Geschichte und Methoden der Selbstanalyse

von Lutz von Werder

Selbstanalyse – dieser Begriff ist eng verbunden mit dem Namen Sigmund Freuds. Aber weder hat er sie erfunden, noch ist sein Selbsterkenntnis-Versuch unwiederholbar. Vielmehr ist die Fähigkeit des „Ich“, sich mit sich selbst zu unterhalten, sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu nehmen – eine Betrachtung, die Betroffenheit, Angst Freude, Stolz auslösen kann – offenbar sehr alt, vielleicht eine grundlegende Fähigkeit des Menschen überhaupt. Sie systematisch zu nutzen, kann helfen, seelische Gesundungsprozesse voranzutreiben. Es könnte zudem ein Weg sein, die auch im ,,neuen“ Deutschland klaffende Lücke zwischen massenhaften psychischen Problemen und mangelhaftem therapeutischen Angebot ein wenig zu schließen.

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 (Ur-)Ahnen

Vor über 2.000 Jahren forderte eine Inschrift im Zeus-Tempel von Delphi: ,,Erkenne dich selbst!“ – ein Spruch, auf dem Sokrates (469 bis 399 v. u. Z.) eine ganze Philosophie-Richtung aufbaute, für die innere Selbsterkenntnis als einzige Quelle wirklichen Wissens galt. Wer das Gute wisse – so Sokrates – der tue es auch.

Ein halbes Jahrtausend später suchte der römische Kaiser Marc Aurel (121 bis 180), der die meiste Zeit seines Lebens in den Heerlagern seiner Legionen verbringen mußte, nach Möglichkeiten, auch in dieser Einsamkeit seine sozialen Beziehungen zu prüfen und zu korrigieren, seine Lebensgeschichte zu ,,bearbeiten“. Jeden Morgen bereitete er sich durch ,,Selbstvergewisserung“ auf den Tag vor: Er bedachte alle auf ihn zukommenden kritischen Situationen und faßte konkrete Vorsätze für die ruhige Bewältigung aufregender Anlässe. Tagsüber, wenn er sich unbeobachtet fühlte, sprach er wichtige Lebensregeln vor sich hin. In Selbst- oder Gruppengesprächen war er darum bemüht, sich auf ,,gute Gedanken“ zu konzentrieren, die seine Unerschütterlichkeit (das Ideal der philosophischen Schule der Stoiker, der er angehörte) festigen sollten. Jeden Abend prüfte er mit festgelegten, ritualisierten Denk-Übungen die Ergebnisse des Tages und inszenierte ein Tribunal über sich selbst – er war Ankläger, Richter und Verteidiger in einer Person:

,,Wie hast du dich bisher gegen Götter, Eltern, Geschwister, Gattin, Kinder, Lehrer, Erzieher, Verwandte und Hausgenossen betragen? Gilt diesen allen gegenüber von dir bis jetzt das Wort: Niemand hat er durch Taten beleidigt noch auch durch Worte? Erinnere dich aber auch daran, was alles du schon durchgemacht und was alles zu ertragen du Kraft gehabt hast, und daß die Geschichte deines Lebens bereits vollendet und dein Dienst vollbracht ist! Wieviel Schönes hast du schon wahrgenommen, wie viele Sinnesfreuden und Leiden verachtet, wie viele eitle Herrlichkeiten übersehen, gegen wie viele Liebkosende dich liebreich gezeigt?“(1)

Über den Heiligen Augustinus (354 bis 430) führt die Reihe prominenter Selbstanalytiker im späteren Mittelalter zu den – von den offiziellen Religionsvertretern vielfach als Ketzer verfolgten – Mystikern. Sie sahen im ,,Weg nach Innen“, in der Versenkung – oftmals kombiniert mit kultischem Beiwerk, heiligen Speisen oder Getränken, Drogen, Musik, Tanz, Sex – die Chance, um ,,dem Göttlichen“ in uns und in der Natur ohne Vermittlung von Kirchen oder Priestern, nahezukommen, es ganz direkt selbst zu erfahren. Wichtige deutsche Vertreter dieser, über Europa hinaus verbreiteten Strömung waren der im 13. und 14. Jahrhundert wirkende Meister Eckhardt und seine Schüler Tauler und Seuse, die „spirituelle Autobiografien“ verfaßten. Von ihnen stark beeinflußt entwickelte sich im 17. Jahrhundert die aus dem Protestantismus stammende kirchen-reformatorische Strömung des Pietismus. Sie setzte der katastrophalen äußeren Realität, die der 30jährige Krieg in Deutschland hinterlassen hatte, den – im geschützten Rahmen einer pietistischen Gemeinde möglichen – Rückzug auf die ,,Innerlichkeit des eigenen Ich“ entgegen. Auch hier wieder war die bewußte Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte gefordert – vor allem mit begangenen Verfehlungen und Abweichungen von den angestrebten religiösen Idealnormen.

Hatten schon Marc Aurels ,,Selbstbetrachtungen“ den Charakter poetischer Selbstreflexionen und damit eine, noch heute nachvollziehbare, literarische Qualität, so brachte das 18. und 19. Jahrhundert geradezu einen Boom autobiografisch fundierter Literatur. Karl Philipp Moritz ,,Anton Reiser“, Goethes ,,Dichtung und Wahrheit“ oder Gottfried Kellers ,,Der grüne Heinrich“ sind nur einige der bedeutendsten Beispiele für kunstvolles Sich-Frei-Schreiben. In dieser Zeit stellen sich etwa 2.000 veröffentlichte (Auto-)Biografien dem Anspruch, Bildungs- oder Erziehungsroman zu sein, innerseelische Entwicklung von der Kindheit bis ins Greisenalter festzuhalten; 20 bis 40.000 nicht veröffentlichte Handschriften gleichen Inhaltes wandern in Archive.

Zeitlich in etwa parallel dazu, kommt im gebildeten Bürgertum -initiiert vor allem von den Dichtern der Romantik – eine Methode in Mode, die bis heute vielfach lebenserleichternd bis -erhaltend wirkt: der intensive Briefwechsel unter Freunden und guten Bekannten, in dem Gefühle, Ängste, Hoffnungen, Erfahrungen, Träume nacherlebbar mitgeteilt, ,,von der Seele geschrieben“ werden. Einer derjenigen, der an solchen Briefwechseln heftigen Anteil nimmt, der Dichter E.T.A. Hoffrnann (1776 bis 1822), findet eine weitere Variante, seelische Probleme literarisch zu bearbeiten. Er setzt psychische Krankheiten in märchenhaft-groteske poetische Bilder um (Verfolgungswahn in ,,Der Sandmann“, Persönlichkeitsspaltungen in ,,Die Elexiere des Teufels“, Paranoia in ,,Der goldene Topf‘). Und auch hier wieder ist die Grundlage nicht nur künstlerisch-geniale Intuition.

Hoffmann teilt mit mehreren seiner Helden deren unglückliche Familiensituation in früher Kindheit: Der alkoholabhängige Vater und die unter Hysterie leidende Mutter trennten sich, als Hoffmann drei Jahre alt war. Mindestens zu Teilen dürfte er sich dessen bewußt geworden sein, während er bei dem Wiener Arzt Franz Anton Messmer, einem ,,Vorläufer der Tiefenpsychologie“, eine Ausbildung zum Hypnose-Therapeuten durchlief. Daß er dabei tiefere Einblicke ins Unbewußte gewann, ist sicher. Wahrscheinlich ist, daß er auch sie nutzte, um Erzählungen zu formen, die seinen seelischen Druck (Heine nannte Hoffmanns Werk einen ,,Angstschrei in 20 Bänden“) mitteilen oder lindern sollten.

Sigmund Freud: ,,Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst“

Freuds Bemühungen, in unbewußte psychische Regionen vorzustoßen, sind vielfältig. Hatte er sich diesem Problem zunächst mit Hypnose und Suggestion genähert, fand er schließlich in der Deutung von Träumen den ,,Königsweg“ ins Unbewußte. Mit dieser Methode ausgerüstet, konnte er – nun auf wissenschaftlicher Grundlage – das nächste Vorhaben beginnen: Seine Selbstanalyse. Deren systematischen Anfange liegen im Jahr 1897, und ihr erstes publiziertes Ergebnis stammt aus dem Jahr 1900: ,,Die Traumdeutung“. Freud schreibt: ,,Ich hatte nur die Wahl zwischen den eigenen Träumen und denen meiner in psychoanalytischer Behandlung stehenden Patienten.“ Er entschied sich für ersteres und somit dafür, ,,daß ich von den Intimitäten meines psychischen Lebens fremden Einblicken mehr eröffnete, als mir lieb sein konnte.“ (2)

Gerade damit gab er aber einer wachsenden Schar von Interessierten einen ,,Leitfaden“ in die Hand, sich selbst zu analysieren. Alfred Adler, C. G. Jung und viele andere Freud-Schüler folgten diesem Vorbild offenbar mit großem persönlichen Gewinn.

Was hatte Freud in diesen drei Jahren über sich selber herausgefunden? Seine Briefe an den Freund Wilhelm Fließ (3) geben einige Aufschlüsse: 

,,12.06. 1897 Ich habe übrigens irgend etwas Neurotisches durchgemacht, komische Zustände, die dem Bewußtsein nicht faßbar sind. Dämmergedanken, Schleierzweifel, kaum hie und da ein Lichtblick… Ich glaube, ich bin in einer Puppenhülle, weiß Gott, was für ein Vieh da herauskriecht.

03.10.1897… daß später (zwischen zwei und zweieinhalb Jahren) meine Libido gegen matrem (zu deutsch: geschlechtliches Verlangen gegenüber der Mutter, – L. v. W.) erwacht ist, und zwar aus dem Anlaß der Reise mit ihr von Leipzig nach Wien, auf welcher ein gemeinsames Übernachten und Gelegenheit, sie nudam (= nackt, – L. v. W.) zu sehen, vorgefallen sein muß … daß ich meinen ein Jahr jüngeren Bruder (der mit wenigen Monaten gestorben) mit bösen Wünschen und echter Kindereifersucht begrüßt hatte und daß von seinem Tode der Keim zu Vorwürfen in mir geblieben ist.

15.10.1897 Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit …

27.10.1897 Alles, was ich als Dritter bei den Patienten miterlebte, finde ich hier wieder.“ 

In den Jahren nach Erscheinen der ,,Traumdeutung“ mußte Freud erkennen, wie schwer es anderen Menschen wurde, seiner Vorgabe nachzueifern, wie viele, im Alleingang scheinbar unüberwindliche, seelische Widerstände solche Selbstanalyse-Versuche be- oder verhinderten. Wenn er sich daher in der öffentlichen Diskussion auch vorwiegend auf die ,,fremd-analytische“ Methode der Psychoanalyse (die sich vielleicht aber auch so verstehen laßt: Ein anderer Mensch, der ,,Analytiker“, unterstützt mich bei meiner Selbst-Analyse) beschränkte, so blieb er dennoch bei ,,der Meinung, daß bei einem guten Träumer und nicht allzu abnormem Menschen diese Art der Analyse genügen kann.“ (4)

Für seine Berufskollegen stellte er verallgemeinernd fest, ,,daß jeder Psychoanalytiker nur so weit kommt, als seine eigenen Komplexe und Widerstände es gestatten“ und verlangte daher, ,,daß er seine Tätigkeit mit einer Selbstanalyse beginne, und diese, während er seine Erfahrungen an Kranken macht, fortlaufend vertiefe. Wer in einer solchen Selbstanalyse nichts zustande bringt, mag sich die Fähigkeit, Kranke analytisch zu behandeln, ohne weiteres absprechen.“

Ebenso wie Freud die ,,Fremd-Analyse“ immer mehr als einen Prozeß verstand, der unter Umständen lebensbegleitend sein sollte (siehe: ,,Die endliche und die unendliche Analyse“, 1937), hielt er auch seine Eigenanalyse für etwas notwendigerweise ,,Unendliches“ und setzte sie buchstäblich bis zu seinem letzten Lebenstag fort.

Alice Rühle-Gerstel: Selbstanalyse in Gruppen 

Alice Rühle-Gerstel lebte in Dresden, war die Frau des KPD-Mitbegründers Otto Rühle und Individualpsychologin, das heißt Therapeutin der Adlerschen Schule. Wie dieser – und stärker als Freud – stellte sie soziale Bedingungen für die Neurosenentstehung ins Zentrum ihres Therapie-Ansatzes. Da nach Adler Neurosen immer zwischenmenschliche Störungen – zuerst in der Familie – zugrunde liegen, aus denen der einzelne mit einem tiefen Gefühl von persönlicher Minderwertigkeit hervorgeht, lag es nahe, diese Störungen in anderen, gesünderen sozialen Gefügen zu revidieren: Gruppentherapie.

1928 war der Andrang groß und Frau Rühle-Gerstel viel beschäftigt. Daher beschränkte sie sich bei einigen Gruppen darauf, deren Mitgliedern Bücher von Alfred Adler in die Hand zu drücken. So entstand eine Art Gruppen-Selbstanalyse: Angeregt von der Lektüre sprachen die Gruppenmitglieder über sich selbst, verglichen ihre Schicksale und Probleme. Einzelne lernten auf diese Weise, wie unnötig ihre Minderwertigkeitskomplexe in der Realität waren, wie sehr sie sich isolierten, statt in aktiv mit aufgebauten Gruppen ihre eigene Bedeutung zu erleben und als gleichwertig akzeptiert zu werden.

Wie wesentlich den Individualpsychologen die Selbstanalyse war, beweist auch die Tatsache, daß sie Alfred Adler zu dessen 60. Geburtstag (1930) eine Festschrift widmeten, mit dem Titel ,,Selbsterziehung des Charakters“, in der Wert und Grenzen von Selbsttherapie diskutiert sowie Fallgeschichten dokumentiert wurden.

Nur drei Jahre später war von dieser relativ breiten Bewegung kaum noch etwas übrig: Emigration oder KZ hieß auch für viele ,,Adlerianer“ die Alternative.

Beim erfolgreichen Versuch, sich in den USA zu etablieren, ging der selbstanalytische Zug der Individualpsychologie verloren und auch ihre nach 1945 in Deutschland gegründeten Institute klammerten sie aus. Indirekt erlebten jedoch zentrale Aspekte dieses gruppentherapeutischen Ansatzes ihre Wiederauferstehung in späteren Selbsthilfegruppen wie den ,,Anonymen Alkoholikern“ oder den ,,Anonymen Neurotikern“. Auch hier sind beispielsweise das gegenseitige Akzeptieren der Gruppenmitglieder und die ,,Therapeutenlosigkeit“ geltende Regel. 

Karen Horney: Zielgruppe Durchschnittsneurotiker 

Von Adler beeinflußt und wie er in die USA emigriert, gehörte die in Hamburg geborene Karen Horney (1885 bis 1952) zu den wichtigsten Vertretern der ,,Neo-Psychoanalyse“. Aber sie versuchte nicht nur Freud zu ,,reformieren“, sondern teilte auch dessen frühe Hoffung auf eine Ausbreitung selbstanalytischer Methoden.

Als sie 1940 Vorlesungen an der New Yorker ,,Schule für Sozialarbeiter“ hielt, wurde sie von diesen mit der Frage konfrontiert, welche therapeutische Hilfe denn ihren Klienten, den Arbeitslosen, ,,Asozialen“ und ,,Absteigern“, zuteil werden könnte – also Menschen, die ganz bestimmt keine 50 Dollar pro Analysestunde aufbringen konnten. In dieser Situation griff Karen Horney auf ein Hilfsmittel zurück, das sie selbst in den Jahren zuvor intensiv genutzt hatte, um unter anderem die Trennung von ihrem langjährigen Freund, Erich Fromm, zu überstehen: Die Selbstanalyse (deren genaueres Konzept einschließlich konkreter ,,Fälle“ sie 1942 in dem Buch ,,Selbstanalyse“ dargestellt hat).

Sie schlug folgende Schritte vor:

  1. Benennen der bewußten Probleme
  2. Freies Assoziieren darüber
  3. Versuchen, Schlüsse aus beidem zu ziehen
  4. Über einen längeren Zeitraum beobachten, welche Schwerpunkte immer wieder auftreten und mit welchen Punkten in der Lebensgeschichte sie verknüpft sein könnten.

Auf diese Weise erhoffte sie sich intellektuelle Einblicke in die unbewußten neurotischen Reaktionsmuster und ihre Entstehung. Das wiederum sollte zu einem Anwachsen von Verantwortungsgefühl, Selbstvertrauen, Spontanität und Aufrichtigkeit führen, das Gesichtsfeld erweitern, falsche Größenphantasien durch realistische Selbsteinschätzung ablösen. Allerdings hielt sie solche Erfolge nur bei leichteren Neurosen (wie sie sich etwa in Beziehungskonflikten, Schlafstörungen, Nervosität niederschlagen können) für möglich.

Menschen, die unter schweren Neurosen litten – die mit einer Schwäche der ,,Ich-Funktionen“, Verlust des Realitätskontaktes oder starken Depressionen einhergehen -, sollten sich doch eher einer Fremd-Behandlung unterziehen. Nur ein relativ stabiles ,,Ich“, das in lebendigem Kontakt zum „Korrekturglied“ Außenwelt steht, kann sich unbeschadet bzw. erfolgreich in ,,Therapeut“ und ,,Patient“ aufspalten.

Erich Fromm: Mit Meditation die Welt verändern? 

„Es ist überraschend, daß die Selbstanalyse in der psychoanalytischen Literatur kaum erörtert worden ist“, schreibt der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm und sieht eine Erklärung in der „geheiligten bürokratischen Unterscheidung zwischen dem professionellen Heiler und dem nicht-professionellen Leidenden: ,,Es wird vom Kranken nicht erwartet, daß er sich selbst heilt.“ (6)

Fromm begann seine Selbstanalyse in den 30er Jahren und führte sie ebenfalls systematisch (,,mit einer gewissen Regelmäßigkeit … und nicht nur dann, wenn man Lust dazu hat“) bis an sein Lebensende fort. Dabei nutzte er im wesentlichen fünf Vorgehensweisen:

–  Symptom-Betrachtung: intuitives ,,Ertasten“, woher bestimmte Gefühle stammen – z.B. plötzliche Müdigkeit – und was sie ausgelöst hat.

–  Freie Assoziation: Vernachlässigung der normalen Gedankenkontrolle, damit eigene Gedanken Zugang zum Bewußtsein erhalten und auf versteckte Verbindungen zwischen ihnen untersucht werden können.

–  Autobiografischer Ansatz: Nachsinnen über die eigene Geschichte, beginnend mit der frühen Kindheit, endend mit einer erwarteten zukünftigen Entwicklung.

–  Versuchen, Widersprüche zwischen bewußten und unbewußten Lebenszielen aufzuspüren.

–  ,,Ausrichten von Gedanken und Gefühlen auf die Ziele des Lebens: auf die Überwindung von Gier, Haß, Illusionen, Ängsten, Besitzgier, Narzißmus, Destruktivität, Sadismus, Masochismus, Unehrlichkeit, Gleichgültigkeit, Nekrophilie, männlich-patriarchale Herrschaft bzw. entsprechende weibliche Unterwerfung“. (7)

Die notwendige innere Verfassung dazu verschaffte sich Fromm durch Konzentrations- und Atemübungen und verschiedene buddhistische Meditationstechniken. Insofern gab er auch der Selbstanalyse einen weiteren Rahmen, bezog ,,Körperbewußtsein“ und psychosomatische Zusammenhänge ein.

Bei dem hohen Stellenwert, den Fromm für sich der Selbstanalyse beimaß, hätte erwartet werden können, daß sich diese Erfahrungen in seinen zahlreichen Büchern wiederfinden. Aber nichts dergleichen. Ein eigens darüber handelndes Kapitel in seinem Bestseller ,,Haben oder Sein“ nahm er sogar vor der Veröffentlichung wieder heraus, so daß die hier benutzten Zitate erst seinem Nachlaß zu entnehmen waren. Warum? Er hatte erkannt, daß Veränderungen in sämtlichen sozialen Bereichen, in Familien, Gruppen, Arbeitskollektiven, in Ökonomie, Politik, Kultur und Ökologie notwendig sind. Und er hatte daher Angst, er könne – so Fromms Mitarbeiter und literarischer Nachlaßverwalter Rainer Funk -,,mißverstanden werden, so als ginge es nur darum, daß jeder sein Seelenheil in Selbsterfahrung, Selbstentwicklung und Selbstanalyse suche und auf diese Weise die neue, am Sein orientierte Gesellschaft glaube heraufführen zu können.“(8)

BRD heute (bzw. gestern) 

Eine Langzeitstudie, die 1988 in der BRD veröffentlicht wurde (9), konnte unter anderem zeigen, daß nur 20 % der psychisch Kranken von Fachärzten richtig behandelt werden. Ein knappes Drittel aller Bundesbürger- und bürgerinnen litt wegen Partnerschaftskonflikten oder sonstigen Belastungen in ihrer Ehe an schweren Depressionen, Manien oder Neurosen. 7,5% (= 4,5 Millionen) der Bundesbürger hätten außerdem starke Angstzustände, die sich in Anfällen von Panik, Wahnvorstellungen oder Zwangsneurosen zeigen. Fast 6 % litten lebenslang unter Platzangst und trauten sich kaum mehr aus dem Haus. Schließlich sind mehr als 3 % wegen Alkohol-oder Medikamentenmißbrauchs psychisch gestört. Demgegenüber steht, daß sich z. B. im Jahr 1986 nur 34.000 Patienten bei Analytikern in kontinuierlicher und längerfristiger Behandlung befanden.

Zusammengefaßt – und daran ändert auch das Einbeziehen anderer kassenärztlich zugelassener Psychotherapieformen nichts – stehen objektive Bedürftigkeit und vorhandene Qualität und Quantität psychotherapeutischer Hilfsangebote in krassem Gegensatz (was durch die deutsche Einheit eher noch verschärft zu Tage treten dürfte). Die etwa 10.000 Selbsthilfegruppen, die es Ende der 80er Jahre in Westdeutschland gab, hatten also eine kaum zu überschätzende Bedeutung.

Ebenso klar sollte sein, daß eine seriöse Popularisierung und Begleitung von Selbsthilfemethoden bitter nötig ist. Mitnichten: Eine 1988 unter 1.000 deutschen Psychoanalytikern und Psychotherapeuten versuchte Umfrage zur Selbstanalyse (10) hatte zunächst als Ergebnis, daß überhaupt nur 51 Fragebögen ausgefüllt zurückgesandt wurden: Für nur 5 % der Befragten war das ein interessantes Thema. Von den 51 Interessierten standen wiederum nur 10 der Selbstanalyse positiv bzw. aufgeschlossen gegenüber.

Fazit: Trotz vorhandener Traditionen und reicher Erfahrungsschätze (übrigens auch im Nachkriegs-West-Berlin, in dem der Therapeut und Pfarrer Klaus Thomas jahrzehntelang zehntausenden Selbstmordgefährdeten u. a. durch Anleitungen zur Selbstanalyse half) sind Impulse für die Verbreitung selbstanalytischer Methoden kaum aus dem Profi-Lager zu erwarten.

Methoden 

Das Spektrum selbstanalytischer Methoden und Techniken hat seit Freud eine so wesentliche Ausweitung erfahren, daß wir uns hier auf einige Beispiele beschränken müssen. Die angegebene Literatur soll es erleichtern, den jeweils eigenen Ansatz zu finden oder selbst zu entwickeln. Unbedingt erwähnt werden soll das „Freie Malen“ (vgl. Marion Milner, „Zeichnen und Malen ohne Scheu – ein Weg zur kreativen Befreiung“, Köln 1988) und das „Kathathyme Bilderleben“ – eine Möglichkeit, mit gelenkten Tagträumen Heilungs- und Erkenntnisprozesse in Gang zu setzten (vgl. Hans Karl Leuner, „Lehrbuch des Kathathymen Bilderlebens“, Bern 1992), sowie das „Kreative Schreiben“. Im „Lehrbuch das kreativen Schreibens“ (L. v. Werder, Berlin/ Milow 1993) sind rund 200 Schreibspiele, 20 Schreibprojekte, 40 Schreibmethoden und etliche Arbeitstechniken zusammengetragen – also eine Vielzahl von Ansätzen, um sich – allein oder in Schreibgruppen – „freizuschreiben“.

Für die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte besonders geeignet sind Biografische Schreibspiele. Sie helfen, die wichtigsten Lebensphasen, Erfahrungen und Gefühlserlebnisse dem Bewußtsein wieder bekannt zu machen (vgl. :L. v. Werder, „…kennst du nur das Zauberwort“, München 1986) Die Hauptrolle für biografische Schreibspiele, wie sie vor allem von H. Gudjons u.a. („Auf meiner Spur“, Reinbek 1988) vorgestellt werden, ist das Buch von M. James und D. Jongeward „Spontan leben“ (Reinbek 1986). James und Jongeward sind Transaktionsanalytiker. Sie gliedern ihre Übungen daher in die drei Abschnitte Eltern-Ich, Kindheits-Ich und Erwachsenen-Ich. Damit eröffnen sie gleichzeitig einen Querschnitt durch die Psyche und eine Längsschnitt durch die Geschichte des eigenen Ichs.

Eltern-Ich-Schreibspiele 

Elternkino: Stellen Sie sich vor, Sie säßen vor dem Heimvideogerät und zeigten sich selbst die wichtigsten privaten Videos über Ihre Familie: Geld, Besitz, Krisen, Vergnügen, Geschlechtsrolle, Mahlzeiten, äußere Erscheinung, Ausbildung, Arbeit, Werte, Sprachmuster, Zuhören, Rollen, Praktiken. Nach jedem der gesehenen Videos schreiben Sie einen kleinen Text.

Elternreaktion: Stellen Sie sich Situationen vor, in denen die Alltagsroutine der Familie durchbrochen wird, wie z.B. ein krankes Kind in der Nacht schreit, ein Kind etwas zerbricht, ein Kind sexuell belästigt wird, ein Mädchen schwanger wird, ein Bettler vor der Tür steht, ein Autounfall passierte, sich ein Fall von Geisteskrankheit ereignete: Wie haben ihre Eltern reagiert? Schreiben Sie das auf.

Elternkopien: Schreiben Sie auf, wie Sie sich ein perfektes Kind vorstellen, und vergleichen Sie es mit den Idealvorstellungen Ihrer Eltern von Kindern. Stellen Sie sich eine Auseinandersetzung mit einem abweichenden Kind vor, und vergleichen Sie das mit dem Verhalten der Eltern in der gleichen Situation (mit Ihnen als Abweichler).

Dialog mit den Eltern: Stellen Sie sich verschiedene emotional belastende Situationen vor und hören Sie auf den inneren Dialog, der diese Situation begleitet, z.B. eine Abschlußprüfung, eine Versammlung, vor der Sie eine Rede halten, bei einer öffentlichen Belobigung Ihrer Arbeit. Nach der Imagination schreiben Sie bitte den inneren Dialog mit Ihren Eltern auf.

Elternworte: Was sind die wichtigsten Sätze, die Ihre Eltern gesprochen haben, und wie heißen Ihre eigenen entscheidenden Lebensmaximen? Verfassen Sie eine Collage Ihrer und der elterlichen Maxime.

Kindheits-Ich-Schreibspiele 

Die Wohnung der Kindheit: Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Wohnung ihrer Kindheit. Was erscheint an Räumen, Möbeln, Menschen? Welches Familiendrama wird gerade gespielt, und welche Rollen spielen Sie dabei: Opfer, Retter, Verfolger? Schreiben Sie einen Text.

Begegnung mit dem Kind (I): Nehmen Sie ein Familienalbum oder eigene Kinderphotos zur Hand. Betrachten Sie diese Photos, und machen Sie dann ein kleines Selbstportrait.

Begegnungen mit dem Kind (II): Stellen Sie sich heutige Streßsituationen vor (Krankheit, Mutlosigkeit, Unterdrückung, sexuelle Verweigerung, Verwirrung usw.), konkretisieren Sie dabei Ihre Verhaltensweisen, und vergleichen Sie sie mit Ihrem Verhalten in der Kindheit in ähnlichen Situationen.

Wunschträume: Achten Sie auf Ihre Tagträume, besonders auf Ihre Rollenversionen vom Supermann oder der Superfrau. Schreiben Sie einen kleinen Text, der mit dem Halbsatz beginnt: „Es wäre schön , wenn…“ Schauen Sie dann nach, ob Sie in dem Text Größenphantasien Ihre Kindheit wiederentdecken.

Soziale Orientierung: Erinnern Sie sich an erzieherische Gespräche in der Kindheit. Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter und Ihr Vater sitzen Ihnen gegenüber auf einem Stuhl und reden mit Ihnen über ein Vergehen. Schreiben Sie einen Dialog mit der imaginären Mutter oder dem Vater. Stellen Sie fest, ob Sie sich fügten, ob Sie flohen, ob Sie innerlich abschalteten. Schreiben Sie dann einen Text über Ihr heutiges Verhältnis zur Gesellschaft.

Abwesenheit der Eltern: Stellen Sie sich die Abwesenheit von Vater und Mutter vor, und beschreiben Sie die Stimmung in der Familie.

Der kleine Professor: Prüfen Sie Ihre Kreativität durch einen Blick auf die letzte Woche. Haben sie in der Woche etwas Neues gemacht? Legen Sie sich über das Neue eine Liste an. Machen Sie Ihre magischen Gedanken sichtbar. Wie steht es mit einem Talisman, mit dem Blick ins Horoskop, mit der Hoffnung auf eine Million Lottogewinn, mit der Hoffnung auf „eine Liebe auf den ersten Blick“? Beschreiben Sie Ihr magisches Kabinett.

Kindheitswünsche: Erlauben Sie sich ein Vergnügen aus der Kindheit (faul in der Sonne liegen, auf Bäume klettern, Drachenfliegen, Lutscher lecken usw.) Beschreiben Sie danach Ihr Erlebnis.

Erwachsenen-Ich-Schreibspiele

Lebensbilanz: Konzentrieren Sie sich auf die Geschichte Ihres Lebens, und ziehen Sie Bilanz in zwei Spalten: das Positive und das Negative. Notieren Sie die Bilanz, und erwägen Sie, was Sie noch Positives in der Zukunft tun können.

Durch die Wand: Stellen Sie sich vor: Sie stehen vor einer Wand, und müßten hindurch, oder Sie sind in einem Gefängnis und wollen hinaus. Schreiben Sie eine Geschichte, wie Sie durch die Wand gekommen sind.

Rollenfixierung: Beschreiben Sie einen Tagesablauf in Ihrem heutigen Alltag und wählen Sie dabei die Rolle des Kindheits-Ichs, des Erwachsenen-Ichs oder des Eltern-Ichs. Welcher Tagesablauf kommt Ihrem realen Tagesablauf am nächsten?

Portrait der drei Ich-Zustände: Benutzen Sie das Schema der drei Ich-Zustände und zeichnen Sie ihre Personen so, daß die Ich-Zustände durch ihre Kreisgröße die Ihren entsprechende Macht in Ihrer Person abbilden. Schreiben Sie dann ein Selbstportrait.

Aufhebung der Trübung des Erwachsenen-Ichs: Schreiben Sie zwei Texte. Der erste Texte beginnt: „Männer sind…“ oder „Frauen sind…“. Der zweite Text beginnt: „Ich bin so hilflos, daß…“. Beim ersten Text lernen Sie etwas über die Möglichkeit eigener Urteile, beim zweiten Text lernen Sie etwas über Ihren Weg aus der kindlichen Ohnmacht.

Projektionen: Beschreiben Sie zwei Personen, von denen Sie die eine besonders hassen und die andere besonders bewundern. Betrachten Sie Ihr Verhalten in der Woche darauf hin, ob Sie mit diesen Personen in der Realität Kontakt hatten.

Probleme lösen: Schreiben Sie Ihr größtes Problem auf und dann zu diesem Problem die Meinung Ihres Eltern-Ichs und Kindheits-Ichs. Entwerfen Sie dann die Lösungsmöglichkeit, die Ihrem Erwachsenen-Ich entspricht. Vielleicht ergibt sich hier die Möglichkeit, eine Kurzgeschichte mit drei Personen zu schreiben: Elternprotagonist, Kindheitsprotagonist und Erwachsenenprotagonist.

 

Quellen

(1) Marc Aurel, „Selbstbetrachtungen“, Leipzig, 1928

(2) Freud, ,,Die Traumdeutung“, Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag, 1982, S. 21

(3) Freud, ,,Briefe an Wilhelm Fließ 1897 – 1904″, Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag, 1986

(4) Freud, ,,Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“, Gesammelte Werke, Band 10

(5) Freud, ,,Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie“, in: Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag, 1989, S.126 ff.

(6) E. Fromm, ,,Vom Haben zum Sein – Wege und Irrwege der Selbsterfahrung“, Weinheim und Basel, Beltz Verlag, 1989, S.107

(7) ebenda, S. 93- 103

(8) ebenda, S.10

(9) Lutz von Werder (Hrsg.) „Alltägliche Selbstanalyse. Freud-Fromm-Thomas“, Weinheim, Deutscher Studien Verlag, 1989, S.12

(10) ebenda, S. 14 – 23, vgl. auch Lutz von Werder/ Jörg Peter ,,Die Selbstanalyse in Therapie und Selbsthilfe“, Weinheim, Deutscher Studien Verlag, 1992

 

 

 

aus ICH 4/ 93 und 1/ 94