Geistige Evolution und neue Kultur. Die Suche nach dem Zentrum und die Antwort, die wir heute geben können

von Dieter Duhm

Dieter Duhm, Jahrgang 1942, ist Psychotherapeut und Kunsthistoriker. Seine psychotherapeutische Praxis führte ihn zu der Erkenntnis, daß ein bloßes Kurieren individueller Probleme nicht ausreicht: Die gesamte Gesellschaft und insbesondere die Art und Weise unseres Zusammenlebens muß sich ändern – zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern, zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen. Er selbst benennt sein Konzept als sexuellen und ökologischen Humanismus. Daraus entstanden verschiedene, in der Öffentlichkeit teilweise kontrovers diskutierte Projekte.

Den folgenden Text schrieb er 1981.

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Die Weltsituation treibt einem Explosionspunkt entgegen. Die Entwicklung steuert auf einen globalen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation. Diese ungewöhnliche Situation nötigt zu einer ungewöhnlichen Antwort. Beim heutigen Stand unserer geschichtlichen Erfahrung und unseres Wissens vom Menschen glaube ich, daß wir sie im Ansatz geben können. Zuerst will ich rekapitulieren, was geschehen ist.

1.

Irgendwann in der Geschichte des werdenden Menschen sah sich der menschliche Geist genötigt, sich gegen den Körper und seine sinnlichen Bedürfnisse zu richten. Damit war der Weg vorbereitet, auf dem sich der Mensch vom Gesamtorganismus der Natur, dem er ganz und gar zugehört, entfernte. Die überrumpelte Natur des Menschen wehrte sich bewußtlos auf ihre Weise. Jeder Kulturbau, der jetzt stattfand, wurde bezahlt durch eine Unmenge von Mut und Blut. Die Gesellschaften wurden aufgebaut gegen die biologischen Grundbedürfnisse des Menschen und gegen die Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen. Die Geschichte gleicht seitdem einem Tanz um eine unbekannte Mitte.

Es kam die Zeit der großen Religionen. Dem irdischen Elend wurde ein besseres Jenseits entgegengehalten. In esoterischen Lehren, in Mysterienkulten, in religiösen Ritualen und in moralischen Programmen wurde ein Weg zur Mitte gewiesen, der nur für wenige gangbar, aber um so mächtiger war. Die Heilsvorstellung war im Prinzip immer überall dieselbe: Die Erlösung bestand darin, daß sich die seelische Welt so weit wie möglich von der körperlichen löste, denn die religiöse war gleichbedeutend mit Sünde oder Kerker oder Maya. Dem entsprachen die Gedanken von Askese, Nirwana und Jenseits. Ziel war die Überwindung des Körpers, die Überwindung der Sinnlichkeit, die Überwindung des irdischen Elends durch geistige Übungen. Wir finden die Grundidee bei allen religiösen Führern, von Buddha bis Aurobindo, von Platon bis Rudolf Steiner, von Paulus bis Papst Johannes. Diese Idee war keineswegs falsch. Da die Seele tatsächlich ein selbständiges Gebilde ist, das sich tatsächlich (z. B. in alten Einweihungskulten, in religiöser Ekstase, im LSD-Erlebnis in Grenzerfahrungen und in Todesnähe) vom Körper befreien kann, war diese Heilsvorstellung realistisch, sie entsprach einer realen menschlichen Möglichkeit. Aber: sie lenkte das Heilsinteresse weg vom irdischen Alltag und weg von allen irdischen Sehnsüchten des Menschen. Die Scheußlichkeiten auf der Erde gingen ungehindert weiter.

2.

Auf der Suche nach dem Zentrum entstanden neben dem religiösen noch zwei weitere Wege: die Wissenschaft bzw. Philosophie und die Kunst. Für das aufkommende intellektuelle Bewußtsein war die Frage nach Gott gleichbedeutend mit der Frage nach der Wahrheit. Wir müssen vertraut sein mit dem religiösen Rang und Tiefgang dieser Wahrheitsfrage, um zu verstehen, warum Sokrates fähig war, den Schierlingsbecher zu trinken und warum Giordano Bruno nicht einmal vor dem Scheiterhaufen zum Widerruf bereit war.

In der Kunst tauchten neue individuelle Formen auf, welche die Alltagswelt ekstatisch transzendierten. Beethoven, von Gogh, Nietzsche (der unübertroffene Sprachkünstler) – exemplarische Höhepunkte eines Kunstimpulses, der den Menschen nicht aus der Freiheit, sondern aus der Bedrängnis heraus zum Durchbruch brachte. Zweifellos war die Transformation kurzzeitig gelungen, das Zentrum gefunden – die Werke bezeugen es. Aber der Alltag und das gesellschaftliche Leben blieben unverändert.

Weder der Weg der Wissenschaft noch der Weg der Kunst konnten sich als existentieller Weg geschichtlich und gesellschaftlich durchsetzen. Wo immer die Masse mit existentiellen Fragen konfrontiert war, suchte sie Antwort in der Religion.

3.

Neben der religiösen Heilsidee in der menschlichen Geistesgeschichte entwickelte sich – viel später erst aufkommend und auch heute noch unausgegoren – die politische. Sie fand im Marxismus ihre bis dahin eindeutige philosophische Formulierung. Die epochale Idee Marxens war die totale Säkularisierung religiöser Befreiungsideen und die Errichtung des Heils nicht im Himmel, sondern in der irdischen, materiellen Welt. Die Religion sollte nicht einfach beseitigt, sondern aufgehoben werden, indem ihr Ziel und ihr Erbe auf Erden realisiert werden. „Die Kritik der Religion“, sagte Marx, „endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Marx suchte den Weg zum Zentrum in der materiellen Arbeit, denn in ihr sah er das Urbild und die Urtätigkeit menschlicher Vergegenständlichung, Selbstverwirklichung und Selbstbewußtwerdung. Er sah, wie durch die Organisation der Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise den Menschen gerade diese Möglichkeit genommen war. Seine Befreiungsidee gründete deshalb auf einer Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Durch eine Neuordnung der menschlichen Arbeit ohne Klassenherrschaft und Entfremdung sollte der Mensch sein Zentrum und seine Heimat in seiner konkreten gesellschaftlichen Praxis finden. Dies war die bislang revolutionärste geistige Tat des menschlichen Prometheus, ein Mutationssprung in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes. Aber der Marxismus war noch nicht in der Lage, seine Idee von der politischen Selbstbefreiung des Menschen tief genug zu denken und zu formulieren. Seine polit-ökonomische Theorie bot in Wahrheit noch kein volles Äquivalent zur religiösen Heilsidee, der Mensch war darin noch nicht tief genug ausgelotet, seine Entfremdung und seine letzte Sehnsucht noch nicht tief genug verstanden. Das wirkliche und letzte Ziel politischer Arbeit, die tiefste Humanität und Heimat auf Erden, blieb irgendwo noch im Dunkeln.

4.

Der nächste fundamentale Impuls zur Säkularisierung des Heils, so tief und so weltlich wie der marxistische, aber an ganz anderer Stelle ansetzend, kam durch die Psychoanalyse. In ihrem authentischen menschlichen Motiv war sie zunächst einmal ein Akt der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Der Puritaner Sigmund Freud mißtraute dem scheinheiligen Gehabe seiner Zeit, der viktorianischen Ära. Er blickte in sich und erkannte das Übermaß seiner sexuellen Bedürfnisse. Er verstand sofort die allgemeine Gültigkeit dieser Situation, und er wußte, daß hier, im libidinösen Bereich, das unterdrückte und nicht realisierte Zentrum liegen mußte. Das religiöse Jenseits hatte er auf diese Weise ins ordinärste Diesseits gebracht. Dort aber zeigte es sich – ähnlich wie die Arbeit bei Marx – in einem Zustand höchster Not und Perversion, weil es dermaßen lange eine unterdrückte, beleidigte, geschundene und verlogene Existenz führen mußte. Freud erkannte als Folge der moralischen Sexualblockierung und der familiären Sexualstruktur die tiefe seelische Gefangenschaft des erwachsenen Menschen in einer unbewußten Trieb- und Angstwelt von Projektionen, Fixierungen und unausgelebten Phantasien. Er wußte, daß dieser psychische Underground beseitigt werden muß, wenn der Mensch je wirklich frei sein will.

Freuds Entdeckungen hätten den Zündstoff einer gewaltigen Kulturrevolution enthalten, hätte er selbst nicht durch seine kniefällige Sublimierungstheorie, mit der er die Nötigung zum Triebverzicht rechtfertigte, einen Riegel vorgeschoben. In dem Kampf zwischen Bedürfnis und Gesellschaft stellte er sich schließlich auf die Seite der Gesellschaft, vermutlich um seine gesellschaftliche Existenz zu retten. Wir sind berechtigt, in diesem Akt der Revision eine Schranke seiner Zeit zu sehen und die abgebrochenen Wahrheiten über diese Schranke hinaus zu verfolgen.

5.

Der nächste große Pionier, der den Riegel wieder entfernte, war Freuds Nachfolger Wilhelm Reich. In einer ungewöhnlichen Entdeckungsreise, die hier nicht einmal annähernd skizziert werden kann, erkannte Reich die Identität von Sexualenergie und universeller Lebensenergie. Von da an ging sein Weg zum Zentrum konsequent in die „untersten“ biologischen, animalischen und vegetativen Schichten der menschlichen Existenz. Im sexuellen Orgasmus fand er den Prototyp und den Schlüssel zum Verständnis biologischer Grundfunktionen im gesamten Körpergewebe: Funktionen wie Pulsation, Peristaltik, Spannung und Entspannung, Aufladung und Entladung, Kontraktion und Weitung. Er bezeichnete diese Vorgänge wegen ihrer energetischen Natur als bioenergetische Funktionsprinzipien. Diese Funktionsweisen sind universeller Natur, d. h. sie sind ein Teil der universellen Lebensordnung. Mit dieser Entdeckung einer universellen Lebensordnung im triebdynamischen Bereich war eine Vision der Befreiung möglich geworden, welche, wenn sie von einer genügenden Anzahl von Menschen getragen würde, zur fundamentalen Grundlegung einer neuen Kultur führen könnte. Das religiöse Element, das immer in der Vereinigung mit der übergeordneten kosmischen Welt bestanden hatte, konnte jetzt eingelöst werden durch eine bewußte Verbindung des Menschen mit seinen elementaren Lebensfunktionen, denn der Kosmos war jetzt im Körper gegenwärtig. Die Heilsmöglichkeit, die Reich hier fand, bezeichnete er schlicht als Gesundheit. Können sich die biologischen Grundfunktionen frei bestätigen, so ist der Organismus, auch der seelische und geistige, mit der universellen Lebensordnung verbunden und im Kern gesund. Sind sie aber blockiert und gestört, so ist der Organismus aus der universellen Lebensordnung herausgefallen und im Kern krank. Entsprechend ist eine Gesellschaft, in der die biologischen Energieströme frei fließen können, im Kern gesund. Eine Gesellschaft, in der sie blockiert sind, ist krank.

Reichs kategorische Forderung für eine humane Kultur bestand deshalb darin, die soziale Welt so umzugestalten, daß in den konkreten emotionellen und sexuellen Verkehrsformen der Menschen ihre Panzerung abschmelzen kann und nie wieder zu entstehen braucht. Vielleicht war das der tiefste politische Gedanke, der jemals gedacht wurde. Auf jeden Fall war er zu tief, um von irgendwelchen relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen bislang verstanden zu werden. Heute ändert sich die Situation. Mit der ökologischen Bewegung tritt zum ersten Mal eine politische Gruppierung auf, welche das Leben selbst und seinen Schutz zum Thema der Politik macht. In diesem Zusammenhang müssen Reichs Gedanken aktualisiert werden, um zu einer fundierten Ökologie der menschlichen Beziehungen zu kommen. Die konkrete menschliche Realisierung eines ökologischen Humanismus ist ohne die Kenntnisnahme bioenergetischer und sexualpsychologischer Zusammenhänge kaum möglich.

6.

Mit dem Werk Wilhelm Reichs war die Rehabilitierung des Körpers philosophisch beendet. Die Seele brauchte ihre Heimat nicht mehr außerhalb des Körpers zu suchen. Die Denkschranken, an denen noch Freud resignierte, waren überwunden. Marxens großer politischer Gedanke, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes Wesen ist, konnte nun radikal zu Ende gedacht werden. Alle Verhältnisse: das sind die Verhältnisse der Arbeit und die psychischen Verhältnisse in den emotionellen und sexuellen Beziehungen der Menschen. Umzubilden ist die Organisation des Arbeitslebens – das sind alle diejenigen sozialen Formen einer Gesellschaft, in denen die libidinösen Energien der Menschen gelenkt, kanalisiert und unterdrückt werden. Im Zentrum der sozialen Organisationen libidinöser Energien standen bislang die Einrichtungen von Ehe und Kleinfamilie. Da der Liebesraum, den sie bieten können, in den meisten Fällen viel zu eng ist, um die Energien frei strömen zu lassen, werden sie sich nach und nach in offenere Formen umwandeln müssen. Das ist der Schluß, den auch Reich noch nicht zu ziehen wagte, der aber aus seinen Befunden eindeutig hervorgeht: eine neue Gesellschaft, die frei sein soll von Körperpanzer und emotioneller Pest, braucht neue Formen der Liebe und Sexualität, worin weit mehr Offenheit, Vielfalt und Lebendigkeit möglich ist als es bisher der Fall war.

Zwei grundsätzliche Fragen sind also zu beantworten. Erstens: Wie schaffen wir eine gesellschaftliche Produktionsweise, die den Menschen Würde, Lebendigkeit und schöpferische Arbeit erlaubt?

Zweitens: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, wo die sexuelle Zuwendung eines Menschen zu einem anderen in einem dritten keine Verlustangst, keine Lähmung und keinen Haß hervorruft? – Zu entwickeln sind neue Formen menschlicher Gemeinschaft, die dem einzelnen soviel schöpferisches Leben, liebende Kommunikation und Selbstverwirklichung ermöglichen, daß niemand mehr zur Erfüllung seiner Lebenswünsche auf die Beziehung zu einem einzigen Partner angewiesen ist. Wir dürfen davon überzeugt sein, daß dann auch die Liebe zwischen zwei Menschen ein weicheres und humaneres Gesicht bekäme.

7.

Wilhelm Reich war tatsächlich ins Zentrum vorgedrungen. Er wußte das, und er wußte auch, daß er damit alle lebensfeindlichen Geister der Alten Welt auf den Plan gerufen hatte. Was hatte er eigentlich entdeckt? Die Erlösung des Menschen sollte darin bestehen, daß die sexuelle Lebensenergie und die Lebensenergie überhaupt frei durch seinen Körper strömen kann?

Wer diesen Zustand an sich selbst erlebt hat, der weiß, worum es hier geht. Wenn die inneren Schranken fallen, wenn die Seele nicht mehr mit Angst und Absicherung belastet ist, wenn die Energien durch den Körper strömen, wenn die Bewegungen leicht und geschmeidig werden und der Atem tief, wenn der ganze Organismus mit allen seinen Sinnen auf einmal ganz wach in der Welt steht, dann stellen sich Erfahrungen ein, die wahrlich vom Stoff einer konkreten Utopie sind. Die Welt wird ein Stück transparenter. Man spürt, daß sie lebt. Die Landschaft, die ich anschaue, ist nicht mehr nur ein Bild, sie ist ein Teil der Schöpfung. Man begreift: lebendig zu sein heißt teilhaben an der Schöpfung. Es ist wie eine elementare Berührung mit der Welt, mit dem Leben! Mit der Liebe! Und in dieser Berührung die unmißverständliche Erfahrung von Kraft, Identität und Sinn und Wahrheit! Keine Verstellung mehr, kein falsches Lächeln, keine Unruhe, sondern nur noch dieser unmittelbare Kontakt zu dieser ausgebreiteten Fülle. Eine Religion des Lebens, wo die Chiffren dieser Welt heller und transparenter werden, wo sich alle Sinne spitzen, weil uns etwas mit Ahnung, Erwartung, Erstaunen und Dankbarkeit erfüllt. Es ergeben sich neue Arten der Wahrnehmung, des Sehens, Tastens, Schmeckens, Riechens, des Ganges, des Fußaufsetzens auf die Erde. Man versteht auf einmal die Tiere, ihre Elastizität und ihre Ruhe, ihr Ohrenspitzen und ihre sprungbereite Kraft. Der Organismus wird in bemerkenswerter Weise leicht, durchlässig und musikalisch. Es liegt in dieser Erfahrung das Element von Vitalität und weicher Kraft, das wir an Tieren so bewundern. Es liegt darin auch ein Element von Intensität und Feier, welches zukunftsweisend ist für eine neue, sinnlich-vitale Art von diesseitiger Religiosität. Es ist die Religiosität einer universellen Liebe, die auf einmal ganz von selbst aus dem Zentrum strebt. Wie können wir jetzt lieben – Frauen, Kinder, Tiere, Gräser und die ganze Welt. Kein Zweifel, der Mensch, der diese Erfahrungen macht, befindet sich jetzt in seinem Zentrum. Kein Zweifel, wäre er immer in diesem Zentrum gewesen, er hätte nie ein anderes gesucht.

Damit man mich nicht mißversteht: in diesem Zentrum sein heißt nicht nur lieben, es heißt auch zornig sein, kämpfen können und sich von niemandem belügen zu lassen. Blochs aufrechter Gang – hier ist er tiefste biologische Wirklichkeit. Es wird sichtbar die latente und eigentliche Gestalt des Menschen, die sich von selbst aus der Funktionsweise des Lebendigen ergibt, wo es nicht gestoppt, unterdrückt, verdrängt wird. Es ist eine sittliche und schöne Gestalt. Ihre Merkmale sind: Weichheit ohne Schwäche, Kraft ohne Herrschaft, Festigkeit ohne Härte, Klarheit ohne Kälte, Spannung ohne Verkrampfung, Haltung ohne Starrheit, Schönheit ohne Eitelkeit, Anpassung ohne Selbstaufgabe, Einfühlung ohne Sentimentalität, Ausstrahlung ohne Manipulation.

Reich sah in diesem Zustand die autonome Wirkweise des Lebendigen im ungepanzerten Menschen. Wer solche echten Alternativerfahrungen bewußt durchlebt hat, der weiß mehr über sein alltägliches Leben, er weiß, wie gestaut, belastet, ängstlich und bedrängt er normalerweise lebt, wie vernebelt seine Sinne sind, wie diffus seine Aufmerksamkeit, wieviel Schichten ihn vom Lebendigen trennen. Er weiß, was Reich mit dem Körperpanzer meinte. Er weiß auch, wieviele Religionen, Moralen und Ideologien der Mensch schon geschaffen hat und heute noch schafft aus keinem anderen Grund als dem seines Getrenntseins vom Lebendigen. Er beginnt, die Sehnsucht in seinen sexuellen Phantasien zu verstehen, und er ahnt, welche Macht ihn so elektrisieren kann beim Anblick einer Frau. Es ist die Macht der gestauten Sehnsucht nach Teilhabe am Leben, nach Vereinigung und Auflösung aller Schranken. Es ist die Macht des Lebens selbst, das so lange hinter Angstmauern gestaut war und endlich, endlich zur Erfüllung kommen will. Jeder durchscheinende Busen und jeder Porno kann zum Signal werden für nichtgelebtes Leben. Und weil es – gerade im sexuellen Bereich – oft so unfrei, so gestaut und vermischt mit Angst zu Tage tritt, deshalb verstecken wir es, wehren es ab und diffamieren es. Wir alle leben hier in einer Komplizenschaft der Verstellung. Manch einer merkt dabei, was für eine Lächerlichkeit sein alltägliches Leben ist, angesichts der Sehnsüchte, die er wirklich hat. Von Generation zu Generation lebt der Mensch in diesem Teufelskreis gestauter Energien und oft genug hat sich dabei der blockierte Eros in Sadismus und Haß entladen. Es wird Zeit, einen anderen Ausweg zu finden.

Als Bollwerk gegen den asozialen Charakter seiner unterdrückten Energien diente dem Menschen die Moral. Mit ihr aber wurde die Unterdrückung nicht beseitigt, sondern verinnerlicht. Damit wurde genau der genannte Teufelskreis in Gang gesetzt, dem bislang noch keine Religion und keine Friedensideologie gewachsen war.

Die Humanisierung der menschlichen Welt bleibt solange ein bloßer Appell, wie ihre biologischen und energetischen Voraussetzungen nicht gesehen und geschaffen sind. Der alte religiöse Antagonismus zwischen den Kräften des Lichts und denen der Finsternis entspringt derselben Lebensenergie. Ist sie blockiert und fehlgeleitet, so entsteht die Finsternis. Das Böse ist das unterdrückte Gute. Wir haben deshalb den Satan nicht zu bekämpfen und zu besiegen, wir haben ihn zu erlösen.

8.

Die Entfremdung unserer Kultur ist im Tiefsten eine biologische. Sie besteht im Verlust des Lebendigen und des Sinns fürs Lebendige. Das beweist jedes moderne Krankenhaus einschließlich der merkwürdigen Art von Medizin, die darin betrieben wird. Durch seine Körperpanzer, die betonierte Umwelt und die seelische Aushöhlung seiner menschlichen Beziehungen lebt der heutige Mensch in einem inneren Engezustand, der ihm keine Ruhe, keine Tiefe und keine Weite läßt zur Fundamentalerfahrung des Lebendigen. Enge = Angst. Die biologische Kulturkrankheit unserer Zeit ist die Angst, und Angst ist in ihrer biologischen Funktionsweise der Antagonismus der Liebe. Aus der Enge und aus dem Gefühl der Bedrängnis entsteht die steigende Aggressivität und Brutalität der Gesellschaft.

Die Antwort, die wir suchen, kann heute theoretisch gegeben werden. Zu errichten ist eine Kultur und Gesellschaft, wo der Mensch von innen, also von seinen biologisch-organischen Lebenstätigkeiten her mit dem Lebendigen verbunden ist. Unser inneres Zentrum wird dann gegenwärtig sein, wenn dieses Ziel soziale Gestalt angenommen hat in einer neuen Ordnung menschlicher Beziehungen, in neuen sozialen Formen der Liebe, in einer neuen Pädagogik, Medizin und Architektur und in einer neuen Arbeitsorganisation.

Wir brauchen mit dem Aufbau einer solchen lebensgesetzlichen Kultur nicht zu warten, bis das bestehende System zerbrochen ist. Wir brauchen es auch nicht zu bekämpfen. Wir können jetzt anfangen, indem wir das Terrain bebauen, das es von selbst verliert. Dieses Terrain sind vor allem die elementaren Bedürfnisse nach Lebendigkeit, Gemeinschaft, Liebe, Gesundheit und schöpferischer Arbeit, die von der bestehenden Gesellschaft immer weniger erfüllt werden können.

Es gehört zu den Grundgedanken der ökologischen Bewegung, autonome Zentren zu errichten, worin modellhaft alle Aspekte der neuen Kultur realisiert werden. Wir besitzen heute sowohl das technologische als auch das psychologische Wissen, um solche funktionsfähigen Zentren bzw. Siedlungen aufzubauen. Es kommt jetzt darauf an, daß die Willenskräfte zusammenkommen, die in der Lage sind, ein solches Werk durchzusetzen. Aufzubauen ist u. a. eine finanzielle Organisation, welche für den Anfang die Gelder bereitstellt. Aufzubauen ist dann vor allem ein eigenes Produktionssystem, durch welches sich die Gemeinschaft selbst tragen kann. Die Kultur, die wir verwirklichen wollen, braucht ein neues Energieversorgungssystem, eine neue Architektur, eine neue Medizin, gesunde Ernährung, eine auf Recycling basierende Technologie und neue Mittel für Ausbildung und Forschung. Da diese elementaren Bedarfsgüter von der bestehenden Gesellschaft nicht produziert werden, müssen wir sie in eigener Produktion herstellen. Die Ablösung des bestehenden Wirtschaftssystems durch ein neues ergibt sich auf diese Weise von selbst. Durch die Notwendigkeit zur Produktion eigener Güter ergibt sich auch die Gelegenheit zum Aufbau einer eigenen Produktionsweise. Aufzubauen sind eigene Betriebe, in denen neue Formen von Transparenz, Kooperation und schöpferischer Arbeit realisiert sind. Sie sind eingegliedert in den Lebenszusammenhang der Gemeinschaft, für deren Bedürfnisse sie tätig sind.

9.

Wir haben mit unseren Gedanken einer neuen Lebenskultur einen Punkt erreicht, wo uns keine Tradition und keine Moral mehr unterstützen wird. Wir, die wir eine lebenswerte Zukunft einleiten wollen, sind in der einmaligen Situation, alle Fragen selber stellen und alle Antworten selber finden zu müssen. Fangen wir also an, uns nach und nach zu entkleiden, legen wir unsere ideologischen Hüllen ab, eine nach der anderen, immer darauf achtend, was wir selbst eigentlich und wirklich wollen. Es kommt unausweichlich zu dieser großen und bewußten Konfrontation mit uns selbst, unserem eigenen Ich. Seien wir nicht so feig, dieses Ich gleich zu entwürdigen und ihm eine höhere, ichlose Welt entgegenzuhalten. Wir haben unser Ich noch gar nicht erreicht. Zu lange haben Ideologien, Gurus und die Kulturhypnose der Vergangenheit unsere Meinungen bestimmt. Wenn wir es wieder haben, unser Ich, wenn wir wirklich und mit ganzem Leib wieder wir sind, dann wollen wir uns aufrichten und sagen, was wir wirklich sehen. Wir sehen eine Welt der Verstellung und Scheinheiligkeit. Wir verurteilen nicht, wir sehen sie. Eine Welt der verbauten Liebe, in deren sinnlichstes und geistigstes Inneres sich eine große, heimliche Lüge eingenistet hat. Wir alle sind ihre Komplizen. Wir Marxisten, wir Ökologen, wir Theoretiker, wir Praktiker, wir Musiker und Dichter und schönen Seelen – wir schmieden täglich immer noch unser Komplott gegen die Liebe, gegen die liebende Sinnlichkeit, gegen die wärmende und befreiende Kraft des Lebens, gegen diese einfachste und größte Wahrheit aller Kreatur. Wir würden uns auf der Stelle in ein Meer von Tränen auflösen, wenn wir wirklich fühlen können, was wir uns und allen Mitgeschöpfen damit antun. – Von dieser Erkenntnis gibt es kein Zurück. Es geht um die Befreiung der Sinnlichkeit und um den freien Eintritt in die sinnliche, energetische, geheimnisvolle Welt. Blochs Heimat liegt in der Liebe, und das große Nondum, das Uneingelöste der Geschichte, liegt in dieser größten uneingelösten Sehnsucht des Menschen.

Wir verstoßen mit unserer Entscheidung gegen ein jahrtausendealtes Kulturprogramm. Aber noch nie haben sich Mutationen in der Evolution des werdenden Menschen reibungslos vollzogen. Wir werden unser Ziel nicht gleich erreichen, wir können aber die Weichen stellen. Wer unsere Ideen versteht, möge uns dabei helfen.

 

 

Den obigen Beitrag übernahmen wir mit freundlicher Genehmigung von Dieter Duhm der Zeitschrift „Emotion“, Ausgabe 3, 1981.

 

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