Hans-Joachim Maaz, 1997 befragt von Andreas Peglau.
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A.P.: Wer hierher kommt, in die psychotherapeutische Klinik des Evangelischen Diakoniewerkes in Halle, dem wird – und wurde schon zu DDR-Zeiten – vor allem das Angebot gemacht, seine individiuellen seelischen Probleme in einer stationären Gruppentherapie zu klären. Unter welchen Umständen ist es denn vorteilhafter, meine Probleme gleichzeitig mit zehn bis zwölf, ebenfalls leidenden, fremden Menschen zu bearbeiten, statt nur mit einem einzelnen „gesunden“ Fachmann, der sich voll auf mich konzentrieren kann?
Maaz: Zu DDR-Zeiten verdankten wir die bevorzugte Entwicklung von Gruppentherapie auch der vorherrschenden Überzeugung innerhalb des politischen Systems, daß das Kollektiv die entscheidende Komponente des sozialen Lebens darstellt. Dadurch war es eher möglich, Gruppentherapien durch die ideologische Zensur zu bringen als Einzeltherapien, denen der Geruch anhing, „individualistisch“ ausgerichtet zu sein. Letztlich bestand bei den Herrschenden die Hoffnung, daß durch eine Gruppe immer auch eine Disziplinierung erfolgt, daß der Einzelne wieder an die bestehenden Normen angepaßt werden würde. Und die sozialistische Kollektiv-Idee war ja auch immer „Leiter-zentriert“, autoritär: Nicht nur sollte „die Partei“ innerhalb des Volkes immer Recht haben, sondern auch in jeder Gruppe sollte möglichst deren Leiter sagen, wo es lang geht.
Aber Gruppentherapie, wie wir sie zum Beispiel hier in Halle durchführen, war und ist etwas völlig anderes. Sie stellt das autoritäre Prinzip grundsätzlich in Frage und setzt dagegen: Ablösung von Führung, Übernahme von eigener Verantwortung. Das allerdings immer in sozialer Bezogenheit. In der Gruppentherapie kann ich mich sowohl als Individuum erleben, als einzigartiges Wesen, als auch meine ständigen Wechselwirkungen mit anderen Menschen. Das ist gleichzeitig einer der entscheidenen Vorteile von Gruppentherapie.
Die Einzeltherapie ist vor allem dann der Gruppe vorzuziehen, wenn ein einzelner Mensch überhaupt erstmal zu sich kommen muß, wenn er so eingeschüchtert und verängstigt ist, daß er im Kontakt zu anderen Menschen sofort „zumacht“. In diesem Fall könnte es sein, daß er in einer Gruppe gar nicht dazu kommt, seine Individualität zu entwickeln. Wir haben eine Reihe von Patienten, die sich sozusagen in einer Einzeltherapie zunächst mal die notwendige Ich-Stärke erarbeiten, um dann den Konflikten innerhalb einer Gruppe und dem Sich-miteinander-Vergleichen gewachsen zu sein.
A.P.: Viele Leute gehen doch aber in therapeutische Einrichtungen, weil sie sich von einer ganz bestimmten Person, hier vielleicht vor allem von dir, Hilfe erhoffen. Sind die dann nicht enttäuscht, wenn sie erfahren, daß sie sich den Therapeuten ihrer Wahl noch mit mehreren anderen teilen sollen?
Maaz: Ja, das kann gelegentlich soweit gehen, daß mancher sogar abspringt. Andererseits gehört aber genau das auch zu unserer Überzeugung vom Sinn einer Therapie. Viele kommen ja mit einer Art „Erlöser-Hoffnung“ – als gäbe es einen anderen Menschen, der ihnen den „richtigen Weg“ zeigen könnte, der sie von ihren Konflikten und Beschwerden befreien könnte. Und darin drückt sich ja schon die Wiederholung einer kindlichen Situation aus, in der diese Wünsche damals auf die Eltern gerichtet waren. Jetzt werden sie auf den Therapeuten übertragen. Unsere Aufgabe besteht nun aber gerade darin, das nicht zu tun, sie zu frustrieren – damit sie diese ehemalige Situation mit allen dazugehörigen Gefühlen noch einmal erleben und emotional durcharbeiten können.
Man könnte sich´s leichter machen, man könnte ihnen die erwünschte Führung und Beratung anbieten. Dann würden sich die meisten für´s erste besser fühlen. Aber sie blieben in Abhängigkeit von jemanden, der sie an die Hand nimmt und beschützt. Sie könnten nicht reifen.
A.P.: Die Hilfe besteht also gerade darin, daß sie verweigert wird?
Maaz: Das könnte man so sagen. Und diese Paradoxie setzt sich fort: Ich führe als Therapeut dann die Gruppe, indem ich sie nicht führe. Ich bin zwar anwesend – und insofern richten sich am Anfang die Erwartungen auf mich -, aber indem ich nicht aktiv werde, beeinflusse ich sie ja auch. Ich provoziere die notwendige Auseinandersetzung mit der Frage: Na, wenn der mich nicht führt – wer denn dann?
A.P.: Aber der über Jahrzehnte antrainierte Impuls, unbedingt geführt zu werden, wird doch so schnell nicht verschwinden. Was geht in Menschengruppen vor, die sich auf diese Weise selbst überlassen sind? Welche Reaktionen auf verweigerte Führung durch eine Autoritätsperson sind nach deiner Erfahrung typisch?
Maaz: Zunächst verstärktes Buhlen um die Aufmerksamkeit des Therapeuten, eine Art Wettrennen um die erhoffte Zuwendung – so wie in der frühen Kindheit versucht worden war, die Eltern zu mehr liebender Aufmerksamkeit zu veranlassen. Da das auch diesmal nicht funktioniert, folgen Enttäuschung, Trotz oder feindseliges Verhalten. Die eigene Verunsicherung wird auch oft gegenüber einem Sündenbock ausagiert – z. B. einem Gruppenmitglied, das durch irgendeine Besonderheit auffällt, eine Schwäche zu erkennen gibt. Diese Auseinandersetzungen untereinander folgen dann oft dem Vorbild der Geschwister-Beziehung, mit Neid, Eifersucht und Konkurrenz. Außerdem kann aber auch ein Streit, eine heftige Auseinandersetzung ein Versuch sein, den inaktiven Führer dazu zu bringen, sich einzumischen, zu schlichten, zu richten. Darüber hinaus bietet sich in einer Klinik natürlich noch die Möglichkeit an, den führungsunwilligen Therapeuten durch akute körperliche Symptome zu zwingen, aktiv zu werden.
A.P.: Kann sich nicht auch jemand in der Gruppe als Ersatzführer anbieten und dann zum Beispiel gegen den „bösen“ Therapeuten zum Kampf aufrufen?
Maaz: Schon. Aber so etwas hält sich in einer Therapie nicht lange: Ein solcher „Ersatzführer“ hat nicht die Kraft, die Erfahrungen und den Einfluß, realitätsgerechte Veränderungen zu bewirken – und außerdem kann natürlich auch er die anderen nicht „gesund machen“.
Also ist eine solche Machtergreifung meistens schon nach ein paar Stunden wieder beendet. Wenn nicht – ich bin als Therapeut ja auch nicht völlig passiv. Ich beobachte, was in der Gruppe geschieht. Und wenn ich den Eindruck habe, daß sich da eine starre Struktur herausbildet, die den Heilungsprozeß stört, versuche ich schon, darauf aufmerksam zu machen und dazu zu ermuntern, vorhandene Kritik an einem neuen autoritären Führer auch zu äußern.
A.P.: Wenn die Gruppe in der Lage ist, diese Phase zu überwinden ist, wie geht es dann weiter? Wodurch wird das entstehende Leitungs-Vakuum ausgefüllt?
Maaz: Es ist natürlich zunächst einmal nötig, daß sich die Gruppenmitglieder bewußt machen, warum sie so reagieren. Sind sie dazu in der Lage, dann gibt es in der Regel eine richtige Befreiungserfahrung in der Gruppe: Wir müssen doch eigentlich gar nicht rivalisieren und uns bekriegen. Wir sitzen alle im selben Boot und sind alle ähnlich betroffen. Statt gegeneinander zu kämpfen, können wir gemeinsam weinen, gemeinsam darüber trauern, daß wir nicht so geliebt und angenommen worden sind, wie wir es wollten. Wenn das gelingt, entsteht dann eine wirkliche Verständigung und Annäherung untereinander: Es ist schlimm, was mit uns passiert ist in der Kindheit – aber laßt uns gucken, was wir trotzdem daraus machen können, heute, als Erwachsene. Und was daraus sich ergibt, das ist dann für mich immer wieder die schönste Zeit in einer Gruppe, in der oft eine unglaubliche Kreativität, Produktivität zu finden ist – gegründet auf gegenseitige Unterstützung und Bezogenheit.
A.P.: Wenn sich viele gemeinsam wohlfühlen, ist das Ziel, daß jeder einzelne Verantwortung für sich selbst übernimmt, doch aber noch nicht unbedingt erreicht.
Maaz: Das ist ja auch in einer Kultur, in der Kindern immer wieder gesagt wird: „Du kannst oder du darfst nicht für dich selbst verantwortlich sein“ ein sehr angstbesetztes Ziel. Und hier hat die Gruppe einen weiteren Vorteil: Der Einzelne muß das nicht sofort für sich alleine durchstehen. Die Gruppe kann sich entschließen, als Gemeinschaft die Führung zu übernehmen, gemeinsam herauszubekommen, was im eigenen Interesse getan werden kann. Statt also wie bisher autoritär geführt zu werden, kann jetzt dazu übergegangen werden, demokratisch zu führen, abzustimmen. Das ist zwar immer noch nicht das, was wir Therapeuten uns wünschen – wir streben eigentlich Konsens-Entscheidungen an als Ergebnis des Gruppenprozesses. Aber es ist schon ein Fortschritt. Es bedeutet zum einen, sich untereinander ständig auseinanderzusetzen, um gemeinsame Maßstäbe zu ringen. Zum anderen werden damit auch die Stellungen klar, die die einzelnen Gruppenmitglieder haben: Wer kann andere überzeugen, wem wird vertraut, wer hält sich immer raus usw. Es gibt ja in jeder Gruppe zu jeder Zeit immer verschiedene soziale Positionen: Führer, Geführte, Experten, Außenseiter. Das gilt es zu erkennen auch für die eigene Gruppe – aber nicht dabei stehenzubleiben. Denn in der allmählich entstehenden gesünderen Gruppenstruktur klebt dann keiner mehr immer auf derselben Position fest. Wenn zum Beispiel etwas gekocht werden soll, dann sollte doch wohl derjenige die Leitung haben, der am besten Kochen kann. Wenn ein Spaziergang durch Halle geplant ist, dann derjenige, der die Stadt am besten kennt. Und natürlich auch bei der therapeutischen Arbeit: Wer mit den innerseelischen Konflikten, den Beziehungsstörungen, letztlich seinen unbewußten Bedürfnissen am ehrlichsten und offensten umzugehen lernt, also das therapeutische Anliegen voranbringt – der führt die Gruppe.
Je nach der jeweiligen Kompetenz wechseln also die Rollen: Jeder kann erleben, wie es ist, Verantwortung zu haben – und sie auch wieder abzugeben. Eine fließende Autorität.
A.P.: Also ist das Ziel dieser Therapie nicht, autoritäre durch antiautoritäre Strukturen zu ersetzen, jede Autorität generell abzulehnen. Es geht weder um „Keine Macht für niemand“ noch um „Wir sind alle gleich“.
Maaz: Solche Sprüche stimmen sowieso nie. Nein – es geht um einen flexiblen, den Lebensumständen, den Aufgaben und den einzelnen Persönlichkeiten angemessenen Rollentausch. Die Flexibilität ist dann das Maß der Gesundheit.
A.P.: Aber du hast schon gesagt – das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluß, Konsens-Entscheidungen werden angestrebt. Also einstimmige Entscheidungen. Bedeutet das: Ein Einzelner, der zum Beispiel nicht mit will auf den Spaziergang durch Halle, verhindert, daß alle anderen Gruppenmitglieder spazierengehen?
Maaz: Nein, das wäre kein Konsens. Sich um Konsens zu bemühen, würde zunächst bedeuten, zu akzeptieren, daß jede der gegensätzlichen Positionen einen Hintergrund hat, ein – oft völlig unbewußtes – Motiv. Dieses Motiv muß gemeinsam herausgefunden werden.
Wenn wir bei dem Beispiel, das ja vor allem Symbolcharakter hat, bleiben, dann kann man sich vorstellen, daß der eine „Verweigerer“ vielleicht nur nicht von Bekannten getroffen werden möchte. Vielleicht möchte er auch nur gerne einmal getragen werden. Wenn die anderen darüber Bescheid wissen, wird dieses Verhalten damit verständlich und es wird möglich, einen Kompromiß zu finden: Laß uns einfach einen anderen Weg gehen. Oder: Na gut, dann nehmen wir dich eben ein Stück Huckepack. Auf jeden Fall gibt es dann keinen Grund mehr, die konträre Meinung des anderen als Bedrohung aufzufassen. Man kann einen Weg finden, wie die Bedürfnisse beider Seiten befriedigt werden können. Daraus wächst eine wichtige Erfahrung: daß im Außenseiter und Andersdenkenden stets ganz wichtige seelische Inhalte verborgen sind, die die Mehrheit nur nicht sehen und wahrhaben will.
A.P.: Hältst du einen solchen Umgang miteinander, wie du ihn jetzt geschildert hast, auch für übertragbar auf Situationen außerhalb der Therapie?
Maaz: Also ich denke, das kann auf jede Partnerschaft, auf jede Situation, in der Menschen zusammenleben, angewandt werden. Eigentlich auch auf die politische Situation. Wenn CDU und SPD, die sich ständig bekriegen, sich gegenseitig ihr wahres Motiv eingestehen würden – nämlich schlicht Machterhalt – müßten sie keine sinnentleerten Verbalatacken mehr gegeneinander führen. Und die Wähler könnten aufhören, sich darüber zu wundern, daß die beiden Parteien sich kaum noch voneinander unterscheiden. Wie denn auch, wenn es ihnen eigentlich um dasselbe geht, nämlich nur um ihre egoistischen Interessen, um Macht? Wohlgemerkt um Macht als Abwehr und als Kompensation innerseelischer Ohnmacht – und nicht, wie häufig vorgegeben wird: nur zum Wohl des Volkes bzw. der Wähler.
A.P.: Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß in einer so arbeitsteiligen und spezialisierten Gesellschaft der Gedanke einer fließenden Autorität umfassend durchsetzbar ist.
Maaz: Warum eigentlich nicht? Das kann als Ausdruck von Mündigkeit und Emanzipation schon in jeder Familie und Partnerschaft erreicht werden. Ich strebe auch in unserer Klinik an, Führungsfunktionen fließen zu lassen und auch mich als Chefarzt einzuordnen, wenn ein anderer in bestimmten Dingen einfach besser drauf ist. Deshalb sitzen wir auch häufig zusammen, um Konsens herzustellen und dafür zu sorgen, daß möglichst die jeweils kompetensten Leute für die entsprechenden Aufgaben an der Spitze stehen.
A.P.: Dieser Widerspruch zwischen dem, was in der Therapie machbar ist und den realen Möglichkeiten in der Gesellschaft ist doch sowieso ein Problem: Nach der Therapie habe ich mich zwar verändert – aber doch nicht die äußeren Umstände, die mit zu meiner Erkrankung geführt haben.
Maaz: Wir versuchen, in unserer Therapie damit insofern umzugehen, daß wir neben dem Prinzip der Übertragung alter Gefühle auf den Therapeuten auch mit dem Prinzip des „Gegenüber“ arbeiten. Das heißt, nachdem die Kindheit halbwegs erfolgreich durchgearbeitet worden ist, hat der Patient jetzt ein realistischeres Bild sowohl von sich selbst, als auch vom Therapeuten. Und damit von Autoritäten und deren begrenzten Hilfsmöglichkeiten. Aber nun steht natürlich die Frage: Wie kann ich mein Leben selbstverantwortlich gestalten? Und mit welchem Ziel? Wofür lebe ich überhaupt?
Und für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen brauche ich ein Gegenüber, einen oder mehrere andere Menschen oder eine Idee, die über mich allein hinausgeht. Und dieses Gegenüber kann ich als Therapeut in diesem Stadium der Therapie dadurch symbolisieren, daß ich mich von meinem bisherigen Platz innerhalb der Gruppe zurückziehe und mich außerhalb des Kreises der Patienten hinsetze. Das heißt einerseits: Es gibt noch etwas außerhalb unserer Gruppe, unserer Therapie, etwas, das über uns und über das Hier und Jetzt hinausgeht – und andererseits: Damit müssen wir uns jetzt ohne fremde Hilfe auseinandersetzen. Und da stehen dann sehr schnell die Fragen im Raum nach den Verhältnissen in der Gesellschaft, nach den Arbeitsbedingungen, den Familien- und Partnerschaftsbeziehungen, die oft einer Lebensweise entgegenstehen, wie man sie während der Therapie als erstrebenswert für sich erkannt hat.
Die besondere Aufgabe des Therapeuten ist dabei, daß er – über den Einzelnen und die Gruppe und die Menschen im allgemeinen hinaus – zu einer größeren oder höheren Erfahrung von Bezogenheit ermutigen sollte und helfen kann, dafür Freiräume zu schaffen.
A.P.: Hat der Therapeut nur eine symbolische „Gegenüber-Funktion“? Auch er ist doch ein Teil der Gesellschaft: verdient an ihr, zahlt an sie Steuern, kann sich doch auch längst nicht allen ihrer menschen- und naturzerstörenden Normen entziehen. Hat er nicht insofern auch eine ganz reale Mitverantwortung am Zustandekommen der Störungen, die er therapiert – wenn auch nur als kleines, vielleicht sogar teilweise oppositionelles Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe? Spielt das in der Therapie, vielleicht ganz an deren Ende, auch eine Rolle: Unserere wechselseitige Verantwortung für das Dilemma, in dem wir stecken?
Maaz: Du sprichst damit eine dritte, sehr wichtige Rolle und Verantwortung des Therapeuten an. Es stimmt: Er hat neben der Übertragungsfunktion und der Gegenüberfunktion auch als reale Person Verantwortung. Wenn ein Patient gesünder – und das heißt auch: reifer und selbstständiger – geworden ist, wird er seinen Therapeuten auch realer wahrnehmen. Und sich mit ihm kritischer – hier und jetzt – auseinandersetzen. Dann sind natürlich auch die persönlichen Werte des Therapeuten angefragt und wie er mit dem Widerspruch zwischen gesunden Bedürfnissen und gesellschaftlicher Pathologie umgeht. Vielleicht kann er etwas Vorbild sein, vielleicht können sich beide ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit eingestehen und gemeinsam trauern. Und vielleicht auch gemeinsam wieder neue Möglichkeiten finden, wobei auch ein Patient hilfreich für den Therapeuten werden kann – also ein praktischer Rollentausch. Auch damit wäre dem Bild des fließenden Lebens und der wechselnden dynamischen Autorität sehr schön entsprochen.
A.P.: Die Therapie ist irgendwann wieder vorbei – hier in Halle spätestens nach acht Wochen. In dieser Zeit hat man unter anderem, wie Du gesagt hast, gelernt, wie schön kreative Gemeinschaft sein kann. Und wie schwierig es ist, alleine „draußen“ das umzusetzen, was man hier drinnen kennengelernt hat. Da wäre es doch eigentlich logisch, zu versuchen, auch nach der Therapie irgendwie zusammen zu bleiben. Gibt es solche Versuche?
Maaz: Das ist ein echtes Problem. Die „geschützten Bedingungen“ innerhalb einer Therapie fallen draußen natürlich erstmal wieder weg. Von daher geht zunächst vieles wieder verloren. Das Positive ist aber, daß die Menschen nun die Erfahrung in sich tragen, daß es möglich ist. Damit haben sie ihre Resignation verloren und sind in aller Regel nie mehr so ganz hoffnungslos wie früher. Und sie sind auch in der Lage, erfülltere Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
Die allermeisten begnügen sich damit – und das ist auch gut zu verstehen – die neuerkannten Prinzipien in ihrer Partnerschaft und im engeren Familien- und Freundeskreis umzusetzen. Schon das ist natürlich ein Spannungsfeld – aber das gelingt doch recht vielen. Und dann gibt es noch weitergehende Bemühungen. Es schließen sich immer wieder viele unserer Patienten zu Selbsthilfegruppen zusammen. Und es gibt einige unter ihnen, die sich in kommunitären Gemeinschaften zusammengefunden haben – mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Es scheint immer dann zu funktionieren, wenn das therapeutische Prinzip – also immer wieder Konflikte auch in ihren Hintergründen zu verstehen und emotional zu verarbeiten, zu fühlen statt sinnlose Kämpfe zu führen – wenn dieses Prinzip auch unter diesen veränderten Lebensumständen durchgehalten werden kann. Aber wenn dieses Prinzip aufgegeben wird, wenn man sich zum Beispiel nur noch kämpferisch militant gegen einen Außenfeind zusammenschließt – die „böse Gesellschaft“, die „bösen Politiker“, die „bösen Chemie-Konzerne“, die „bösen Männer“ und so weiter – immer dann scheint es nicht zu funktionieren. Die Tragik besteht dann darin, daß dieses Kämpferische durchaus für gute Ideen gemeint sein kann: für Therapien, für Ökologie, für die „Dritte Welt“, für die Frauenbefreiung … Aber wenn die eigentlichen Motive hinter diesem Kampf unaufgedeckt bleiben, wird ein solcher Zusammenschluß zunehmend belastet durch die unaufgelösten innerseelischen Probleme und am Ende vielleicht auch erstickt.
A.P.: Heißt das, alle solche Zusammenschlüsse – ob in Selbsthilfe- oder anderen Gruppen oder in Kommunen – funktionieren deiner Meinung nach nur mit therapeutischer Unterstützung?
Maaz: Ja – jedenfalls insoweit, daß Möglichkeiten geschaffen werden müssen, dieses therapeutische Prinzip auch zu leben. Das heißt nicht, in jeder dieser Gruppen müssen unbedingt offiziell anerkannte, kassenärztlich zugelassene Therapeuten einbezogen sein.
A.P.: Zumal die Tatsache, daß sie offiziell zugelassen sind, ja noch lange nicht heißt, daß sie tatsächlich hilfreich sein müssen.
Maaz: Genau. Entscheidend finde ich aber, daß Menschen, die sich zu solchen Gemeinschaften verbinden, sich möglichst vorher ihre Motive bewußt gemacht haben, die sie antreiben – damit sie sich nicht durch ihren „Austieg“ eigentlich nur an ihren etablierten Eltern rächen wollen. Oder damit sie nicht von der Gruppe, wie von einer Autoritätsperson erwarten, daß diese nun aber endlich alle ihre Problem lösen wird. Und um sich darüber Klarheit zu verschaffen, um wirklich konflikt- und gemeinschaftsfähig zu werden, dafür halte ich Therapien wie die unsrige für ausgesprochen sinnvoll.
A.P.: Ich möchte zum Schluß noch einmal auf einen anderen Aspekt dieser „Gemeinschaftsfähigkeit durch gemeinsame Konfliktbearbeitung“ zurückkommen. Ich treffe immer wieder auf Leute, die dieses Land oder die ganze Welt auf eigentlich sehr verwandte Weise beeinflussen möchten – z. B., indem sie sich für ökologische und psychosoziale Veränderungen einsetzen. Aber irgendwie finden sie nur selten und nur sehr eingeschränkt zueinander, ignorieren sich oft oder bekämpfen sich sogar erbittert.
Ein aktuelles Beispiel ist für mich Jutta Ditfurths Buch „Entspannt in die Barbarei“, Untertitel: „Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus“. Dort habe ich erstaunt zur Kenntnis genommen, daß sie sich selbst zwar als „links“ und „ökologisch“ einstuft, aber andere, die vielleicht Ähnliches über sich sagen würden – wie zum Beispiel Rudolf Bahro – als „neue Rechte“ oder „Ökofaschisten“ beschimpft – jedenfalls sobald diese anderen psychotherapeutische oder gar spirituelle Gedanken mit einbeziehen. Diese Haßtiraden dürften ziemlich viele Leute, mit voller Absicht, vor den Kopf stoßen. Aber damit geht auch das Nachdenkenswerte mit verloren, was in diesem Buch zu finden ist. Und Jutta Ditfurth leistet so, aus meiner Sicht, einen weiteren Beitrag dazu, daß die Gesellschaft so bleibt wie sie ist: Indem sie sich daran beteiligt, die potentiell gesellschaftsverändernden Gruppen gegeneinander aufzuhetzen.
Nun können ja nicht alle sinnlos zerstrittenen Gruppierungen miteinander in eine Therapie gehen. Aber du selbst hast 1991 in deinem Buch „Das gestürzte Volk“ einen anderen Vorschlag gemacht, um zerstrittene oder sich gegenseitig mißverstehende Menschengruppen zusammenzuführen: Du hast vorgeschlagen – damals für die Klärung ost-westdeutscher Probleme – „weiterentwickelte Runde Tische“ einzusetzen, deren Diskussion allerdings durch die Anwendung bestimmter therapeutischer Methoden in Gang gebracht und unterstützt werden sollte.
Hältst du deinen damaligen Vorschlag immer noch für realisierbar oder war er nur einer vergleichsweise noch optimistischen Aufbruchsstimmung des Jahres 1991 geschuldet?
Maaz: Als Möglichkeit sehe ich das immer noch. Denn die Grundidee eines solchen Runden Tisches ist ja: Es gibt verschiedene Positionen und die muß es auch geben. Und das bereichert ja auch. Aber damit begnügt man sich nicht, sondern sucht auch hier wieder danach, warum jemand – auch aus seiner ganz persönlichen Lebensgeschichte heraus – eine ganz bestimmte, auch politische, Position vertritt. Auf diese Weise läßt sich nicht nur der Standpunkt des anderen besser verstehen – man weiß ja jetzt, wie er zustande gekommen ist – man merkt vielleicht auch: Jeder hat auf seine Weise ein bißchen recht, in jedem Standpunkt spiegelt sich ein unterschiedliches Stück Realität wieder.
So miteinander umzugehen setzt aber die Bereitschaft zur Verständigung voraus. Und die ist solange nicht gegeben, wie man die anderen als Feinde – notfalls auch noch im eigenen Lager, wie in deinem Beispiel – dringend braucht, als Alibi für die eigenen Haßgefühle.
Was ich heute aber anders sehe als 1991: Ein Instrument wie der Runde Tisch wird sich nicht durchsetzen – oder höchstens in zugespitzten Krisenzeiten, in denen die Leute dann vielleicht immer noch lieber aufeinander zugehen als unterzugehen. Heute sehe ich eigentlich nur die Möglichkeit, daß es viele, viele, viele Gruppen von Menschen gibt, die jede schon für sich versuchen, ihre individuellen und gemeinschaftlichen Probleme auf die beschriebene Weise anzugehen. Und die Hoffnung ist, daß es plötzlich einen qualitativen Umschlag gibt: Man ist zwar bisher noch nicht vernetzt, man weiß nichts von einander, aber es wird doch an ganz verschiedenen Orten mit ganz verschiedenen Mitteln an ähnlichen Lösungen gearbeitet – und auf einmal fließt das plötzlich zusammen. Wie wir das 1989 erlebt haben. Da hätte kein Mensch geahnt, was so alles in der DDR an Ideen und Initiativen vorhanden war – und in ganz kurzer Zeit hat sich das zusammengefunden und ja auch wunderbare kreative Möglichkeiten eröffnet. Und dann war es ebenso plötzlich wieder verloren. Wenn man es energetisch sieht: Wie Schwingungen, die sich unerwartet zentrieren auf einen Punkt und so eine neue Qualität schaffen – und sich dann wieder verlieren. Von der scheinbaren Erstarrung über das Chaos zu einer neuen Qualität von Verbundenheit. In solchen Prozessen sehe ich eine Ermutigung auch für jeden einzelnen.
Der Text ist die bearbeitete Fassung eines Gesprächs vom Februar 1997. Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – Zeitschrift für neue Lebenskultur/Frühjahr sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.