Anna: „Das Leben macht mehr Spaß so.“ Eine Fallgeschichte

von Heike S. Buhl

Wie weit soll man bei der Nächstenliebe gehen? Wo fängt die Selbstaufgabe an, wann sind die eigenen Kräfte überschritten? In meiner körpertherapeutischen Praxis begegne ich immer wieder typischen Vertretern des „Helfersyndroms“: Menschen, die sich für andere aufopfern, die eigenen Grenzen übersehen und dabei Gefahr laufen, irgendwann völlig erschöpft und ausgebrannt zu sein. Zum Beispiel Anna – eine Klientin, die ich zwei Jahre lang in ihrem inneren Prozeß begleitete. 

Die Vorgeschichte 

Mitte 1994 kommt Anna zu mir in die Praxis. Sie ist Anfang 50 und arbeitet in der Altenpflege. Die von ihr geschilderten Beschwerden sind hauptsächlich psychischer Natur. Sie möchte insgesamt ruhiger und ausgeglichener werden, mehr „mit den Beinen auf den Boden kommen“ und lernen, anderen besser zu helfen. Letzteres scheint sie besonders zu beschäftigen. Wenn sie davon erzählt, wie sie anderen Menschen hilft, blüht sie regelrecht auf. Es macht fast den Eindruck, als wolle sie die Therapie hauptsächlich machen, um noch mehr Kraft für andere zu haben. Für den Einwand, daß sie doch auch mit den vorhandenen Kräften besser haushalten lernen könnte, hat sie kein offenes Ohr. Anna hat außer den Kranken und Hilfsbedürftigen, um die sie sich kümmert, kaum soziale Kontakte. Für andere Menschen reibt sie sich auf und ist enttäuscht, wenn diese ihre Hilfe nicht annehmen können. Seit vielen Jahren hat sie eine lose Beziehung zu einem Mann. Den Wunsch nach einer eigenen Familie hat sie nicht.

Anna berichtet von einer schweren Kindheit. Sie wuchs in einem Übersiedlerlager als drittes von sechs Kindern auf. Eine der älteren Schwestern starb früh. Als Anna neun Jahre alt war, starb auch ihr Vater. Die Mutter hatte wenig Selbstvertrauen. Sie wurde stark depressiv und äußerte immer wieder, die Kinder seien doch „ohne sie besser dran“. Anna, selbst noch ein Kind, sorgte sich um die drei jüngeren Brüder und versuchte, der Mutter Mut zu machen und sie über den Verlust des Vaters so gut wie möglich hinwegzutrösten – für eine Neunjährige eine unmögliche Aufgabe.

Annas äußere Erscheinung ist gepflegt, sie wirkt dabei etwas verhärmt, wie ein Mensch, der sich selber nicht viel gönnt. Während unseres Gesprächs gehen ihre Augen unruhig hin und her, sie wirkt angespannt. Es fällt ihr schwer, über sich selbst zu sprechen. Sie macht den Eindruck, als wolle sie am liebsten gleich wieder weglaufen. Die Vorstellung, für sich selber Hilfe oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist ihr unangenehm. Eine Therapie zu beginnen, ist für sie nur unter dem Deckmantel „für andere“ möglich. Wir einigen uns darauf, daß sie zunächst vier Stunden „zur Probe“ zu mir kommt und danach entscheidet, ob sie sich auf einen längeren therapeutischen Prozeß einlassen kann.

Körpertherapie, Krankheit und Gesundheit

Die Körper- oder Orgontherapie geht vor allem auf die Erkenntnis Wilhelm Reichs zurück, daß allen seelischen und körperlichen Phänomenen ein natürliches Fließen von Lebensenergie – Orgon – zugrunde liegt. Unser Denken und Handeln, unser Bewußtsein und Gefühl und unsere körperliche Selbstwahrnehmung sind unterschiedliche Ausdrucksformen dieses energetischen Lebensflusses.

Psychische Konflikte führen zu einer Einschränkung der Lebendigkeit des menschlichen Organismus, indem sie den Fluß dieser Lebensenergie im Körper herabsetzen, blockieren. Mangelndes Selbstwertgefühl, unbefriedigende Partnerschaft und Sexualität, Dissonanzen in der Familie, Streß am Arbeitsplatz sind nur einige Beispiele für Faktoren, die unbewußt zur Entstehung von Erkrankungen beitragen können. Die Krankheitssymptome haben dabei ihre eigene Ausdruckssprache, z. B. läuft uns „die Galle über“, es „verschlägt uns den Atem „, wir „kriegen kalte Füße“, haben „die Nase voll“, oder uns „wachsen graue Haare „.

Die Beschränkung des lebendigen Energieflusses macht sich äußerlich in muskulären Verspannungen bemerkbar, innerlich drückt sie sich in einer Einschränkung der Pulsation des vegetativen Nervensystems aus. Was heißt das: „Pulsation des vegetativen Nervensystems“? Das vegetative Nervensystem, das die Tätigkeit der inneren Organe regelt, arbeitet nach dem Prinzip, daß sich Phasen von Anspannung und Entspannung, von Aktivität und Ruhe abwechseln. Wenn dieses „Pulsieren“ beispielsweise durch Dauerstreß gestört ist, wenn nur noch eine der beiden Phasen vorherrscht – z. B. ständige Anspannung – dann kann der Körper mit Krankheit reagieren. Krankheit ist in diesem Fall ein „Ausbruchsversuch des Organismus aus der Starre“, ein Versuch, wenigstens einen Rest der Pulsation aufrechtzuerhalten oder wiederzuerlangen. In dem Krankheitssyndrom entlädt sich dann sozusagen die durch lange Anspannung aufgestaute überschüssige Energie – allerdings auf nicht gerade optimale Weise. Je nach Schweregrad der zugrunde liegenden Störung der Pulsation haben diese Krankheitsausbrüche verschiedene Ausprägungen – angefangen von Grippe, entzündlichen Erkrankungen, Asthma oder Darmerkrankungen über Bluthochdruck bis hin zu Herzinfarkt, Leukämie und Krebs. Wird der Energiefluß im Körper und damit die vegetative Pulsation wieder angeregt, so entzieht man der Erkrankung den Nährboden.

Diese Sichtweise bedeutet gleichzeitig eine völlige Neubewertung von Gesundheit und Krankheit: Ein Mensch, der jahrelang nicht krank war, kann einfach kerngesund sein. Das gleiche Erscheinungsbild kann aber auch auf diese „vegetative Reaktionsstarre“ zurückzuführen sein, auf deren Boden sich dann „aus dem Nichts“ plötzlich eine schwere Erkrankung wie z. B Krebs bilden kann. Derjenige, der jedes Jahr einen fieberhaften grippalen Infekt hat, kann daher gesünder sein als derjenige, der „nie krank gewesen“ ist.

Um diesen Erstarrungsprozeß aufzuhalten oder umzukehren, wird in der Orgontherapie mittels verschiedener therapeutischer Techniken an der Auflösung der energetischen und muskulären Blockaden im Körper gearbeitet. Statt mit Medikamenten Symptome zu bekämpfen, versuchen wir also, den Ursachen der Erkrankung auf die Spur zu kommen. Drei dieser Techniken haben sich dabei in meinen Augen als besonders wirkungsvoll herausgestellt. Die Besonderheit meiner therapeutischen Arbeit besteht in der Kombination dieser Methoden.

Eine dieser Techniken ist die „Energetische Medizin“ (am Wilhelm-Reich-Institut von dem Arzt Heiko Lassek entwickelt). Dabei werden, in Verbindung mit tiefer Atmung, verschiedene körperliche Anspannungspositionen benutzt, um den Energiefluß im Körper zu mobilisieren, z. B. maximale Anspannung der Arme oder Anheben des Beckens wie bei der „Brücke“. Dadurch treten im Körper autonome, unwillkürliche Bewegungen auf. Es wird also mit dem Wechsel von hochenergetischer Ladung (durch Atmung) und Entladung (durch unwillkürliche Bewegungen) des Körpers gearbeitet. Über die Stimulierung von sogenannten „Triggerpunkten“, z. B. in der Mitte der Fußsohle oder an der Kniescheibe, wird in der nachfolgenden Ruhephase die Energie im Körper gezielt gelenkt und sanft verteilt.

Diese Technik hat sich bei emotionalen wie auch bei körperlichen Beschwerden als sehr wirkungsvoll herausgestellt, da sie als Reiz wirkt, der das vegetative Nervensystem zur gesunden Pulsation anregt. Der Organismus, der sich in einem ungesunden Gleichgewichtszustand eingerichtet hat, wird stimuliert und „aufgeweckt“.

Mein zweiter Schwerpunkt ist die „Points and Positions“-Arbeit (an der European Reichian School von dem Therapeuten Will Davis entwickelt). Die körperlichen Anspannungsmuster und Blockaden werden dabei durch gezielten Druck auf das Bindegewebe, die Sehnen und Muskelansatzpunkte (alles zusammen sind die „Points“)aufgelöst. Indem man den Körper in bestimmte, die verspannten Muskeln entlastende Positionen (oder „Positions“) bringt, werden kontrahierte Bereiche schmerzlos entspannt. Z. B. werden Nackenverspannungen u. a. durch ein sanftes Anheben und Halten der Schultern durch den Therapeuten behandelt. Diese Arbeit führt auf eine sanfte, wachstumsbetonte Art zur Anregung der Pulsationsvorgänge im Körper. Sie unterstützt insbesondere auch das Sich-Zentrieren, Sich-Sammeln und Nach-Innen-Gehen der Patienten wie in einer heilsamen Trance. Tiefe innere Prozesse werden aktiviert, die Einfluß auf körperliche, emotionale und psychische Vorgänge haben.

Der dritte Aspekt der Therapie legt das Hauptaugenmerk auf das Bewußtwerden und den Ausdruck derjenigen Gefühle, die vom Patienten in den muskulären Verspannungen „festgehalten“ werden: vor allem Angst, Wut und Trauer, die vielfach als verboten oder unangenehm erfahren und daher unterdrückt wurden. Das Wiedererleben dieser Gefühle in der geschützten therapeutischen Situation wirkt oft sehr erlösend, da das Unterdrücken von Emotionen viel Kraft bindet. Gleichzeitig werden die Gefühle von Vertrauen, Freude und Lust wieder stärker erlebt. Neben der Linderung körperlicher und psychischer Symptome hat die Therapie häufig Veränderungen in grundlegenden Lebensbereichen zur Folge: eine neue Arbeitsstelle wird gesucht, ein Studium aufgenommen, eine unbefriedigende Partnerschaft gelöst oder der Mut gefunden, sich neu zu verlieben. 

Annas Therapie 

Anna hat einen gleichmäßigen Körperbau, die Muskeln sind insgesamt gut ausgeprägt, aber sehr angespannt. Ihre Augen sind kurzsichtig (- 6 Dioptrien) und ruhelos. Augenkontakt fällt ihr schwer. Besondere verspannt sind das Kinn, das Hinterhaupt und die Schultern sowie die Muskeln entlang der Wirbelsäule. Ich deute die muskulären Verspannungen als Ausdruck der inneren Anspannung und des Leistungsdrucks, unter dem Anna steht. Dies spürt sie vor allem an ihrer Arbeitsstelle. Sie soll dort ein Archiv umorganisieren und fühlt sich von dieser Aufgabe überfordert. Damit nicht genug, kritisiert sich Anna auch noch dafür, daß sie nicht besser und leistungsfähiger ist. Selbstkritik ist eine von Annas „Stärken“!

In den ersten vier Stunden arbeite ich mit Anna zunächst nur mit der Points and Positions-Technik, um ihr Körpergefühl zu verbessern, den Körper sanft zu mobilisieren und sie vor allem etwas zu entspannen. Danach sind die Augen etwas ruhiger, es kommt innere Bewegung in den Rücken und die Beine. Sie berichtet – nach einer Stunde energetischer Arbeit an den Beinen – zuhause habe es in die Beine, das Herz und den Kopf noch mehrmals „wie der Blitz eingeschlagen“. Der Kopf fühlte sich danach viel freier an.

Daß das Ziel einer ersten Mobilisierung erreicht zu sein scheint, schließe ich auch daraus, daß der vierten Stunde eine eintägige „Kurzgrippe“ mit Fieber folgt. Da sie schon seit langer Zeit keine derartige Erkrankung mehr gehabt hat, könnte das Fieber anzeigen, daß der Organismus vegetativ in Bewegung kommt.

Anna möchte danach die Therapie fortsetzten, aber ihre Ängstlichkeit hat sie noch nicht überwunden. Zunächst legt sie sich nur für vier weitere Stunden fest. Das ist zwar ungewöhnlich, ich gehe jedoch darauf ein, da ich merke, wie schwer dieser Schritt für sie ist.

In den nächsten Stunden stellt sich heraus, daß die Energie recht gut in Annas Arme fließen kann; dadurch kommt es während der Behandlung zu spontanen, entladenden Schlagebewegungen. Die Rückenmuskulatur fühlt sich dagegen an wie Beton. Auch der Bauch und die Beine sind weiter sehr verspannt. Anna klagt, daß sie schon viele Jahre unregelmäßigen Stuhlgang habe, Verstopfung und Durchfall mit schmerzhaften Blähungen wechseln sich ab. Auch hier zeigt sich wieder der Übergang von vegetativer Starre (Verstopfung) in überschießende Entladung (Durchfälle). Verspannungen im Kopf- und Nackenbereich führten zu einem seit langer Zeit anhaltenden Tinnitus – einem ständigen Klingeln im linken Ohr – und öfter zu Kopfschmerzen.

Als wir an ihren Augen arbeiten – auch ein Bereich des Körpers, der oft sehr viel Energie und Gefühle zurückhält – stellt Anna fest, daß sie überhaupt nicht böse gucken kann. Dies ist Ausdruck ihrer tiefen Aggressionshemmung. Sie will ein ganz und gar guter Mensch sein. Und da sich das nicht verträgt mit dem Äußern von Ärger oder mit „Nein“-Sagen, überfordert sie sich ständig. Oder läßt sich überfordern. Bevor sie nicht lernt, sich den unterdrückten Aggressionen zu nähern und sie zunächst wenigstens versuchsweise in der Therapie zum Ausdruck zu bringen, wird sie sich im sonstigen Leben weiterhin schwer abgrenzen oder wehren können.

Die Behandlung bringt Annas Körper zu allen möglichen ungewohnten Reaktionen. Manchmal ist ihr die Energie zuviel, dann kann sie nächtelang nicht schlafen. Manchmal sucht der Körper sich andere Entladungswege, so daß alte Symptome, bei Anna ist es eine Gürtelrose, für kurze Zeit wieder auftauchen. Dann wieder macht sie eine Angina durch, die sie selber als „lösend“ empfindet. Im Laufe der Arbeit lassen diese überschießenden Reaktionen nach. Es ist auch zu beobachten, daß Annas Starre in den Beinen sich auflöst und Entladungen über unwillkürliche Beinbewegungen möglich werden. Insgesamt kann sie jetzt mehr Energie aufnehmen und aushalten, was subjektiv zu einem Gefühl von mehr Kraft und Stärke führt.

Ende 1994 stellt Anna fest, daß ihr räumliches Vorstellungsvermögen als Folge der Arbeit an den Augen zugenommen hat. Im Beruf fällt es ihr spürbar leichter, sich zu konzentrieren. Außerdem kann sie Kontakte zu anderen Menschen inzwischen besser aushalten, muß nicht mehr „ganz schnell weglaufen“. Zur Therapie kommt sie inzwischen regelmäßig. Das Ohrgeräusch beginnt ab Februar 1995 manchmal für mehrere Tage ganz zu verschwinden. Anna erkennt, daß das Klingeln nachläßt, wenn sie weniger unter Druck steht.

Im April 1995 erzählt mir Anna, daß ein für sie wesentliches Gefühl des „Nicht-Dazugehörens“ weit zurückreichende Wurzeln in ihrer Kindheit hat. Da sie als einzige in der Familie dunkle Haare hatte, sagte der Vater öfter halb scherzhaft „Du gehörst nicht zu uns, Du bist ein Zigeunerkind“. Das – und die mit diesen Worten beabsichtigte Abwertung – hat sich ihr tief eingegraben. Darüber hinaus zog sich ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes in sich selbst zurück und wich nach Möglichkeit jedem Kontakt mit Menschen aus. Anna versuchte, sie mit einzubeziehen, indem sie viele Menschen mit nach Hause brachte – erfolglos. Dadurch blieb bei Anna das Gefühl zurück, den selbstgestellten Anforderungen nicht gewachsen zu sein und der kranken Mutter zur Last zu fallen. Bei dieser Erinnerung beginnt sie erstmals in der Therapie leise zu weinen, denn sie „will niemanden belasten“.

Da Anna sich von klein auf für die Familie zuständig fühlte, hat sie nie gelernt, eigene Wünsche zu entwickeln. Sie hat sich sogar dafür geschämt, überhaupt eigene Bedürfnisse zu haben. Das Kümmern um andere ist ihr Lebensinhalt und Selbstideal geworden. An ihrer Arbeitsstelle ist sie oft bis 8 oder 9 Uhr abends. Sie fragt mich ganz ernsthaft, warum sie denn lernen solle, was ihr Spaß macht. Es ist ihr schwer zu vermitteln, daß ihre ständige Aufopferung der Grund für ihre körperlichen und psychischen Beschwerden sein könnten, und daß ihr ein Stück Lebensfreude bestimmt nicht schadet. Sie glaubt, nur durch völlige Selbstaufgabe ein guter Mensch sein zu können. Ich dagegen meine, daß man nur für andere da sein kann, wenn man zuerst gut für sich selber gesorgt hat: „Erst Eigenrettung, dann Fremdrettung“ heißt es in der Erste-Hilfe-Ausbildung.

Für die Probleme anderer hat Anna immer schnell einen Rat oder eine Lösung parat. Das führt leicht dazu, daß sie sich bei anderen, wie sie es nennt, „einmischt“. Der Weg zwischen selbstloser Nächstenliebe und manipulativem Helfersyndrom ist schmal. Im Herbst 1995 kommt sie plötzlich mit einem Blumenstrauß in die Praxis und sagt: „In der letzten Stunde habe ich wirklich begriffen, daß ich mich gar nicht immer einmischen muß. Ich kann die anderen die Dinge auf ihre eigene Art erledigen lassen, ohne gleich eine Grundsatzdiskussion über jede Kleinigkeit zu führen“.

Anna merkt von sich aus, daß das Helfen dazu dient, eigene innere Leere zu verdecken und daher nicht dem Überfluß, sondern dem Mangel entspringt. Das Helfen macht wichtig! Anna beginnt, die kirchliche Erziehung zum Nur-gut-sein anzuzweifeln. Ihre Zweifel an kirchlichen Dogmen mehren sich, und sie beginnt, in kleinen Schritten mehr für sich selbst zu tun. Dabei muß sie regelrecht trainieren, ihre eigenen Wünsche wahrzunehmen und zu äußern.

Auf der Arbeitsstelle gelingt es Anna, erste Grenzen zu ziehen. Sie trennt berufliche und private Erledigungen und schafft es, den Arbeitstag auf acht Stunden zu begrenzen. Damit taucht nun aber das Problem auf, wie sie ihre Freizeit füllen soll! Helfen hilft eben auch dabei, vor sich selber auszuweichen. Da sie sich jetzt schon besser konzentrieren kann, beginnt sie, abends Musik zu hören oder zu lesen. Sie gesteht sich auch schon mal ein, daß sie einige der Dinge, für die sie sich manchmal vorschnell anbietet, eigentlich nicht tun will. Abzulehnen fällt ihr aber trotzdem noch schwer.

Anna möchte noch mehr lernen, sich auszudrücken. Sie merkt selber, wie ihr die Worte im wahrsten Sinne „im Halse steckenbleiben“. Wir arbeiten deshalb daran, Verspannungen im Halsbereich sanft aufzulösen. Dazu bitte ich Anna, verschiedene Töne wie beim Singen zu machen und deren Resonanz mit anderen Körperteilen zu spüren. Dies löst bei ihr zunächst heftigen Würgereiz aus. Dadurch löst sich die Verspannung in der Kehle etwas, der Kopf fühlt sich mehr mit dem Körper verbunden an, und die Töne gelingen Anna schon viel besser. Beim Versuch, die „Augen zu besingen“, den Ton wie durch die Augen nach außen zu schicken, spürt Anna plötzlich starke Angst. Sie sagt, daß sie zwar Angst vor Menschen kenne, aber keine Angst vor Dunkelheit oder ähnlichen Dingen, vor denen sich jeder andere fürchtet. Da in der Kindheit kein Schutz für sie da war, hat sie die Angst einfach verdrängt und sich furchtlos gegeben. Beim Satz „es ist in Ordnung, Angst zu haben“ muß Anna vor Erleichterung weinen. Es ist schon ganz schön anstrengend, nie ängstlich zu sein!

Nach dieser Stunde taucht vor Annas innerem Auge spontan eine längst vergessene Szene aus der Kindheit wieder auf: Als Anna etwa 13 Jahre alt war, warf die Mutter mit einem Messer nach ihr, da sie sich wieder mal „eingemischt“ hatte. Helfen schien doch aber die einzige Möglichkeit zu sein, sich etwas Anerkennung zu verschaffen!

Die energetische Arbeit im Kopfbereich führt dazu, daß der Kopf klarer wird und die Konzentrationsfähigkeit weiter zunimmt. Die Kopfschmerzen werden seltener. Mit der Lösung von Verspannungen im Rücken wird der Energiefluß im Körper immer einheitlicher. Bei der energetischen Hochladungsarbeit (siehe oben) können jetzt Arme und Beine im Wechsel Energie aufnehmen und wieder entladen. Die Entladungen werden dabei „feinschlägiger“, als ob der Körper feinere „Entladungskanäle“ für Energie in die Peripherie gebaut hat.

Annas Augen haben sich im Laufe der Therapie sehr verändert. Das unruhige Hin- und Herschauen vom Anfang ist verschwunden. Sie kann jetzt Gefühle in den Augen ausdrücken. Wenn sie will, kann sie sogar richtig böse gucken! Ruhiger Augenkontakt, dessen Dauer sie selbst bestimmt, löst Verspannungen im Bauch. Die vorher kontinuierlich zunehmende Kurzsichtigkeit ist seit Beginn der Therapie nicht weiter fortgeschritten. Auch eine beginnende Netzhautablösung ist zum Stillstand gekommen. Annas ganzes Gesicht ist inzwischen viel weicher geworden und hat das verhärmte Aussehen verloren.

Im Sommer 1996 beschäftigt sich Anna mit dem Konzept des „inneren Kindes“. Sie bittet mich, ihr bei dem Versuch behilflich zu sein, ein „Zwiegespräch“ zu führen mit dem Kind, das sie einmal war. Dabei bestätigt sich, daß Anna sozusagen nie wirklich Kind gewesen ist. In der Mutterrolle – in die sie schon sehr früh gezwungen wurde – versucht(e) sie, andere glücklich zu machen, kann dabei aber selber nicht glücklich werden. Sie gibt den anderen, was sie sich eigentlich selbst wünscht. Ihre eigene innere Leere und Einsamkeit wehrt sie ab und sagt sich: „Ich brauche niemanden“.

Anna merkt, daß sie noch ein Stück Kindsein nachholen muß und daß ihr „inneres Kind“ viel Zuwendung braucht. Nach der Stunde kauft sie dem „Kind“ gleich einen Teddybären! 

Der Therapieabschluß

Im August 1996 beendet Anna nach zwei Jahren die Therapie. Sie fühlt sich unter Menschen zunehmend wohler, redet lauter und freier, kann sich besser konzentrieren und spürt auf der Arbeitsstelle keinen Zeitdruck mehr. Der Stuhlgang ist gleichmäßiger geworden und hat das Beängstigende verloren. Das Klingeln im Ohr ist zeitweise völlig verschwunden, und die Kopfschmerzen sind selten geworden. Damit ist es Anna gelungen, verschiedene körperliche Krankheitsprozesse aufzuhalten bzw. sogar umzukehren. Sie beginnt, ihr Leben selber zu strukturieren.

Anna schließt nicht aus, daß sie nach einer Pause die Therapie noch fortsetzen möchte. Schließlich will sie ihre Spontanität und ihr Selbstvertrauen noch etwas weiter entwickeln. Sie hat aber in kurzer Zeit für sich selbst so viele neue Erfahrungen gemacht und Einsichten gewonnen, daß sie diese erst einmal weiter in ihrem Leben umsetzen möchte.

Auch ich finde, daß Anna in den vergangenen zwei Jahren Riesenschritte gemacht hat. Die Saat von Selbstliebe als Grundlage für Selbstvertrauen und Nächstenliebe ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich bin sicher, daß Anna weit davon entfernt ist, ein egoistischer und selbstsüchtiger Mensch zu werden. Sie hat lediglich gelernt, auch für sich selbst ein bißchen besser zu sorgen. Und ich glaube: Nur wer für sich selbst gut sorgen kann, kann von Herzen etwas für andere tun – nicht um die eigene innere Leere zu verdecken, sondern um die innere Fülle auszudrücken.

Am Ende der Therapie sagt sie: „Es hat sich so vieles verändert für mich – das Leben macht einfach mehr Spaß so!“

 

 

aus ICH Frühling 97