Michael Froese, befragt von Andreas Peglau
Was ist eine Selbsthilfegruppe?
Ein freiwilliger Zusammenschluß von Menschen, die ein gemeinsames Problem gemeinsam – und ohne einen Experten – bewältigen wollen. Die Gruppe bestimmt selbst, wie oft und wann sie sich trifft und welche Themen wie behandelt werden. Ein Experte kann zwar bei Bedarf hinzugezogen werden, hat aber in der Regel höchstens eine beratende Funktion, z. B. in der Startphase oder bei auftretenden größeren Schwierigkeiten in der Arbeit der Selbsthilfegruppe (SHG). Das gemeinsame Problem kann bestehen z. B. in einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, einer Krebserkrankung, Multipler Sklerose, Rheuma, bestimmten Ängsten oder Phobien (Platzangst, Höhenangst o. ä.), in belastenden Lebenssituationen, nach einer Scheidung oder nach dem Tod eines Partners oder Kindes, als Alleinerziehender oder als Angehöriger gesellschaftlich diskriminierter Gruppen. Oftmals entstehen SHG’n als Resultat und Fortsetzung gemeinsamer Psychotherapie-Erfahrungen.
Wer kann eine Selbsthilfegruppe aufbauen?
Jeder, der es aufgrund eines eigenen Problems für notwendig hält und sich zutraut, mehrere Menschen mit ähnlichen Problemen um sich zu versammeln. Ein erster Schritt könnte die über ein Massenmedium veröffentlichte Anzeige bzw. der Aufruf zur Gründung einer SHG sein, versehen mit Kontaktadresse oder Telefonnummer. Zu empfehlen – aber nicht unumgänglich – ist die gleichzeitige Kontaktaufnahme zu einem Experten (z.B. einem Sozialpsychologen oder einem Psychotherapeuten mit Erfahrungen in Gruppentherapie) bzw. zu einer bereits funktionierenden SHG zwecks Erfahrungsaustausch.
Welche Hilfe können sich Laien gegenseitig geben?
Zum einen sind sie in bezug auf ihr ganz individuelles Problem keine Laien, sondern Experten. Kein anderer weiß so gut wie sie, was sie erleben, fühlen, leiden. Sie sind also durchaus kompetent, darüber zu sprechen und anderen etwas mitzuteilen.
Zum anderen sind die genannten Probleme oftmals verbunden mit Kontaktverlust und zunehmender Isolation. Die SHG durchbricht diese Isolation und die ,,Mauer des Schweigens“, die um viele Probleme und Krankheiten herum aufgebaut sind. Über ein Problem reden zu können ist oft der erste Schritt, um dieses Problem zu bewältigen, zu lindern, zu verstehen oder überhaupt damit umgehen zu können.
Hilfreich ist darüber hinaus oft die Erkenntnis, daß man nicht der einzige ist, ,,den es getroffen hat“, daß es anderen vielleicht sogar schlechter geht. Man lernt, seine Probleme einzuordnen, und man lernt andere Strategien kennen, dieses Problem zu bewältigen. Auch die Erfahrung, daß man in der SHG nicht nur Hilfe empfängt, sondern auch Hilfe gibt, indem man ehrlich über sich spricht, ist wichtig.
Ist die Abwesenheit eines Fachmannes eine Notlösung oder eine Chance?
Eine Chance, da jedes Gruppenmitglied auf diese Weise gezwungen ist, mehr Verantwortung für das Geschehen in der Gruppe zu übernehmen – und damit auch für sich selbst. Die Anwesenheit eines Experten verleitet dagegen eher zu einer passiven Abwartehaltung, zu einem Delegieren der Verantwortung und einem Sich-der-Autorität-Fügen.
Wie könnte die erste Sitzung einer solchen Gruppe ablaufen?
Besondere Rituale sind nicht nötig. Aus der Situation ergeben sich bestimmte Verhaltensweisen, die sinnvoll sind, und Informationen, die ausgetauscht werden können. Zum Beispiel, daß man sich zunächst gegenseitig vorstellt, darüber spricht, wer man ist, warum man gekommen ist, was man hofft und erwartet und wovor man vielleicht auch Angst hat. Gut wäre es, sich auf klare Ziele zu verständigen: Wie oft und wo man sich treffen will, worüber man als erstes sprechen möchte, ob man nur sprechen oder auch andere Freizeitaktivitäten gemeinsam gestalten will, ob man Beratung von außerhalb oder Kontakte zu anderen Gruppen wünscht usw. Erfahrungsgemäß spielen dabei anfänglich organisatorische Fragen eine größere Rolle; und die persönlichen Probleme treten erst nach und nach in den Vordergrund.
Welche Schwierigkeiten können in der weiteren SHG-Arbeit auftreten?
Die Phase der Kontaktaufnahme verläuft in der Regel unkomplizierter, als die meisten annehmen. Viele anfängliche Berührungsängste verlieren sich schnell. Die erste Krise tritt vielfach nach dieser Eingewöhnungszeit auf, wenn man sich in der Gruppe geborgen fühlt und Angst hat, durch notwendige Offenheit oder Konfrontation mit anderen Gruppenmitgliedern diese Geborgenheit wieder zu verlieren. Um vorhandene Sympathien nicht aufs Spiel zu setzen, vermeidet man notwendige Kritik, hält mit seiner Meinung hinter dem Berg. Die sich dadurch aufstauenden, unbearbeiteten Spannungen können die weitere Entwicklung der Gruppenarbeit behindern und den Bestand der Gruppe überhaupt gefährden. Einzelne versuchen unter Umständen, dieser unangenehmen Situation auszuweichen, indem sie einfach nicht mehr zu den gemeinsamen Treffs erscheinen.
Die Überwindung dieser Krise, der Mut, ehrlicher zu sich und anderen zu sein, schafft allerdings zumeist erst die Voraussetzungen für eine wirklich konstruktive Arbeit der Gruppe. Eine weitere Schwierigkeit entsteht oft dadurch, daß die Abwesenheit vorgegebener Autoritätspersonen, die Notwendigkeit, selbst aktiv zu werden, Gruppenmitglieder verunsichert – die sich dann möglicherweise ein besonders selbstsicher erscheinendes Gruppenmitglied als eine Art ,,Therapeuten“- oder ,,Führer“-Ersatz erküren und selbst in der passiven Patientenrolle verharren. Auch hierbei gerät die Gruppenarbeit ins Stocken, da die Gruppenstrukturen ,,erstarren“ und feste Rollen entstehen, aus denen man erst wieder ausbrechen muß. Dabei wird die Chance vergeben, daß jeder sich sowohl als Hilfesuchender wie auch als Hilfegebender einbringen und erleben kann. Diese Krise kann gelöst werden, indem Außenstehende – z. B. Mitglieder anderer SHG’n oder Therapeuten – eingeladen werden, denen es aufgrund ihres Abstandes besser gelingt, solche starren Strukturen und immer wiederkehrende Verhaltensmuster der Gruppe zu erkennen und mitzuteilen.
Ist SHG-Arbeit als Dauerzustand anzustreben?
Das hängt von dem Problem ab, das im Mittelpunkt der Gruppenarbeit steht. Chronische Erkrankungen z. B. können eine dauerhafte SHG-Arbeit sinnvoll machen. Bei vorübergehenden Erkrankungen oder Problemen in bestimmten Lebensphasen wird sich eine zeitliche Begrenzung als günstig erweisen oder von selbst ergeben. Da der Zusammenschluß freiwillig ist, verliert er seine Grundlage für den einzelnen, wenn er sein Problem als gelöst oder als genügend bearbeitet und verstanden empfindet. Grundsätzlich sollten SHG’n aber nicht zu einem dauerhaften Ersatz für andere soziale Kontakte zu Freunden, Partnern, Kollegen werden und damit einer erneuten Isolation (wenn auch innerhalb einer Gruppe) Vorschub leisten.
Wo liegen die Grenzen der SHG-Arbeit?
Da, wo seelische Probleme besser durch eine angemessene Psychotherapie behandelt werden könnten. SHG’n ersetzen keine Psychotherapien, können aber im Vorfeld oder im Nachfeld davon sehr wichtig sein. Die Entscheidung, ob ich mich lieber einer Therapie unterziehe oder in einer SHG mitmache, kann ich natürlich kompetenter treffen, wenn ich zuvor bei einigen Gruppentreffen anwesend war. Sowohl gegenüber einer konkreten Therapie bzw. einem Therapeuten als auch gegenüber einer SHG sollte man sich seine Kritikfähigkeit bewahren – die Entscheidung, welche Möglichkeit ich als sinnvoller empfinde, liegt letzten Endes bei mir selbst.
Kommt SHG’n eine besondere Bedeutung in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation in der DDR zu?
Ja – sie könnte ein Trainingsfeld für Basisdemokratie sein, eine Chance, das Verhalten zu üben, das wir in der gesamten Gesellschaft brauchen: zu unseren Problemen und Gefühlen zu stehen, Kritikfähigkeit und Kontaktfähigkeit zu erwerben, Autoritätsduselei abzulegen, unsere Erwartungen und Ängste offen auszusprechen, unsere Lebensgeschichte und Vergangenheit bewußter zu verarbeiten, statt sie zu verdrängen.
aus ICH 1/ 90