Möglichkeiten und Grenzen der Selbstanalyse

Lutz von Werder, befragt von Andreas Peglau

Was ist Selbstanalyse?

Ein autobiografisches Verfahren, das auf Methoden der Tiefenpsychologie zurückgreift, um die während des Lebens entstandenen Beziehungen zwischen bewußtem „Ich“ und Unbewußtem aufzuhellen. Es zielt darauf ab, verdrängte Erfahrungen – vor allem aus der Kindheit – und Persönlichkeitsanteile wieder bewußt, d.h. verfügbar zu machen, für die Bewältigung aktueller Lebensprobleme. Selbstanalyse beginnt zumeist mit der Erkenntnis einer Störung, geht dann zur Selbsterforschung über, entwickelt auf diese Weise ein Stück Selbsterkenntnis und schließt ab mit der Integration dieser neuen Selbsterkenntnis in ein erweitertes, realeres Bild des eigenen Charakters. Dieser Vorgang kann mehrfach wiederholt bzw. als ständige – lebensbegleitende – Selbsthilfe verwendet werden: Ein Beitrag, um der permanenten Außenweltverschmutzung ein Stück Arbeit an der eigenen Innenweltverschmutzung entgegenzusetzen.

Wie oft geht der Selbstanalytiker zu sich in die Therapie?

Je nach Bedürfnis. Eine gewisse Regelmäßigkeit ist sinnvoll, schon, um nicht ständig plötzlich „Wichtigeres“ erledigen zu müssen. Tägliches Selbstanalyse ist wohl eher die Ausnahme, 2-3 wöchentliche Sitzungen von höchstens einer Stunde ist die Regel.

Bedeutet Selbstanalyse, sich ausschließlich aus eigener Kraft – und ohne fremde Hilfe – zu heilen?

Nein. Es mag im Einzelfall vorübergehend möglich sein. leichtere Störungen völlig alleine anzugehen. Aber selbst der „Erfinder“ der modernen Selbstanalyse, Sigmund Freud, kam nicht ohne fremde Hilfe aus. In seinem Freund Wilhelm Fließ fand er ein vertrauenswürdiges Gegenüber, dem er zum einen seine oft beängstigenden, verwirrenden Selbsterfahrungen mitteilen konnte. Zum anderen stellt dieser Freund ein Bindeglied zur äußeren Realität dar, konnte ihn notfalls beruhigen oder wieder auf den Boden holen.

Kritische Selbstreflektionen ermöglichte Freud auch sein ausgeprägtes Interesse an Literatur: Er hat z.B. Goethe, Romain Rolland oder Arthur Schnitzler gelesen und die Philosophien eines Gustav Theodor Fechner, später die Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches zur Kenntnis genommen. Etliche Möglichkeiten also, sich, seine Gedanken, Gefühle, Erkenntnisse zu vergleichen.

Aber er schöpfte auch Kraft aus seiner Kenntnis europäischer und jüdischer Überlieferungen, Sagen und Mythen. So gab ihm z. B. die Ödipus-Sage die Gewißheit, daß sich bestimmte soziale Grundmuster immer wiederholen – also auch sein eigener Ödipus-Komplex nichts Unnormales war. Und – nicht zu vergessen – der Halt, den Freud an seiner Frau und seinen Kindern hatte sowie die Tatsache, daß er bei seinen Patienten schon viele Male Ähnliches zutage gefördert hatte, wie später bei sich selbst.

Was wären also heute die idealen Bedingungen für eine Selbstanalyse?

Was die äußeren Bedingungen betrifft: Das Eingebundensein in eine Gruppe Gleichgesinnter (womöglich eine an Selbstanalyse interessierte Selbsthilfegruppe, innerhalb derer die Einfälle vorgetragen, diskutiert, verglichen werden können), Freunde oder Angehörige, zu denen man Vertrauen hat, Interesse an Literatur (z. B. Aufzeichnungen anderer Selbstanalytiker, AutoBiografien, Märchen, Sagen) und – was am schwierigsten sein dürfte – wenigstens gelegentlicher Kontakt zu einem der Selbstanalyse gegenüber aufgeschlossenen Psychotherapeuten.

… und die inneren Bedingungen?

Selbstanalyse beruht auf einer seelischen Fähigkeit, die bereits Freud thematisiert hat und die 1932 von Otto Fenichel aufgearbeitet wurde: Die „Ich-Spaltung“. Ein relativ gesundes, stabiles Ich ist in der Lage, sich selbst als Objekt zu betrachten . und daher auch Methoden zu erlernen, die diese Betrachtung systematisch tiefer und tiefer führen können. Klassische Methoden sind die schriftliche freie Assoziation (mit oder ohne vorgegebene Themen) bzw. zu eigenen Tagträumen.

Wenn äußere und innere Bedingungen stimmen, ist Selbstanalyse ein Ersatz für den normalerweise vorhandenen Therapeuten?

Nein. Sie ist ebensowenig ein vollwertiger Ersatz für eine guten Therapeuten, wie ein guter Therapeut ein vollwertiger Ersatz für eine gute Selbstanalyse ist. Es ist einfach eine von vielen verschiedenen Methoden. Bewußtsein über sich selbst zu erlangen.

Die in analytischer bzw. tiefenpsychologischer Therapie mögliche Übertragung alter, verdrängter Gefühle auf einen Therapeuten ist sicher in vielen Fällen – gerade bei Beziehungsstörungen – ein hervorragende Methode. Tagebuch, Briefpapier, Selbsthilfegruppe können dem zum Zweck der Eigen-Therapie gespaltenen Ich die „Spiegelfunktion“ des Therapeuten nur teilweise ersetzen. Verglichen mit den umfassenden Zielen einer professionellen Analyse (einen guten Therapeuten und eine gute Patíent-Therapeut-Beziehung vorausgesetzt), kann Selbstanalyse daher sicherlich – auch mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe – selten mehr als 50% heilende Wirkung entfalten.

Andererseits kann gerade die erwünschte Einbeziehung einer Gruppe von Menschen ganz spezielle Heil-Effekte haben – von der viel flexibleren, den eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen angepaßten Verwendung der Selbstanalyse, ihrem vergleichsweise geringen Kosten- und Zeitaufwand ganz abgesehen.

Insbesondere verschüttete Kreativitätspotentiale können durch die Selbstanalyse oft sehr schnell wieder zugänglich gemacht werden.

Wie alle anderen Therapieformen ist jedoch auch die Selbstanalyse kein Allheilmittel für jedes Problem jedes Menschen zu jeder Zeit

Für wen ist sie also ein Angebot?

Zunächst für diejenigen, die wirklich den ernsthaften Wunsch danach verspüren. Rein intellektuelles Interesse oder die Absicht, noch perfekter und toller zu sein, dürfte auf die Dauer keine ausreichende Motivation abgeben. Auch die Selbstanalyse geht an´s Eingemachte, führt in Regionen voller Angst, Haß, Lust und Begierde, die wir in der Regel nicht wahrhaben wollen. Ohne eine Art „Leidensdruck“, ohne den ehrlichen Wunsch nach Veränderung steht man das nicht durch. Psychoanalytisch formuliert, ist es günstig, wenn der Selbstanalytiker kein zu strenges Über-Ich aufgebaut hat – also keine verinnerlichte Normen-Instanz, die schon beim Aufkommen geringster „unerlaubter“ Gedanken mit Strafandrohung reagiert und so den Erkenntnisprozeß im Keim erstickt. Und – wie gesagt – Selbstanalyse kann vor allem normalen „Durchschnittsneurotikern“ helfen, seelische Störungen wie Nervosität, Ängste, Unsicherheit oder auch zwischenmenschliche Konflikte zu verarbeiten.

Auf einer anderen Ebene ist Selbstanalyse gerade für diejenigen eine Möglichkeit, die entweder noch lange auf eine geplante Therapie warten müssen bzw. nach einer solchen ihre Erfahrungen vertiefen wollen. Außerdem ist diese Methode ein Angebot an jene, die bei Psychotherapeuten mehrfach die Erfahrungen gemacht haben, sich nicht öffnen, sich nicht vertrauensvoll mitteilen zu können.

Ist nicht gerade im letzten Fall der Gefahr gegeben, daß jemand der schmerzlichen Konfrontation mit sich selbst – wie sie jede gute Analyse mit sich bringt – ausweichen will und deshalb lieber zur Selbstanalyse greift; sie also als Mittel gegen seine Gesundung einsetzt?

Natürlich. Jede menschliche Handlung – und somit auch jede Psychotherapie – kann eingesetzt werden im Sinne der seelischen Abwehr. Andererseits muß die Ursache für das Scheitern einer Therapie nicht unbedingt beim Patienten liegen. Und selbst wenn es an ihm liegt: hat er kein Recht auf andere Hilfe, auch wenn er bei der Analyse “durchgefallen“ ist?

Für wen ist eine Selbstanalyse nicht geeignet?

Für alle, die kein stabiles Ich haben, die bei seiner „Spaltung“ ihren ohnehin schon reduzierten Kontakt zur Realität und zu ihrem wirklichen Selbst völlig verlieren könnten. Menschen mit deutlichen psychotischen Persönlichkeitsanteilen oder mit mittleren bis schweren geistigen Erkrankungen sollten sich in jedem Fall einer anderen – von „außen“ stärker geleiteten – Therapieform zuwenden. Auch, wenn schon nach den ersten Analyseversuchen plötzlich fremdartige, übermächtige „negative“ Gefühle auftreten – Horror-Visionen, destruktive Ausbrüche, Amok-Läufe, massive Selbstmordgedanken zum Beispiel -, sollte Abstand genommen werden von der Selbstanalyse.

Aber auch bei der scheinbar gegenteiligen Reaktion ist Skepsis geboten: „Endlich erkenne ich, wieviel besser, bewußter, seelisch gesünder als alle anderen ich bin!“ oder „Nur Selbstanalytiker sind wirklich wertvolle Menschen“ bzw.: „Nächstes Jahr bin ich nicht zu sprechen; Ich mache Selbstanalyse!“

 

aus ICH 1/ 94