einige Kinder, bilden heute den Kibbuz. Sie leben in kleinen standardisierten Wohnungen ohne Klimaanlage. Ihr Kibbuz wird sich in Sderot halten. In einem neuen Wohngebiet haben sie sich Land gekauft und werden innerhalb der nächsten zwei Jahren aus den Wohnblocks in die zehn komfortablen Siedlungshäuser ziehen.
Noamika ist heute 36 Jahre alt und entwickelt computergestützte, vernetzte und interaktive Weiterbildungsprogramme für Lehrer, Erzieher und Studenten. Ihr hohes Gehalt kommt in die Gemeinschaftskasse. Nur ein geringer Betrag bleibt ihr für besondere Wünsche. Doch nun kann sie wenigstens drei Tage in der Woche in Tel Aviv arbeiten und wohnen, denn eigentlich liebt sie die Großstadt. Paris wäre ihr allerdings noch lieber.
Alle erwachsenen Mitglieder von Migvan arbeiten in gewöhnlichen Berufen in Sderot oder in Beersheba, geben ihr Geld in eine gemeinsame Kasse und bezahlen daraus ihre Wohnungen, ihr Essen, ihre Fahrkosten. Keiner hat einen eigenen Wagen. Nur ihr Kibbuz besitzt Transportfahrzeuge.
Migvan kommt mit einem Minimum an Organisation aus. Eine Wohnung wird gemeinsam als Küche, Standort der Waschmaschine und als Lager genutzt. Hier kommen sie zusammen, zu Vorträgen oder sie feiern den Schabbat in einer Mischung aus traditionellen Riten und Liedern aus dem Kibbuz. Sie seien jüdisch, aber nicht religiös, ist die Erklärung.
Ihr städtischer Kibbuz sollte eigentlich keine Wohngemeinschaft von Sozialarbeitern werden, obwohl sich in Sderot die Probleme des orientalischen Bevölkerungsteils („zweites Israel“ genannt) exemplarisch häufen. Es war aber ihre vornehmliche Absicht, Gemeinsamkeit und Solidarität hierher zu bringen, in den hoffnungslosen Sozialfall eines städtischen Notstandsgebietes, mit seiner charakteristischen Gewalt, mit Prostitution, geistiger und materieller Not. So wurde Sozialarbeit eben doch zu einem Schwerpunkt für ihren Kibbuz: Integration von Neueinwanderern, Aufbau einer Naturschule, Freizeitaktivitäten für Schüler und Erwachsene.
Der Kibbuz baute auch ein wirtschaftlich erfolgreiches Gärtnerkollektiv auf. Und Migvan unterhält ebenfalls einen Kindergarten. Von Anbeginn war auch er als Integrationsfaktor gedacht, als Angebot für die Kinder und Eltern der Umgebung.
Sderot ist seit der Gründung von Migvan von 10.000 auf 17.000 Einwohner angewachsen.
In der Dämmerung spazieren die Menschen auf ihren Fahrbahnen, vielleicht eine Gewohnheit der neuen Bürger aus der ehemaligen UdSSR. Im Zentrum des Städtchens mischen sich neuer und alter Fatalismus, wenn in dessen kümmerlichen Cafés die Männer ihre Diskussionen führen. Vielleicht kommt nun bald der Messias, oder ein anderer erlöst sie. Einen Kibbuz Migvan kennt hier keiner.
Alternative
„Die Kibbuzbewegung war niemals alternativ. Sie gehörte immer zum Mainstream.“ Auf diesen kurzen Satz bringt Jan Bang heute seine Erfahrungen. Jan Bang ist seit 1983 Israeli. Er kommt aus der westeuropäischen Alternativszene, geboren wurde er in Norwegen, doch entschied er sich für ein Leben außerhalb seines Geburtslandes. Heute hat er drei Pässe, einen norwegischen, einen britischen und einen israelischen.
Jan Bang ist praktizierender Katholik. In einigen Kibbuzim leben Nichtjuden oder Konvertiten, auch aus Deutschland. Der Kibbuz war für ihn die folgerichtige Fortsetzung seines bisherigen Lebens. Als Lehrer für geistig Geschädigte hatte er in Wohngemeinschaften gearbeitet und gelebt und war in engen Kontakt zu anderen Kommunen gekommen.
Die israelische Staatsbürgerschaft nahm er an, um das Land politisch bewegen, d.h. konkret, um für Israels Linke stimmen zu können.
Jan Bang sieht die Kibbuznikim als die einstige Aristokratie des jüdischen Landes. Ihre Kibbuzim beherrschten wie mittelalterliche Burgen das umliegende Land und sind nun die Landsitze eines feudalen Ordens. Lässig und cool zieht er diesen Vergleich, mit dem er auch seine eigenen Bemühungen um ein neues Ziel für die einstige intellektuelle und soziale Avantgarde bilanziert. Er übertrug die ökologische Idee der „Nachhaltigkeit“ in den Begriff des Öko-Zionismus und ist Initiator einer Gruppe Grüner Kibbuzim, die sich um die Jahreswende 1995/1996 gründete. Der von Jan Bang erhoffte Neuanfang beinhaltet sowohl den Schutz der Natur als auch die sozial-ökologische Umgestaltung Israels in ein Zentrum für den Nahen Osten. Das Material dafür bietet, selbstverständlich für Israel, die Bibel.
Auch in Israel ist das Spektrum ökologischer Aufgaben reichhaltig. Überall zeichnen sich die dramatischen Folgen von Industrialisierung, Urbanisierung und Ressourcenverknappung ab. Als Industrieland noch jung, ist seine Bevölkerung für den Vorgang allerdings wenig sensibilisiert. Um so wichtiger sind die Kontakte unter den Gleichgesinnten im Lande. In diese Situation hinein wirkt Jan Bangs These vom Öko-Zionismus stimulierend. Gerade die Kibbuzim bieten gute Voraussetzungen für eine ökologische Neuorientierung.
Bereits 1993 hatte sich Jan Bang in die Diskussion über die Perspektiven des Kibbuz eingemischt. Er erhielt die Chance, am TAKAM-Seminarzentrum für seine Ideen zu werben und seine ökologischen Projekte und Aktivitäten zu koordinieren. Sein „Cheder Yarok“ (Grünes Zimmer) war auf dem Wege, zur Institution zu werden. Doch zum Jahresende 95 kam kein Geld mehr für seine Arbeit und damit das Aus.
Vorerst, meint Jan Bang, und bedächtig saugt er an seiner Pfeife …
Der Kibbuz Geser hat weniger als 100 Mitglieder und gehört damit zu den kleineren Gemeinschaften. Er liegt auf halbem Weg zwischen Tel Aviv und Jerusalem in der Ajalonebene. Geser wurde 1945 gegründet. Eine Reihe kleiner normierter Grabsteine im Park am Rande des Kibbuz trägt die Namen vieler seiner damaligen Siedler und Verteidiger. Sie waren meist jünger als 20 Jahre und gerade dem Holocaust entkommen. Dann wurde Geser im Unabhängigkeitskrieg von 1948 von der Arabischen Legion überrannt. Die Gefangenen kehrten nach dem Waffenstillstandsabkommen zurück, doch Geser erholte sich nicht mehr und wurde 1964 aufgegeben. Seit 1974 besteht der Kibbuz wieder. Seine Mitglieder kommen vor allem aus Nordamerika. Neben Landwirtschaft betreiben sie eine Fabrik für Klebemittel und Farben. Stolz sind die Leute vom Kibbuz auf ihre Kindererziehung. Die hohen Bäumen beschatten die flachen Bungalows der Kindergruppen und ihre Spielplätze mit den kleinen Zäunen. Die Kinder des Kibbuz leben hier ganztätig. Auch viele Eltern aus dem nahen Ramla oder andern Orten der Nachbarschaft bringen ihre Kinder gern hierher. Das setzt sich für Geser in klingende Münze um. Ein gepflegter Sportplatz bringt weiteres Geld.
Geser ist außerdem Mittelpunkt der Grünen Kibbuz-Gruppe mit derzeit acht Kibbuzim. Die meisten Mitgliedskibbuzim liegen in der Arava, wie auch Samar. Die israelische Gruppe sieht sich dabei als Teil der Region und sucht hier die internationale Zusammenarbeit. Gemeinsame Projekte mit Ägypten, z.B. die Unterstützung für einen ägyptischen Kibbuz im Westen des Sinai, sowie mit den palästinensischen Autonomiegebieten, werden entwickelt. Damit stehen sie für eine Mehrheit in den Kibbuzim, die sich für eine Friedenslösung im Nahen Osten einsetzt.
Kibbuzim als Basis für eine friedliche und ökologische Umgestaltung – verständlich, daß Israels Linke die Kibbuzbewegung weiterhin als Chance sieht und als originären Beitrag ihres Landes für eine Welt im technologischen und sozialen Wandel.
Literatur:
Martin Buber: „Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung“, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider GmbH, Heidelberg 1985
Christane Busch-Lüty: „Leben und Arbeiten im Kibbutz“, Köln: Bund Verlag 1989
- Fölling/ Tobias Kriener (Hg.): „Kibbuz-Leitfaden“, Frankfurt/ Main: Haag+Lerchen 1994
Gunnar Heinsohn (Hg): „Das Kibbutz-Modell. Bestandsaufnahme einer alternativen Wirtschafts- und Lebensform nach sieben Jahrzehnten“, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1982
Jens Matthiesen/Ari Lipinski: „Kibbutz konkret für Gast und Volontär“, Freiburg: Interconnections o. J.
Wolfgang Melzer/ Georg Neubauer: „Der Kibbutz als Utopie“, Weinheim, Basel: Beltz 1988
Ludwig Liegle/ Theodor Bergmann: „Krise und Zukunft des Kibbutz. Vom Wandel einer genossenschaftlichen Wirtschafts- und Lebensform“, Weinheim, München: Juventa Verlag 1994
„Platform Meretz 96“, Tel Aviv 1996: Meretz Information Department
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