Ein offener Brief an KRÄTZÄ

Liebe Jugendliche (Benjamin Kiesewetter, Rainer Kintzel etc.),

ich habe in der Zeitschrift „ICH die Psychozeitung“ (1/96) den Text Eures Faltblattes „Verfassungsbeschwerde zum Wahlalter“ gelesen. Ich freue mich immer, wenn Menschen unabhängig und kritisch denken. (Und das Alter sagt da tatsächlich wenig aus: Ich selbst – jetzt 32 – habe mit 13 Jahren schon im wesentlichen meine idealistische Überzeugung gefunden).

Ihr beschreibt in Eurem Blatt auf interessante, zutreffende Weise das Verständnis von „Demokratie“: Kann mensch sich nicht einigen, was „richtig“ ist, wird abgestimmt, wobei dann weder „Reife“ noch „Qualität der Argumente“ eine Rolle spielen. Ich stimme Euch zu, daß das Gewissen des einzelnen Menschen für ihn die letztentscheidende Instanz sein sollte, und das kein Mensch gegenüber anderen das Recht hätte, sie gegen ihr eigenes Gewissen zu etwas zu zwingen.

Aber es gehört zum eigenen Gewissen, sehen zu können, daß die (moralische) Qualität von Argumenten und auch persönliche Reife und Vertrauenswürdigkeit als Entscheidendes betrachtet werden muß, um zu in der Sache möglichst richtigen bzw. verantwortlichen Entscheidungen zu kommen! Weshalb mensch sein eigenes Gewissen auch nicht einfach Mehrheiten (Autoritäten usw.) unterordnen darf oder sich mit den Fehlern anderer für eigene Fehler entschuldigen kann. Spätestens, wenn mensch sieht, daß – was gut möglich ist (siehe Hitler etc.) – die Masse von Menschen um einen herum etwas will, was den eigenen moralischen Grundwerten kraß widerspricht und einem unsachgemäß, unverantwortlich, brutal oder verbrecherisch erscheint, muß mensch sagen: „Wir können uns einerseits nicht einigen. Aber wir – zumindest ich! – werden jetzt andererseits auch nicht Stimmen zählen und GEMEINSAM! das als gültige Entscheidung betrachten, was die Mehrheit will!“ Unter Berufung auf Punkte wie moralische Reife oder Qualität von Argumenten wird mensch beginnen, das ganze „Mehrheitsprinzip“ (sogenannte „Demokratie“) insgesamt in Frage zu stellen – und abzulehnen.

Da bin ich erstaunt, daß Ihr dieses System, in welchem Ihr Euch um Mitbestimmung bemüht, nicht genauer durchschaut.

Die Durchsetzung des „Wählens“, der „Mehrheits-Demokratie“ (das „Volk“ herrscht eben nicht, solange nur die Mehrheit bestimmt), ist nicht nur unbefriedigend für Vernunft und Gewissen. Dieses System, welches im Ganzen der Welt betrachtet, mit verheerenden Schäden wirkt, arbeitet mit Vereinnahmung und Gewalt, um sich, – auch gegenüber Menschen des eigenen Volkes – durchzusetzen. Nicht nur, das gerade den Jugendlichen – mal von Kleinigkeiten wie fehlender Wahlbeteiligung abgesehen – die Entscheidung für oder gegen „Staatszugehörigkeit“ als solches eigentlich gar nicht bewußt gemacht oder angeboten wird. Die Entscheidung, dem Staat (überhaupt jedwedem Gewalt- oder Herrschaftssystem) NICHT angehören zu wollen, wird dem einzelnen Menschen gar nicht zugestanden. Tritt er aus dem System aus, wird er als illegal eingestuft und – mehr oder weniger direkt – von der staatlichen Gewalt bedroht. Statt zu fragen, ob das Grundgesetz nicht auch die Wahlbeteiligung von Kindern und Jugendlichen hergeben würde, könnte man vielleicht eher fragen, ob es mit der „unantastbaren Würde des Menschen“ überhaupt zusammenpaßt, ihn für das Grundgesetz bzw. das staatliche Herrschaftssystem zu vereinnahmen oder sonst mit der Gesetzesgewalt zu bedrohen.

Und wenn Ihr es schaffen würdet, die Wahlbeteiligung zu bekommen, (was natürlich ein relativer Fortschritt wäre, aber unseres Ermessens immer noch grundsätzlich verkehrt) dann wäret Ihr auch verantwortlich (bzw. noch verantwortlicher als durch die Staatsbürgerschaft als solche) beteiligt an solchen Herrschaftsstrukturen mit ihren Vereinnahmungsversuchen und Gewaltandrohungen. Wollt Ihr das?

Es gibt theoretische und praktische Alternativen, die sich in unserem Jahrhundert z. B. mit dem Namen Mahatma Gandhi verbinden. Das „Konsens-Prinzip“ ist – als Alternative zu Gewaltstrukturen – durchaus in der Diskussion.

Wenn Ihr Kontakt, Austausch etc. interessant findet, antwortet halt mal. Auch zum Besuch seid Ihr herzlich eingeladen.

Mit freundlichen Grüßen

Öff! Öff!

Haus der Gastfreundschaft,

Alte Dorfstr. 6

19370 Dargelütz

 

 

aus ICH 2/ 96