Der Ausstieg. Eine Kurzgeschichte

von Margarethe Augenmond

Sie hatten geheiratet und lebten in der Stadt, wie die meisten anderen auch, in einer Neubauwohnung, zusammen mit ihrem Auto, der Waschmaschine, dem Kühlschrank und der Fernheizung. Sie hatten beide einen Job in der Versicherungsbranche und versuchten, so gut es ging, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Ab und zu fuhren sie ins Grüne und erholten sich von der Hektik des Alltags. Nach geraumer Zeit jedoch fand ER es ziemlich nervend, auf Dauer in der Stadt zu wohnen. Das sei zu weit weg vom Eigentlichen. ER begann herumzufahren und nach einem Hof auf dem Lande Ausschau zu halten. Anfangs arbeitete ER noch als Versicherungsvertreter, nach und nach jedoch erlahmte seine Aktivität. ER fand einen alten Bauernhof, begann dort herumzuwerkeln, setzte die Ställe instand, schaffte sich eine Kuh an. Zu Beginn hatte ER noch bei IHR in der Stadt gewohnt. Mit der Zeit blieb ER aber immer länger dort draußen. Es wurde Frühling und die Feldarbeit drängte. Sie sahen sich immer seltener. ER begann nach Stall zu riechen. SIE mußte sich daran gewöhnen, denn SIE liebte IHN. ER kam ein letztes Mal in die Stadt, als ihr erstes Kind geboren wurde. Zwei Tage später hatte ER seine restlichen Sachen in Kisten verpackt und war aufs Land gezogen. ER dachte, SIE würde mit der Zeit und dem Kind nachkommen. Denn ER liebte SIE. Auf seinem Abschiedszettel stand: „Entschuldige, aber ich halte es in dieser Betonstadt nicht mehr aus.“

Nach einer Weile kam SIE IHN besuchen, fand es nicht zumutbar, so zu leben, wie ER lebte, blieb fort, eine Weile, kam wieder ging IHM ab und zu zur Hand, fand Gefallen an der Kuh Santa, begann, den kühlen Wind zu lieben, der IHR bei der Feldarbeit im Haar nestelte, merkte plötzlich, daß die Eier der Hofhühner ganz anders schmeckten als die vom Supermarkt. Der Stallgeruch wurde IHR vertraut. Im betäubenden Duft frischer Kuhfladen liebten sie sich auf schnell zusammengestellten Heuballen. SIE kam immer öfter mit dem Kind. Ein zweites war schon unterwegs.

Eines Tages gab SIE die Arbeit als Versicherungsvertreter endgültig auf, nachdem die Zahl ihrer Vertragsabschlüsse rapide gesunken war und ihr Chef mit gerümpfter Nase andeutete, daß SIE das Unternehmen in eine gewisse Anrüchigkeit brächte. Am nächsten Tag packte SIE ihre Koffer und zog endgültig aufs Land. Doch als SIE diesmal auf dem Hof ankam, war niemand zu Hause. Da lag nur ein Zettel: „Verzeih, ich mußte richtig aufs Land gehen.“ Weit draußen auf dem Feld sah SIE später einen alten Wohnwagen stehen, aus dessen Fenster ein Ofenrohr kleine Wölkchen in den Himmel blies. Doch SIE ging nicht hin. SIE hütete das Haus. ER wohnte im Wohnwagen. Aber sie liebten sich noch immer. Ab und zu trafen sie sich am Brunnen, wo ER sich jeden Morgen waschen kam. Dort umschlangen sich ihre Körper kurz und heftig. Das hörte auf, als ER aufhörte, sich zu waschen und nur noch das Regenwasser aus einer Auffangschüssel am Wohnwagen zu trinken begann. ER wartete, daß Sie nachkäme. SIE wartete, daß ER zurückkäme. Mittlerweile war das dritte Kind unterwegs. Irgendwann hielt SIE es nicht mehr aus und besuchte IHN, war erschreckt über sein Aussehen und die Art seines Wohnens. SIE ging wieder davon. Doch SIE kam wieder. Sein wildes Aussehen begann, SIE immer weniger zu stören. Irgendwann lernte auch SIE es, zum Scheißen hinter den Wohnwagen zu gehen, den Arsch in den Frost zu halten und in das ausgehobene, immer wechselnde Loch zu zielen. SIE kam jetzt öfter. Sie arbeiteten zusammen, aber nicht mehr so viel wie früher. Es faszinierte SIE, die Tage hier draußen – weit ab von jeder menschlichen Siedlung und allem Autoverkehr – zu verbringen.

Als SIE eines Tages mit den Kindern endgültig in den Wohnwagen hinauszog, fand SIE einen Zettel: „Bin Nomade geworden. Komme nächstes Jahr wieder vorbei.“ SIE war wütend, doch SIE blieb im Wohnwagen wohnen, kümmerte sich um die verbliebenen Kleintiere und das bißchen Feld, das SIE bestellte, zog die Kinder groß. SIE hatte immer ein Kind mehr, wenn ER einmal im Jahr seine Kuhherde am Wohnwagen vorbeitrieb. Dann fielen sie übereinander her, ausgehungert wie die Wölfe, verschwanden für eine ganze Woche in seinem Tipi. Die größeren Kinder kümmerten sich in dieser Zeit um die Tiere. Doch nach der Woche hatten die Kühe die Weide abgegrast und ER zog weiter. ER wartete, daß SIE nachkäme. SIE wartete, daß ER zurückkäme. Denn sie liebten sich. Jahr für Jahr.

Irgendwann, als er gerade wieder einmal ein paar Tage weg war, packte SIE ihre Sachen, versammelte die acht Kinder, und folgte seiner Spur. Als SIE das Tipi fand, war ER nicht mehr da. „Habe die Kühe freigelassen und bin in die Wälder gegangen. Es mußte sein!“ Sein Geruch hing noch im Tipi. Das machte SIE fast wahnsinnig. SIE schrie, doch SIE blieb. SIE sammelte die Kühe ein und zog mit Tipi, Tieren und Kindern weiter den Jahreskreis des Nomaden, so wie ER es die ganze Zeit getan hatte. ER wartete, daß SIE in die Wälder käme. SIE wartete, daß er zurückkäme. Doch ER kam nicht.

Irgendwann bemerkte SIE, wie das Tipi IHR und den Kindern einerlei wurde, und sie begannen, nur noch draußen zu schlafen, fasziniert vom Anblick der Sterne. Die Kühe interessierten sie nicht mehr. Eines morgens verließ SIE das Tipi für immer und lief mit den Kindern in den Wald. SIE durchforschte das Unterholz nach IHM. SIE und die Kinder lernten, sich von Beeren, Moos und jungen Fichtentrieben zu ernähren. Als es Winter wurde, aßen sie die Rinde von Bäumen. Wo war ER nur? SIE liebte IHN doch und ER liebte SIE. Sie mußte IHN doch finden, doch keine Spur von IHM! Aber SIE hatte ja alle Zeit der Welt an den wechselnden Lagerfeuern ihrer Abende. Wenn es regnete, hockte SIE mit den Kindern in einem riesigen hohlen Eichenstamm. Die Wintermonate verbrachten sie in selbstgegrabenen Erdhöhlen. Nach und nach vergaßen sie all die Orte, wo sie gelebt hatten …

Jahre später, auf einem IHRER Streifzüge durch den sonnendurchfluteten Herbstwald sah SIE einen umgefallenen Baumstamm. Seine Rinde war abgeblättert und in den Stamm war eine fast verwitterte Botschaft eingeritzt: „Irgendetwas stimmt noch nicht! Verzeih bitte, aber ich muß noch einmal dorthin … Kurt M.“ – Hinter dem Baumstamm schien sich der Wald zu lichten, und als sie ein paar Meter weiterging, erblickte SIE ein weites Feld und am Ende des Feldes – mit einem ungläubigen Erstaunen – die Silhouette einer gewissen Stadt …?

 

 

aus ICH 2/ 96