von Katrin Laux
Primärtherapie hat mich von Angst befreit; Angst vor Autoritäten, vor Spinnen, vor dem Alleinsein, vor Trennungen. Dabei war ich sicher nicht mehr »gestört« als die meisten von uns, nur hat mich etwas davor bewahrt, dies als das Normale zu akzeptieren. Ein dumpfes Suchen füllte Jahre meines Lebens aus. Allmählich übernahm ich als »Erkenntnis« aus Literatur (Alice Miller), Begegnungen, Vorträgen usw., was mir auch beim Beobachten meiner Selbst, meiner Kinder, meiner Umwelt, meines Alltags als stimmig und wahrhaftig erschien:
1.) Ein Kind ist von Natur aus mit Friedfertigkeit, Liebesfähigkeit und dem Willen zur Sozialisation ausgestattet. Es entwickelt sich nach dem Beispiel der Eltern/ Umwelt, weil es deren Erwartungen erfüllen möchte. Eine Umwelt, die selbst aggressiv ist und die Bedürfnisse des Kindes indes nicht erkennt und erfüllt, ist verantwortlich für das Verhalten des Kindes/ bzw. späteren Erwachsenen. 2.) Alles, was das Kind nicht verarbeiten kann, bleibt gespeichert in vielfältiger Form und beeinträchtigt seine Glücksfähigkeit. Wenn ich an derartigen »Formen« etwas ändern will, muß ich mich mit dem Kind in mir befassen. Ansonsten bürde ich meinem Willen, der so gern meine »neurotischen Züge« bewältigen möchte, eine Sisyphusarbeit auf. 3.) Ich muß mich nicht annehmen, wie ich bin, solange ich das gefühlsmäßig nicht kann. Mir dies einzureden, hilft den Kräften in mir, die verdrängen wollen. Dieses »ich bin« muß befragbar bleiben: Gehört wirklich alles zu mir, was ich mit mir rumschleppe (Ängste, Aggressionen usw.)?
Eben jene Erkenntnisse waren meines Erachtens sowohl Grund als auch Voraussetzung für meine Begegnung mit Primärtherapie, ohne daß ich einen Umweg über andere Therapieformen nehmen mußte. (Den Ansatz einer Analyse gab ich nach ersten Primärerfahrungen auf.) Eine große Hoffnung hatte mich wach gemacht, nämlich, daß es in mir etwas gibt, was permanent fähig ist zum Lieben, Glücklichsein, zur Selbstsicherheit und Unabhängigkeit. (Es gab zwar Momente des Glücks, aber ich war lange Zeit überzeugt davon, daß ich sie nur deshalb empfinden könne, weil es genug Tiefpunkte gab – so als sei das Leben ein Farbkasten, und helle Töne könnten nur umgeben von dunklen als solche wahrgenommen werden.)
Ich hielt Ausschau nach Hilfe und nahm an zwei Erfahrungswochenenden mit dem Primärtherapeuten Dr. Klaus Contag in Berlin und Leipzig teil. Ich entdeckte durch den Körper – und nicht nur durch den Kopf – welch Potential ungelebter Gefühle in mir angesammelt war. Forthin wollte ich diese Gefühle nicht an denen auslassen, auf die ich sie nur übertrug. Bei dem Versuch, aktuelle Probleme auf eine Art und Weise für mich zu verarbeiten, wie ich es als derart wohltuend und befreiend empfunden hatte, geriet ich tief ins Fühlen hinein. Allein glaubte ich’s nicht zu schaffen, ein Zurück gab es auch nicht mehr. (Therapie: griech. therapeia; jemanden auf einem Weg begleiten.)
Tagebuchauszüge
… Der Ort hier, innerhalb der Poliklinik im Allgäuer Ort Seibranz, ist äußerst angenehm; das Zimmer ringsum holzverkleidet, einfache, funktionale Möbel, eine Kochgelegenheit, eine Tasse mit abgeschlagenem HenkeI z. B. – das alles vermittelt das Gefühl, daß zum Leben tatsächlich nur einfache Dinge notwendig sind. (Daß sich im Haus eine Sauna befindet, scheint Luxus nicht zu sein; sich selbst Genuß gönnen, dem Körper und der Seele Gutes tun, ist wichtig.) In einer Stunde beginnt die erste Einzelsitzung. Ich bin weder aufgeregt noch habe ich Angst. Ich freu mich drauf, weil ich hoffe, einen großen, schweren Sack endlich abstellen zu können.
… Im übrigen fühle ich mich nicht gut jetzt. Ich fühle mich geradezu beschissen. Ich fühle mich einsam, nutzlos, dumm und nochmal einsam. K. ist wohl nicht »mein Therapeut«, und ich weiß nicht, ob es Sinn hat, hier weiterzumachen. Das Bild, was mir im Therapieraum komischerweise in den Sinn kam: Ich sitze in einem Würfel – ich bin der Würfel; eingequetscht, eng, zufällig, hin- und hergerollt. Diese wahnsinnige Sehnsucht nach irgend jemandem. Aber ich weiß nicht, wen ich rufen soll, es ist sowieso sinnlos. Ich glaube zu ahnen, worin der Nachteil der Janovschen Primärtherapie besteht: Der Mensch hat nichts für seinen Verstand zu tun. Er soll nur fühlen. Nur das Gefühl zählt. Aber wenn ich hinterher so sitze, will ich gern reden, oder wenigstens nicht allein sein mit dem Erlebten. Oder doch – wo ich doch auch im Leben nur allein das schaffen kann, was mit mir zu tun hat? Jedenfalls gehe ich mir jetzt Zigaretten kaufen, obwohl ich hier oben nicht rauchen wollte.
… Die Sitzung heute war ganz anders als gestern. Heute malte ich mich mit Keule, die erhoben ist, einen Würfel zu treffen. Was eigentlich passiert ist, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Ich bin von einem Gefühl ins andere getaumelt. Wunderbar war, daß K. mir heute wirklich helfen konnte. Ich hab einfach irgendwie durch ihn verstanden, worauf es ankam; daß es nämlich auf mich ankam und zugleich wieder auf gar nichts. Er hat mir gezeigt, wie ich atme, wie überhaupt alles in mir wirkt, wie ich was abwehre und warum – und hat dabei kaum ein Wort gesprochen. Und was ich jetzt nicht tue, muß ich später tun oder anders – aber erspart bleibt es mir nicht. Und ich hab erkannt, daß ich dem gelernten Schema folgend – wiedermal einem Menschen beinahe keine Chance gelassen hätte. Gestern hab ich gemeint:
»K. versteht mich sowieso nicht, da hab ich’s wiedermal; durch die größte Scheiße muß ich allein durch…« Die anderen waren bisher immer nur da, dies zu bestätigen. Selbst wenn es anders war – ich konnt’s nicht anders sehen. Heute hab ich nach meinen Eltern geschrien, das hat irgendeinen Knoten gelöst. Vorher wollt ich auch spazierengehen, bin aber nicht weit gekommen, weil mich das Heulen überfiel, weil keiner da war, dem ich sagen konnte, wie schön der Mohn blüht und wie gut die Holunderblüten riechen. Daß ich durch das Schlechte allein durch muß, kann mein Verstand gerade noch in die Reihe kriegen. Aber daß auch für das Gute, Schöne niemand da war, es zu teilen, daß ich auch in der Freude allein sein mußte, das war kaum zum Aushalten. Nun denn – jetzt, hinterher, konnte ich stundenlang spazierengehen, mit braunen Kühen reden, daß sie doch nicht so traurig blicken sollten, denn es ist das Schlimmste nicht, eine braune Kuh zu sein. Vielleicht ist es am Ende wirklich so, daß ich selber nicht so wichtig bin; als mein Blick wieder offen war für den Himmel und die Kuh und das Gras, sah ich plötzlich viele ebenso wichtige Dinge, die außerhalb von mir existierten, und das zu spüren war unendlich gut. Das alte Schema ist vielleicht noch nicht aufgebrochen, aber ich hab eine Tür aufgemacht. Das alte Schema ist: Ich brauch immer andere Menschen, die bestätigen, daß ich okay bin, daß ich etwas bedeute und wichtig bin. Ich für mich selbst hab das wahrscheinlich nie so richtig empfinden können. Jetzt hab ich Sauna hinter mir und fühle meinen Körper als eine einzige schwere wohlige Masse. Ich fühle mich befreit; »Heinrich, der Wagen bricht! – Nein Herr, der Wagen nicht. Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als ihr in dem Brunnen saßt, als ihr noch ein Frosch gewast.«
… Traum: Leider ist der Hergang mir nicht mehr in Erinnerung, aber wir haben unsere liebe Oma umgebracht. Mitwisser waren meine Schwester und mein Sohn in einer Person und letztlich meine Mutter, als sie noch ganz jung war. Entweder wir haben unsere Oma zu Tode gehetzt bei einem Spaziergang oder wir haben aus Versehen auf sie geschossen – das Ganze war tatsächlich mehr ein Zufall als Absicht. Aber aus Feigheit oder aus Unachtsamkeit waren wir eindeutig schuld an der Tatsache. Ich saß irgendwo herum, da kam meine Mutter mit der Sterbeurkunde und der frohen Botschaft, daß niemand etwas bemerkt habe; alle glaubten an ein Unglück. Ich war sehr froh und sehr dankbar und wunderte mich nur, daß mich alles so unberührt ließ, obwohl ich immer in der Gewißheit gelebt hatte, meine Oma über alles zu lieben.
… Ich komm kaum aus dem Bett und laufe wie durch eine neblige Welt. Es ist gleich zwölf und ich habe mir gerade ein Frühstück gemacht. Eins von drei schrägen Dachfenstern ist ständig geöffnet, ich sehe den Himmel und höre Dorfgeräusche. Gestern hab ich versucht, den Blumenstrauß auf meinem Tisch zu aquarellieren, es ist ein ziemlich kümmerlicher Versuch geblieben. Ich wollte immer alles können, auch malen z.B. Jetzt sehe ich ein, daß ich eben einige Sachen nicht kann, oder daß sie mich solche Anstrengungen kosten würden, daß ich dazu keine Lust habe. Mir ist gestern noch etwas klar geworden, was ich aufschreiben will, weil es mir einen möglichen Weg weist. In der gestrigen Sitzung hab ich irgendwann gesagt: »Ich kann das nicht« (z.B. tief atmen, mit dem Schläger auf ein olles Kissen haun oder meine Eltern ansprechen). K. meinte; natürlich kannst du das, jeder kann das. Du willst nur nicht. Ich war ziemlich sauer, auf ihn, auf mich. K. half mir aber rauszufinden, daß ich nichts dafür kann, wenn ich nicht will, weil ich und ich – das sind noch zweierlei. Das eine Ich will einfach nicht tief atmen, dann müßte es nämlich etwas loslassen, was es festhalten will. Es will aber festhalten, weil es damals gerade durch dieses Festhalten überleben konnte. Es will nicht schreien, weil es damals gerade durch dieses Nicht-Schreien wenigstens das Wohlwollen der »Aufsichtsperson« bekommen hat. Für mich ist diese Erkenntnis sehr wichtig; ein »ich kann nicht« hat mich immer sehr hilflos gemacht und resigniert. Wenn dieser eine Teil sagt »ich will nicht«, so birgt das große Hoffnung; denn ein Wollen ist zu beeinflussen, wenn ich z.B. Geduld habe zu erspüren: warum will ich nicht – und mir klar wird (weniger über den Verstand als übers Gefühl), daß die Gründe für dieses Warum jetzt nicht mehr vorhanden sind.
… Kaum zu glauben, es gibt Dinge auf dieser Welt, die hab ich nicht mal erahnt. Der Vergleich mit dem verzehnfachten Orgasmus hält nicht stand; es ist etwas anderes. Ich hab so lange, so laut, so mit dem ganzen Körper NEIN geschrien, wie das wohl kaum unter der schlimmsten Folter möglich gewesen wäre. Es muß Folter gewesen sein damals, obwohl ich dieses »es« nicht konkret erinnern konnte. Heute hab ich’s gefühlt (z.B. Schmerzen im Bauch, die die Ärzte bisher als chronische Eierstockentzündung diagnostiziert haben); das war furchtbar und war doch zugleich das Paradies. Ich hab mich gewehrt, hab weggestoßen und Nein geschrien und laß mich in Ruhe! und geh weg du altes Schwein! Es ist einfach überhaupt nicht in Worte zu fassen, wie gut ich mich jetzt fühle. Bisher hab ich Liebe in Ermangelung einer anderen Erfahrung definiert für mich als Freundschaft plus Begehren. Nur Begehren war Trieb, nur Freundschaft ein schönes Geschenk – und beides zusammen war eben Liebe. (Woher eigentlich diese Sucht, alles benennen zu wollen?) Jetzt ahne ich, daß da noch etwas anderes ist, was eben einfach da ist, was sich jeder Beschreibung entzieht.
… Eine Weile geschlafen, dann wieder Schmerzen im Bauch – Willkommen Symptom! Der Versuch, allein zu »primeln« (= auf primärtherapeutische Weise Gefühle „Rauslassen“, – A.P.), brachte etwas Erleichterung. Ein Stück Spaziergang, vom Regen überrascht, wunderbarer Rundblick; weiß und dunkelgrau, schön, den Regen zu genießen. »Oh, Ihr alle, die Ihr vorübergeht am Wege, gebet Acht und schauet, ob ein Schmerz gleich sei meinem Schmerze« – stand im Stein am Wegesrand zwischen zwei Dörfern, darüber Jesus am Kreuz. Das hat mir gefallen, das ist mir sinnfällig.
… Habe heute fast nur geschlafen, Sauna, nachgedacht. Faul und herrlich! Höre auch allmählich auf, von mir hier etwas zu erwarten wie Bilder, Briefe, gelesene Bücher. Spüre trotzdem (oder erst jetzt?) eine Mannigfaltigkeit im Warten, sich besinnen, reifen lassen. Im übrigen will ich mir nicht schon wieder etwas vornehmen, aber ich kann einige Dinge, die ich bisher getan habe oder die im Moment so sind, zu Hause einfach nicht mehr begreifen oder gutheißen.
… Ich werde ein Bild malen und keine großen Worte machen. Ich könnt mich totlachen. Die Welt ist so friedlich. Ich bin so gut.
… Während einer Gruppensitzung mit Unterstützung durch den Therapeuten: »Ich will irgend jemandem sagen, daß ich ihn liebhab, aber keiner will das hören.« K.: »Sag’s doch. Was passiert?« »Sie wollen das alle nicht hören, es nervt sie. Alle nervt das.« – K. : »Ja, wenn die kleine Katrin immer zurückgewiesen wurde, wenn es lästig war, soviel Bedürfnis…« – »Ja, es hat immer alle genervt, wenn ich lieben wollte, dabei wollte ich doch nur eine Hand, ein kleines bißchen Wärme … « – K.: »Ach? So genügsam? Du wolltest mehr, nicht wahr, und du hattest das Recht, mehr zu verlangen!« – »Ja, ich wollte mehr, viel Wärme und viel Kuscheln… « – K.: »Und weil dein Wunsch berechtigt war, warst du sehr zornig, das mußt du ihnen zeigen… «
Was steckte da in mir für Schmerz, für Wut! Ich hab die Wut so früh verlernt, aber sie ist unter der Haut geblieben, in meinen Schultern hab ich sie herumgetragen all die Jahre, hab da alles mögliche draufgepackt, um ein Gegengewicht zu haben. Männer haben die Wut gespürt, die in meinen Schenkeln war (denn mit dem Fuß aufstampfen – oh wie garstig ist das kleine Mädchen, wie böse), ich hab mit meinen Schenkeln gesagt: liebt mich, liebt mich – aber es war immer die falsche Adresse.
Das Leben nach der Therapie
Darüber zu schreiben fällt mir deshalb schwer, weil gerade die »neue Zeitrechnung« gekennzeichnet ist dadurch, daß sich vieles der Beschreibung entzieht. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann ist, daß sich alles wandelt. Was ich vorher ständig analysieren mußte, um es zu begreifen, lebe ich jetzt aus dem Bauch. Das neue Gefühl setzt sich auch aus tausend kleinen Veränderungen im Alltag zusammen. Ich bin früh ausgeruht und entspannt. Ich bin gern allein, wovor ich sonst immer floh. Ich kann in einem Café sitzen und die Leute am Tisch ansprechen. Ich hetze mich nicht und bin zufrieden. (Zufriedenheit hat mein Intellekt gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser!) Ich war nicht die ideale Mutter (wieviel Selbstverachtung hat das hervorgebracht!) und werde es nicht sein; aber ich kann meine Kinder annehmen und für sie verfügbar sein. Die vielen Dinge, die ich um mich herum angesammelt habe, sind nicht nur überflüssig, sie sind sogar schädlich. Sie zwingen meine Gedanken herumzugaloppieren, anstatt sich auszuruhen. Ich spüre, daß ich dem Rhythmus der Natur angehöre; daß mir von dort Energien zufließen, die ich dann wieder ausstrahlen kann; daß ich dadurch weniger verwundbar bin. Ich erlebe spontaner und finde schneller mein Gleichgewicht wieder, weil kein Rest bleibt.
Meine Erwartungen an andere sind geringer geworden, was nichts zu tun hat mit heruntergeschraubten Ansprüchen. Ich schaue und erlebe einfach, was auf mich zukommt, gehe aber weniger Kompromisse ein. Meine Befindlichkeit hängt kaum noch von anderen Menschen ab. Wenn ich mit einem Mann schlafe, dann als Frau; ich muß nicht gleichzeitig Mutter, Schwester oder sonst was sein. Eines der hauptsächlichen Resultate ist, daß ich mir eine neue Lebensform erträume. Keine feste Partnerschaft. Kein Allein-Leben. Ich brauche unbedingt meinen eigenen Raum in jeglichem Sinn, könnte mir das aber gut vorstellen innerhalb einer Gemeinschaft, weil ich mich ebenso sehne nach Aufgehoben- und Geborgensein.
Mein Verstand sagt mir, daß diese Therapie noch nicht zu Ende sein kann nach so kurzer Zeit. (Es steht mir die Möglichkeit offen, weiterzumachen.) Im Grunde aber weiß ich nicht, was mir zu wünschen übrigbleibt außer dem, was ich selbst zu bewältigen glaube.
aus ICH 6/ 92