Verwunderliche Verwunderung. Erwiderung auf den Beitrag „Wissen“-schaft?

von John Erpenbeck

Als Mitglied des Redaktionsbeirats der „Ich“ möchte und muß ich meine Gegenmeinung zu Andreas Peglaus Beitrag „Wissen“-schaft? äußern. Differierende Meinungen sind in unserem Beirat selbstverständlich, werden aber selten öffentlich erkennbar; hier scheint es mir notwendig, sie erkennbar zu machen. In aller Kürze:

Wissenschaftler sind normale Menschen. Unter ihnen gibt es Idealisten und Ignoranten, Wahrheitsfanatiker und Lügner. Ihre Arbeit ist von Interessen geleitet – wie die jedes anderen Menschen. Besonders wenn es um technische

Umsetzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse geht, die eine halbwegs wirtschaftliche Bedeutung haben. Insofern ist den Untersuchungen von Richard Milton durchaus beizupflichten. Andreas Peglaus Verwunderung über diese simple Tatsache ist verwunderlich. Unannehmbar ist die Behauptung, wertende Erkenntnisinteressen verhinderten wertfreie Wissenschaftsresultate. Es ist gerade das Geheimnis vielfältiger Brauchbarkeit – und Mißbrauchbarkeit – wissenschaftlicher Ergebnisse, daß in ihnen die ursprünglichen Erkenntnis- und Verwertungsinteressen nicht mehr enthalten sind.

Eine andere Frage ist die Wahrheit oder Falschheit wissenschaftlicher Aussagen, die mit dem Fälscher-Buch Di Trocchios („Der große Schwindel“) angesprochen ist. Auch hier verwundert zunächst die Verwunderung über die Tatsache, daß es in der Wissenschaftsgeschichte Fälschungen, Mogeleien und ein „Zurechtbiegen“ von Experimenten gibt. Abgesehen von der Tatsache, daß die heute gültigen methodischen Standards für experimentelles Arbeiten noch keine zweihundert Jahre alt sind (und deshalb die Vorwürfe an die Adresse Galileis und Newtons idiotisch), liegt der ganzen Argumentation der simple Denkfehler zugrunde, man könne allein durch die Qualität der Experimente über die Wahrheit oder Falschheit einer wissenschaftlichen Erklärung urteilen. Dazu ist der wissenschaftstheoretisch weit durchforschte Zusammenhang von theoretischer Hypothese, experimenteller Prüfung und letztendlicher Verifikation oder Falsifikation denn doch zu kompliziert.

Man kann eine zweifelhafte Theorie (etwa die des Mesmerismus, daß es tierischen Magnetismus gebe) mit durchaus schlüssigen Erfolgen „beweisen“. Manche sinnvolle Theorie (etwa die der Existenz von Quarks in der Quantentheorie) ermangelte jahrelang experimenteller Beweise, hatte zunächst nicht mehr für sich, als innertheoretische Plausibilität. Eine Theorie kann durchaus richtig sein, auch wenn sich die seinerzeit gebrachten experimentellen Beweise als falsch oder ungenau herausstellen (die besten Beispiele liegen gerade in Galileis und Newtons Versuchen). Eine Theorie kann vollkommen falsch sein, auch wenn sich die gebrachten Beweise wiederholen lassen (so lassen sich Mesmers Erfolge mühelos reproduzieren, dennoch nimmt kein vernünftiger Arzt oder Physiologe seine Erklärungen des tierischen Magnetismus mehr ernst). Theoretische Erklärungen sind – und bleiben – Hypothesen, aus denen experimentell verifizierbare Prognosen abgeleitet werden. Es gibt allerdings keine endgültige Verifikation, sondern nur eine Erhöhung der Hypothesenwahrscheinlichkeit. Gelingt es auch nur in einem Falle, die Hypothese eindeutig zu widerlegen, ist dies der Tod der gesamten theoretischen Erklärung – so das berühmte Falsifikationismus-Prinzip Karl Poppers.

Ohne auf die theoretischen Probleme einzugehen, die auch dieses Prinzip birgt, folgt daraus schon eine fatale Asymmetrie:

Die Menschheit kann fünfhundert Jahre lang erklären, daß es ein perpetuum mobile nicht gibt und aufgrund tiefgründiger physikalischer Energieerhaltungs-Zusammenhänge auch nicht geben kann – eine ziemlich sichere Verifikation. Wenn aber der Bau eines einzigen perpetuum mobiles gelänge, wäre die gesamte Erklärung hinfällig, wäre falsifiziert. Deshalb muß also, wenn mal wieder jemand behauptet, er habe nun endlich ein solches gefunden, diese Behauptung mühsam in einzelnen widerlegt werden. Eine unendliche Geschichte. Auch wenn immer wieder unter definierten Bedingungen nachgewiesen werden kann, daß die Wahrscheinlichkeit, mit einer Wünschelrute Wasser zu finden, der reinen Zufallswahrscheinlichkeit entspricht, so muß dennoch jede Behauptung, in einem besonderen Falle, unter bestimmten Umständen, mit bestimmten Materialien seien Wünschelruteneffekte doch möglich, neu geprüft werden. Auch dies eine unendliche Geschichte.

Dabei geht es dem seriösen Wissenschaftler wie dem Hasen im Märchen: Hat er endlich mühsam bewiesen, daß der neue Effekt einer exakten Prüfung nicht standhält, erfindet sein Igel – Konkurrent flugs eine neue, totsicher erfolgreiche Variante und ruft: Ich bin schon da! Zwar hat er betrogen, doch gehört ihm unsere ganze Sympathie. Schön wär’s doch, wenn er recht behielte: Wenn es ein perpetuum mobile gäbe und die Wünschelrute funktionierte! Deshalb ist der Aberglaube unausrottbar …

Je mehr wir wissen, desto größer wird die Menge des Ungewußten, des noch zu Erforschenden. Diese Tatsache öffnet gleichermaßen zukünftiger Forschung wie gegenwärtigem Aberglauben Tür und Tor. Beide sind zuweilen schwer zu unterscheiden. Es ist aber fragwürdig, aus der Interessenbehaftetheit von Wissenschaft (Milton) und aus der Möglichkeit wissenschaftlicher Fälschung (Di Trocchio) die Legitimation für die zugegebenermaßen reizvollen Wissenschaftsphantasien von Rupert Sheldrake ( „Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten“) zu gewinnen.

Ganz sicher gibt es Phänomene, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Ob man dafür aber die ehrwürdige, über hundertjährige, tausendmal widerlegte Theorie der Lebensenergie erneut aufleben lassen muß, ist mehr als dubios. Wenn jemand eine neue Energieform postuliert, muß er sie physikalisch erklären – nicht nur auf beobachtbare Effekte verweisen, die sich dann jeweils mit anderen Modellen genauso gut deuten lassen. Diese Erklärung bleibt Sheldrake aber schuldig. Und solange die nicht erfolgt, ist kaum zu erwarten, daß die Physik bereit sein wird, ihre gut gegründeten Vorstellungen von Energie, Energieformen, Energieerhaltung und Energieumwandlung zu ändern.

 

aus ICH Herbst 1997