Der junge Fürst

von Marie von Ebner-Eschenbach

Ein junger Fürst, der Liebling vieler Götter, übernahm, nach Jahren der Vorbereitung zu dem wichtigen Amte, die Regierung seines Reiches.

Von den Göttern geladen, fanden viele herrliche Gäste sich bei der Krönungsfeier ein, nur eine der Gerufenen blieb aus: die alte, gute Mutter Erfahrung. Sie behauptete, erst später kommen zu können.

Nachdem die Festlichkeiten vorüber waren, versprachen die Götter dem Fürsten noch die Gewährung der drei ersten Wünsche, die er zu ihnen emporsenden werde, und nahmen Abschied von ihm.

Er aber, wohl erkennend, worin seine Aufgabe bestand, ging an die Erfüllung derselben. Besser wollte er die Menschen machen und infolgedessen glücklicher. Zur Liebe wollte er sie erziehen, zum Mitleid; er wollte in jedem einzelnen einen Feuereifer für fremdes Wohl, eine freudige Achtung für fremdes Verdienst erwecken. Ein edles Beispiel alles Vortrefflichen, leuchtete er seinem Volke voran und suchte es zu bewegen, ihm nachzufolgen. Umsonst! Außer der kleinen Schar, die ihn von allem Anfang an begleitet hatte, schlug niemand seine Pfade ein.

Nach einem Jahr nutzlosen Strebens rief er zu den Göttern:

„Unüberwindlich böse Mächte vergiften mir mein Volk und lassen es nicht genesen von Unrecht und Leid. Nehmt die unheilbare Krankheit hinweg, die an ihm zehrt. Nehmt die Unverbesserlichen hinweg, nehmt jeden, der keiner einzigen guten Regung fähig, jeden, dessen Dasein nur Unheil und Übel für seinen Nebenmenschen ist.“

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als er sie bereute, meinend, ein Todesurteil über viele Hunderte gefällt zu haben. Er lag bis zum Morgen auf den Knien und weinte vor den Bildern seiner Götter. Sodann begab er sich auf die Reise und fragte angstvoll in den Städten und Dörfern umher: „Sind heute nacht viele Leute gestorben?“

Und allenthalben hieß es: „Nicht mehr als gewöhnlich“, und er wußte nicht, was er davon denken sollte.

Erst bei der Heimkehr in seinen Palast wurde er mit der Nachricht empfangen, daß einer seiner vertrautesten Räte plötzlich dahingeschieden sei.

Zwei Jahre verflossen; so fern wie je stand der König von seinen Zielen.

Und abermals betete er zu den Göttern:

„Ich seh es ein, nicht an den ganz Verderbten scheitert der Fortschritt im Guten, dazu gibt es ihrer zu wenige. Seine wahrhaft unüberwindlichen Feinde sind die Lauen, die Gleichgültigen, die Selbstsüchtigen, diese tilgt hinweg, ihr Allmächtigen!“

Am nächsten Morgen begab er sich wieder auf die Reise und nahm seinen jüngeren Bruder mit, der ihm das Teuerste auf Erden war.

Das goldgeschirrte königliche Gespann flog schimmernd durch die Gefilde des reichsten und schönsten Landes, und auf allen Wegen und Straßen kamen lange Leichenzüge ihm entgegen, und alle Totenglocken schallten, und kein Kirchhof, noch so groß, war groß genug, um alle Särge zu fassen, die ihm zugeführt wurden.

Wo der König sich zeigte, allerorten rief man ihm entgegen:

„O Herr, dein Reich ist entvölkert!“

‘Es ist gereinigt!’ dachte er, ‘das Unkraut ist ausgerottet, nun sollen goldene Saaten reifen …’

„Eines nur noch, das letzte, gewährt mir, ihr Götter! Gleichen Sinnes mit mir laßt die Überlebenden sein, ein Streben beseele sie und mich … Hab ich noch einen Widersacher unter ihnen, gibt es einen, der mir je den Tod gewünscht er sterbe!“

Laut sprach’s der König, und wie vom Blitze des Himmels getroffen, stürzte der blühende Jüngling an seiner Seite zusammen. Ein gräßlicher Schrei ertönte: „Du? mein Bruder du?“

Der Wagenlenker wandte sich entsetzt Wahnsinn dräute ihm entgegen aus dem Antlitz seines Herrn, und wahnsinnig war, was sein Herr beging. Die Zügel riß er an sich und schleuderte sie über die feurigen, mühsam nur gebändigten Rosse hin und rief: „Lenkt ihr! lenkt euch selbst und mich!“

„Ins Verderben!“ jammerte sein Diener in bleicher Todesangst, und den König ergriff ein Erbarmen, er hob den Zitternden empor und warf ihn hinaus aus dem Gefährt, ins hohe Wiesengras.

Er selbst jedoch, der Willkür der jagenden Rosse überlassen, stürmte dahin mit fliegenden Locken, den Fuß auf die Leiche des Bruders gesetzt. Stürmte vorbei an den Wohnungen der Menschen, über rasselnde Brücken, über Niederungen und Höhen, durch wogende Felder, durch schweigende Öde. Endlich sausten die Rosse einen jähen, breiten Waldweg hinab und brachen in die Tiefe nieder, ein wilder, lebendiger Knäuel. Neben ihnen, besinnungslos, lag der König.

Als er zum Bewußtsein erwachte, war es Nacht, der Mond schien hell und leuchtend in den Talkessel hinein. Im Scheine seines weißen Lichtes entwirrte der König die Zügel und Stränge, in denen die Pferde sich verwickelt hatten, half ihnen auf und gab ihnen die Freiheit. Dann begrub er seinen Bruder unter den hohen Bäumen und wanderte fort; wanderte bei Nacht, verbarg sich bei Tag und gelangte bis an die äußerste Grenze seines Landes. In einem Dorfe tauschte er seine Kleider mit denen eines Hirten und lebte jahrelang unerkannt bald da, bald dort pflegte die Kranken, betreute die Greise und die Kinder und wunderte sich, wenn er bei diesen Kindern Fehler wieder fand, die er meinte aus der Welt geschafft zu haben. Und er verwies sie ihnen teils mit Strenge, teils mit Sanftmut und stand ihnen liebreich bei im Kampfe menschlicher Schwäche mit menschlichem Vervollkommnungstrieb.

Er war ein reifer Mann geworden und ruhte eines Abends nach angestrengtem Tagwerk vor seiner Hütte, die er bewohnte, aus. Da näherte sich ihm ein Weib, steinalt, aber rüstig, mit ernsten, klaren Augen, und wollte bei ihm bleiben und ihm dienen.

Und er, statt ihr zu danken, sprach vorwurfsvoll:

„Erfahrung, verläßlichste, unentbehrlichste Führerin, warum hast du dich fern von mir gehalten in den Tagen meiner Macht?

Jetzt kommst du zu spät!“

Seufzend antwortete die alte Mutter:

„Das ist mein schweres, mein gewohntes Los!“

 

aus ICH Frühling 97