von Robert Zeiler
Meine Eltern waren geschieden worden, eine ganz normale Geschichte eigentlich zwischen zwei Eheleuten, die spürten, daß sie nicht mehr zusammen konnten, zu dieser Zeit (1944) jedoch ein Schritt mit tragischen Konsequenzen.
Schützten meine Mutter bis dahin die Vergünstigungen für Mischehen, so war sie nunmehr plötzlich vogelfrei. Wir hörten, daß sie abgeholt werden sollte, um nach Theresienstadt gebracht zu werden. An wen hätten wir uns wenden sollen? Also reichten wir Gesuch ein an Hermann Göring, der der Schirmherr der Staatsoper war, an der mein Vater musizierte. Mein Bruder und ich brachten es persönlich zum Reichsluftfahrt-Ministerium. Man verwies uns ans Judenreferat besagten Reichssicherheitshauptamtes in der Kurfürstenstraße. Ein gewisser Hauptsturmführer Wörn wurde uns als der zuständige Mann für die Deportationen angewiesen, also gingen wir direkt zu ihm. Was waren wir naiv! Da standen wir mit unserem Wisch in der Hand, den alle vier Geschwister unterschrieben hatten, und dachten allen Ernstes, dieses Aas von einem Menschen würde uns helfen. ,,Wissen Sie“, meinte der Herr Hauptsturmführer, ,,Sie können Gesuche einreichen, soviel und an wen Sie wollen, die gehen alle über meinen Tisch, und was das bedeutet, können Sie sich wohl vorstellen.“ Und dann wörtlich ,,Im übrigen, Ihre Mutter kommt nach Theresienstadt, wir hätten sie auch totschlagen können.“ Solche Sätze vergißt man nicht als junger Mensch. Und, wenn ich das an dieser Stelle vorwegnehmen darf, solche Formulierungen hätte es nach 1945 nicht gegeben, bei den sowjetischen Offizieren nicht und auch bei den deutschen Behörden nicht.
Meine Mutter wurde abgeholt. Sie kam zunächst in ein Sammellager in der Schulstraße, die befand sich in unserer Gegend. Es hieß, Mutter sei von den Transporten zurückgestellt worden. Im selben Reichssicherheitshauptamt in der Kurfürstenstraße, in dem auch Hauptsturmführer Wörn saß, sagte man uns, wir könnten sie besuchen. Also sind wir auch guten Glaubens losmarschiert zur Schulstraße, Ecke Irakische Straße. Was passierte? Sie behielten uns einfach da. Der Lagerleiter Doberke, seines Zeichens Hauptscharführer, schien bereits auf uns gewartet zu haben. Es tue ihm furchtbar leid, sagte er grinsend, er müsse uns leider ins Arrest nehmen, auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes, wie sich herausstellte. Das war am 8. März 1944. Damit waren wir aus dem Verkehr gezogen. Zusammen mit Juden, Nichtjuden, Halbjuden, Vierteljuden oder irgendwelchen Personen, die sich dem Verdacht ausgesetzt hatten, daß sie Juden geholfen oder gegen andere Bestimmungen des Dritten Reiches verstoßen hatten. Ob sogenannter Arier oder nicht, das machte in diesem Fall keinen Unterschied. Es spielte also auch keine Rolle, daß ich mich – ebensowenig wie mein Bruder – bis dahin politisch so gut wie nicht betätigt hatte. Der Vorwurf, jüdischen Mitbürgern gegenüber freundlich gesinnt zu sein, genügte schon.
Darüber wußte die Gestapo mehr, als wir je ahnen konnten. Sie wußte von meinen heimlichen Lebensmitteltouren zu Familie Brüsken in der Konstanzer Straße, sie wußte natürlich auch, daß meine Schwester, die monatelang einen befreundeten jüdischen Rechtsanwalt in ihrer Mansarde hatte untertauchen lassen, mit diesem verhaftet und deportiert worden war. Unsere Situation war demnach mehr als schlimm, zumal wir jetzt mit ansehen mußten, wie unsere Mutter auf einen LKW geladen wurde und auf Transport nach Theresienstadt kam. Ich heulte Rotz und Wasser, meinem Bruder erging es nicht anders. Viel Zeit zur Besinnung ließen sie uns nicht. Anfang Mai wurden wir ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz verlegt und von dort zwar mit gleichlautendem Haftbefehl jedoch getrennt ,,auf die Reise“ geschickt. Jetzt erfuhren wir auch, was man uns zur Last legte. Der Haftbefehl war auf den Tag unserer Arretierung in der Schulstraße zurückdatiert. Der Wortlaut hat sich in mein Gehirn gefressen wie Säure: ,,Schutzhaftbefehl vom 8. März, Robert Zeiler, geboren 23. Mai 1923, Berlin Charlottenburg, Waitzstraße; wegen 1. Widerstand gegen Anordnung der Gestapo, 2. Begünstigung des Judentums und 3. staatsfeindlichem Verhalten.“ Das Reiseziel war demnach klar: Buchenwald.
Am 11. Mai 1944 kamen wir auf dem Ettersberg an. Ich weiß noch, daß ich auf dem Einlieferungsschein fälschlicherweise ankreuzte, ich sei Mitglied der HJ gewesen. Konnte ich gar nicht, als Halbjude hätten sie mich nicht aufgenommen. Das zeigte nur, wie aufgeregt, wie fix und fertig ich war, nach 3 Tagen Fahrt, das KZ immer vor Augen. Was dies bedeutete, wußte man damals in unseren Kreisen sehr genau.
Sie scheuchten uns durch die Aufnahmeprozedur wie Hasen. Häftlinge rasierten uns vom Kopf bis zu den Zehenspitzen alles ab, was Haar war. Danach mußten wir durchs Entlausungsbad, eine dicke Lysoltinte, die auf der Haut brannte wie Feuer. Anschließend, unter der Brause, kam ich mir vor wie ein schlaffer Sack. Kann man sich das überhaupt vorstellen – hundert nackte Männer auf einem Haufen, die sich vor Angst beinahe einmachten? Wer’s bis dahin noch nicht war, den hat diese entwürdigende Tour fertig gemacht.
In der Effektenkammer bekam schließlich jeder seinen Drillich, alles wohlgeordnet auf einem numerierten Bügel, dazu ein paar Holzpantinen. Was wir mitbrachten, wurde uns abgenommen. Den Robert Zeiler konnte ich damit vergessen, fortan war ich Häftling Nr.19999.
Über die Zustände im Konzentrationslager Buchenwald wurde mehr als genug geschrieben, es sollte eigentlich wenig Sinn machen, die vielen grausamen Einzelheiten, die man täglich erlebte, ein weiteres Mal aufzulisten. Vergessen wir nicht: Die Lager der Nazis funktionierten nach dem Motto ,,Vernichtung durch Arbeit“. Wir mußten unmenschlich viel arbeiten. Ich erinnere mich, daß wir mitunter nachts Schächte aushoben. Außerdem schob man ständig Kohldampf. So habe ich den Alltag im Konzentrationslager in Erinnerung: viel Arbeit und wenig zu essen. Was kümmerte es die SS, daß wir auf dem letzten Loch pfiffen. Man machte keinen Hehl daraus, daß man Menschen, die man bestenfalls als Untermenschen bezeichnete, am liebsten totgetreten hätte wie Wanzen. Ich sah mit eigenen Augen, wie man polnische Gefangene erhängte. Dazu wurde ein fahrbarer Galgen vor versammelter Lagerbelegschaft auf den Appellplatz geschoben. Dann hieß es ,,Mützen ab! – Augen links! – Ein Lied!“ So etwas hat es nach 1945 nicht gegeben, in keinem der Lager, ich habe mehrere erlebt. Aber dazu später.
Die Zeit im Konzentrationslager Buchenwald wurde schließlich ein ganz wichtiger Abschnitt in meinem Leben. Ich weiß nicht, welchem Glücksumstand ich es zu verdanken hatte, daß ich ausgerechnet auf Block 38 gelegt wurde. Das war so eine Art Prominentenblock, in dem unter anderem auch Walter Bartel lag. Die Prominenten unterschieden sich ganz erheblich von den übrigen Häftlingen, schon rein äußerlich daran ersichtlich, daß sie die Haare länger und zivile Kleidung trugen. Menschen wie Robert Siewert oder Hermann Brill genossen selbst hinter Stacheldraht noch einiges Ansehen.
Es dauerte nicht lange und wir kamen ins Gespräch. Ich wußte in etwa, was los ist, im Lande, natürlich in Berlin. Sie fragten mir förmlich Löcher in den Bauch. Ich bekam so ziemlich schnell mit, daß illegal einiges lief. Wenn heute gelegentlich behauptet wird, die Selbstbefreiung sei nur Spinnerei gewesen – sie hat stattgefunden. Es gab die heimlichen Beratungen, während derer über die Möglichkeiten und Formen des Widerstandes gesprochen wurde. Und es gab eine faszinierende Solidarität zwischen den unterschiedlichen Konfessionen, zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten. Für mich, der ich die Wahlschlachten noch in guter Erinnerung hatte, war das eine ganz neue Erfahrung. Gemessen an den unterschiedlichen Aufgaben, die die illegalen Lagerköpfe einander zuwiesen, war ich ein kleines, wenngleich mittlerweile an Politik nicht uninteressiertes Nichts.
Als ich einer Gruppe zugeteilt wurde, die im Falle eines Aufstandes mit für Ruhe und Ordnung sorgen sollte, machte mich das stolz wie ein Spanier. Sie vertrauten mir also, das wollte schon etwas heißen.
So einhellig, wie das später gern dargestellt wurde, war die Situation im Lager ansonsten nämlich bei weitem nicht. Es gab viele, die uns nicht mochten, allein weil wir Deutsche waren. Dazu gehörten Polen, Tschechen, Russen. Sich mit jemandem anzufreunden, war sehr schwierig, weil man nie wußte, mit wem man es zu tun hatte.
Das Mißtrauen untereinander war dementsprechend groß. Nicht zu vergessen die wahnsinnige Verantwortung, die diese Leute durch die Lagerselbstverwaltung trugen. Nicht die SS stellte die Transporte nach Dora oder anderswohin zusammen, dies überließ man Häftlingen. Sie entschieden über Leben und Tod. Daß sie dies auch zugunsten Gleichgesinnter taten, wer wollte es ihnen verdenken. Das gehörte zum täglichen Überlebenskampf
Daß wir täglich mit dem Schlimmsten rechneten, wie soll man das heute einem Unbeteiligten erklären? Als der 20. Juli 1944 kam und wir hörten, der Führer habe das Attentat überlebt, schien uns dies wie unser sicheres Todesurteil. Jetzt würden sie doch wohl nicht mehr viel Federlesens machen, dachten wir. Das war die Einstellung, die man hatte. Mußte jetzt nicht jeder verdächtig sein, der schon einmal irgendwie ,,dagegen“ war? Was, wenn sie Platz schufen für neu zu Verhaftende?
Freilich lag das System in den letzten Zügen, das spürten wir spätestens Anfang 1945. Während der eisigen Wintermonate kamen aus den Ost-KZ’s Tausende von Menschen. Die Bilder dieser verhungerten Gestalten verfolgen mich bis heute. Sie kamen und starben zu Tausenden. Es war furchtbar. Ich arbeitete zu dieser Zeit in einer Baracke nahe dem Lagertor. Durch die Scheiben konnte ich sehen, wie Tag für Tag immer mehr dieser entmenschten Kreaturen ins Lager strömten. Sie stützten sich gegenseitig, damit sie nicht umfielen. Viele zerrte man bereits tot aus den Güterwaggons auf Wagen, mit denen sie zum Krematorium gefahren wurden. Man muß diese riesigen Leichenhaufen gesehen, dazu den Gestank gerochen haben, um sich das Grauen auch nur annähernd vorstellen zu können.
Die illegale Arbeit wurde verstärkt. Der harte Kern traf sich beispielsweise während oder nach den Filmvorführungen auf den letzten Bänken der Kinoscheune, wo man auch bei Tage einigermaßen unbehelligt diskutieren konnte. Daß die Alliierten näher kamen, stand außer Zweifel, wir hörten das Schießen. Konnte man also den Aufstand wagen? Inzwischen verfügte das Lagerkomitee auch über ein eigenes Waffenlager, das befand sich unterhalb der Schusterwerkstatt. Natürlich war sich jeder des Risikos bewußt. Wir mußten damit rechnen, daß die verbliebene SS versuchen würde, uns mit Flammenwerfern auszuräuchern. Daß dies nicht stattfand, erschien uns später wie ein Wunder. Daß wir überlebten. Wir dachten doch, die könnten uns gar nicht rauslassen, weil wir dann erzählen würden, was wir im Lager gesehen und erlebt hatten. Wir hatten mit dem Leben abgeschlossen.
Die Amerikaner kamen von Süden ins Lager, ich werde nie vergessen, wie der erste Panzer durch die Gärtnerei brach. Als diese Ledernacken, die nun wirklich viel Blut gesehen hatten, die Berge von Leichen vor dem Krematorium wahrnahmen, diese elenden Gerippe, fielen sie um wie Fliegen. Wir aber waren frei! Es war unfaßbar. Wir lebten, mein Bruder mit mir. Und erlebten unmittelbar mit, wie unsere Lagerprominenz sofort den Neuanfang in Angriff nahm. Hermann Brill, der einstige Abgeordnete des Deutschen Volksbundes und Mitverfasser des Manifests von Buchenwald, wurde von den Amerikanern zum Ministerpräsidenten von Thüringen eingesetzt (1). Mein Bruder stellte sich als sein Fahrer zur Verfügung.
Einer unserer ersten Gedanken nach der Befreiung war, so schnell wie möglich nach Theresienstadt zu gelangen, wo wir unsere Mutter noch lebend anzutreffen hofften. Nun also stand uns obendrein noch ein Auto zur Verfügung. Mit Brills Hilfe kam die Reise tatsächlich zustande. Am 19. Mai 1945 fuhren mein Bruder und ich zusammen mit einer jungen Weimarerin und ausgestattet mit Papieren in englischer, französischer und russischer Sprache nach Theresienstadt. Die Fahrt wurde, wenn man das in diesem Zusammenhang überhaupt sagen kann, ein voller Erfolg. Wir konnten unsere Mutter, den Vater der jungen Weimarerin und eine dritte Person abholen. Zwar machte ein russischer Major der herrschenden Typhusgefahr wegen Schwierigkeiten, letztlich aber ließ er uns doch fahren.
Durch dieses gelungene Experiment bestärkt, meinten wir nunmehr, auch die Fahrt über die amerikanisch-russische Demarkationslinie nach Berlin wagen zu können, von wo aus wir die Repatriierung, sprich Heimführung der Berliner und brandenburgischen Häftlinge in die Wege leiten wollten. Wieder wurden uns die entsprechenden Reisedokumente ganz selbstverständlich ausgestellt. Diesmal begleiteten uns Georg Krausz, ein ehemaliger Redakteur der ,,Roten Fahne“ mit russischen Sprachkenntnissen, und Georg Rittmann, den mein Bruder und ich noch vom Berliner Sammellager her kannten. Walter Bartel war zwar auch jetzt noch skeptisch, ob unser Plan gelingen würde, selbst er konnte uns allerdings nicht davon abbringen.
Am 25. Mai 1945 machten wir uns von Weimar aus auf den Weg. Hinter Dessau, beim Übersetzen einer Pontonbrücke, warnte uns noch ein russischer Offizier davor, die Autobahn zu nehmen, da die meisten Brücken gesprengt waren. Wir kamen bis nach Potsdam, passierten dort am 29. Mai 1945 eine weitere Pontonüberfahrt nahe der zerstörten Kaiser-Wilhelm-Brücke, dann streikte unser Auto. Ein russischer Jeep, begleitet von einem rot-blau-lackierten Ford-Eifel mit einem russischen NKWD-Offizier der Kommandantur Potsdam an Bord, schleppte uns direkt nach Cecilienhof, wo man uns an verschiedenen Enden der Gänge einquartierte. Wir wurden so weit ganz gut verpflegt, bekamen auch zu essen, zu trinken und je nach Belieben zu rauchen. Miteinander zu sprechen, unsere Gedanken auszutauschen, gestattete man uns jedoch nicht mehr – wir waren Internierte der sowjetischen Besatzungsmacht.
Später habe ich mich manchmal gefragt, warum wir nicht flohen. Warum sollten wir? Wir waren ehemalige Häftlinge eines Konzentrationslagers und von unserer Unschuld mehr als überzeugt.
Wir kamen nicht einmal auf die Idee, daß uns etwas zustoßen könnte. Ich trug noch immer die Häftlingskleidung, noch immer meine Nummer 19999.
Wir hofften leider vergeblich, daß sich unsere Verhaftung sehr schnell als ein Irrtum herausstellen würde. Stattdessen verlegte man uns nach Villa Ingenheim des ehemaligen Prinzen Eitel-Friedrich, weil – das erfuhren wir allerdings erst später – auf Cecilienhof die historischen Besprechungen der Alliierten über das weitere Schicksal Deutschlands vorbereitet wurden.
Bei den nunmehr beginnenden Verhören wurde uns klar, weshalb man uns verhaftet hatte. Ein sowjetischer Major bezichtigte mich allen Ernstes, als amerikanischer Spion erkunden zu wollen, wie stark die Rote Armee um Berlin gewesen sei. Geradezu zynisch wurde es bei den Vemehmungen von Georg Krausz. Der Offizier: ,,Du Jude? Ich denke, Juden in Deutschland alle tot?!“ Georg Rittmann schließlich machte sich schon alleine dadurch verdächtig, daß er von russischen Eltern abstammte und seine Muttersprache natürlich fließend sprach.
Damit war unser Schicksal besiegelt. Eine Möglichkeit der Verteidigung gab es nicht. Für Georg Krausz mußte dies umso schmerzlicher sein, als er sich schon wegen seiner kommunistischen Überzeugung von Jugendzeit an – noch dazu als Jude – nach der Befreiung gesehnt hatte. Er hatte nicht versäumt, den verhörenden Offizieren seinen Parteiausweis vorzulegen, der bestätigte, daß sein Inhaber von Beginn an in der illegalen KPD-Organisation des Konzentrationslagers Buchenwald tätig war. Es nutzte nichts.
,,Das brauchen Sie mir gerade noch zu erzählen, daß ihnen die Amerikaner erlaubten, kommunistische Parteiausweise zu drucken“, entgegnete ein Major. Damit war der Fall klar – auch Georg Krausz landete erneut in Buchenwald (2).
Mich brachte man von Villa Ingenheim aus nach Ketschendorf in die bis auf die Türschlösser demontierte Arbeitersiedlung der Deutschen Kabelwerke bei Fürstenwalde, die zum Internierungslager umfunktioniert worden war. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich verinnerlicht hatte, was um mich herum vorging. Das Lager wurde auf einem Durchschnittsstand von ungefähr 6000 Insassen gehalten. Etwa 100 Neuzugänge pro Woche besorgten den Ausgleich für die Verstorbenen. Die mußten wir selber morgens in Massengräbern, 150 Meter vom Lager entfernt, nahe der Autobahn begraben. Die plötzliche Einstellung auf einseitige Hungerkost, das Fehlen selbst primitivster hygienischer Mittel, keine Verbindung zu den Angehörigen, Parolen, von denen sich nur die negativsten auch wirklich realisierten, demoralisierten uns. In Ketschendorf waren gut 1000 Jugendliche interniert.
Im Gegensatz zu den brutalen Methoden der Nazi-KZ waren die Russen auf seelische Peinigung aus. Die Verunsicherung wurde verstärkt durch das Schweigen und die Ungewissheit über unser Schicksal. Kein Gericht, keine Verteidigung, keinerlei Andeutung, wie lange diese Torturen zu ertragen sein würden. Dazu Bespitzelungen und Denunziationen, laufende Umlegungen von Baracke zu Baracke, so daß man nie wußte, mit wem man es zu tun hatte.
Das schlimmste war jedoch, daß mich die Internierung gleich machte mit denen, die nach meinem Dafürhalten verantwortlich dafür waren, daß wir während der Nazizeit denunziert, verhaftet, ins KZ gesteckt wurden.Diese vielen kleinen und großen Nazis, vom Blockwart bis zum Bahnhofsdirektor, der für Deportationen zuständig war. Vergeblich suchte ich den Kontakt zu den russischen Bewachern. Selbst wenn sie mir geglaubt hätten, ließen die Alliiertenbeschlüsse doch eine gewisse Willkür zu.
In Ketschendorf starb mein Lagerkamerad Georg Rittmann an Tuberkulose. Ich meldete mich freiwillig zum Beerdigungkommando. Ich dachte, daß ich dies ihm und seiner Familie schuldig sei.
Alles war so grotesk. Vom Lager aus konnten wir beobachten, wie die Russen eines Tages eine Kuhherde über den Friedhof trieben. Vielleicht wollten sie die Spuren verwischen. Ein andermal ließen sie abgesägte Tannenzweige zur Tarnung in die Erde stecken und wunderten sich dann, daß die Nadeln braun wurden und abfielen.
Eines Tages fragte ein Offizier, warum so viele Menschen starben. Also entgegneten wir, daß es an der Ernährung liege, es fehle an Vitaminen und gesunder Kost. Tage später bekamen wir vereiste Zwiebeln vorgesetzt – eigentlich war es der helle Wahnsinn.
Im strengen Winter 46/ 47 schickte man uns ein weiteres Mal auf Transport. Wer sich nicht vorstellen kann, wie sowas ablief, der sehe sich den Film ,,Dr. Schiwago“ an – genau dieser Waggon, ebenso eingerichtet, mit dem Scheißkübel und dem Heringstopf, aus dem wir fraßen wie die Viecher. Die Fahrt ging ostwärts, nach Brest-Litowsk, wo wir Winterausrüstung erhielten. Wir waren für ein Arbeitskommando irgendwo im zerstörten Rußland vorgesehen. Zum Glück blieb mir die Verbannung erspart. Während der medizinischen Untersuchung in einem total überhitzten Raum sackte ich ohnmächtig zusammen und galt so als arbeitsunfähig.
Erstmals trennten sich mein und meines Bruders Wege. Während er nach Rußland gebracht wurde, steckte man mich zu einer Fuhre Kriegsgefangener. Es hieß, wir würden in Frankfurt entlassen. Die Fahrt ging aber weiter, 14 Tage lang quer durch Deutschland, und endete schließlich erneut im Lager Buchenwald.
Das Lager war nahezu unverändert. Das heißt, soweit ich mich erinnerte, hatte man die ersten Baracken geschleift, auch die Pathologie, so wie ich sie kannte, gab es nicht mehr. Nur, daß die Baracken jetzt auch noch gegeneinander mit Stacheldraht abgesperrt waren. Ich hatte Beine wie ein Elefant, Ödeme, die ich noch aus meiner Lagerzeit vor 1945 mitbrachte. Um ins Lazarett zu gelangen, bedurfte es jedesmal einer besonderen Genehmigung.
Mittlerweile waren die Baracken wieder voll. Unterschiedliche Leute saßen ein, vom Kohlehändler bis zum Akademiker. Junge, alte, ganz durcheinander. gerade unter den jüngeren waren viele unter Werwolfverdacht verhaftet worden, ohne daß sie je wußten, was der Wehrwolf überhaupt war. Daß auch Frauen im Lager waren, wußte ich nicht, das erfuhr ich erst später.
Ich erinnere mich an diese ohnmächtigen Jahre nicht gern. Das ist wie eine Sperre. Was wir uns sehnlichst gewünscht hatten, daß die Mitschuldigen an unserem Elend in der Nazizeit ihre gerechte Strafe erhalten würden, unterschied sich von der Vorgehensweise, in den Methoden und Auswirkungen kaum von dem Vorhergegangenen.
Wieder wurde gehungert, wieder grassierten Krankheiten und Seuchen, wieder wurde massenhaft gestorben. Auch das System, auch das hatte Methode. Ich will den Russen nicht unterstellen, daß sie es auf den Tod so vieler Menschen angelegt hatten. Ich denke vielmehr, es war ihnen einfach egal: Da krepierte der Erzfeind.
Angesichts der vielen Millionen Opfer des zweiten Weltkrieges wird man die Haltung der Besatzungsmacht vielleicht nachvollziehen können, rechtfertigen ließ sich dieses neuerliche Unrecht damit nicht. Dennoch wehre ich mich gegen jeden Versuch, das Lager nach 1945 mit dem vor 1945 gleichzusetzen. Die Internierungslager waren die schreckliche Antwort auf die noch schrecklicheren Folgen des Völkermords vor1945, also auch eine unmittelbare Erwiderung auf die Nazi-KZ. Ja, zu überleben war hier wie da schwierig, die Kriterien aber waren andere. Im Internierungslager wurde nicht drangsaliert, nicht geschlagen, nicht geschossen. Für mich macht es einen Unterschied, ob ich bis aufs Blut gepeinigt werde und – so dies nicht hinlangt – den Genickschuß erhalte, oder ob ich eingehe, etwa wie eine Pflanze, die nicht gegossen wird. Für mich gibt es da einen Unterschied. Es kann nicht dasselbe sein, ob jemand stirbt, weil er krank ist oder die Isolation nicht verkraftet, oder ob er stirbt, weil ihm jemand die Nieren kaputt schlägt, den Kopf zertrümmert oder ihn in den Steinbruch stößt.
Die SS hatte einen Freifahrtschein, in den sowjetischen Lagern hat einem niemand etwas getan. Wenigstens waren die russischen Bewacher nicht dazu erzogen worden, für ein paar Tage Sonderurlaub oder einen lumpigen Orden Menschen zu erschlagen. Wenn ehemalige Internierte heute von der Hölle reden, dann wissen sie nicht, was die Hölle war.
Ich hatte erwartet, daß man die alten Nazis wenigstens umschulen würde, mit ihnen sprechen und ihnen klarmachen würde, was – wenn sie halt nicht aktiv am Völkermorden beteiligt waren – eben ihr Stillhalten angerichtet hatte. Ich hielt Vorträge, hoffte auf ein Einsehen, sie aber verhöhnten mich noch: ,,Armes Schwein, von den eigenen Kumpels eingelocht.“ Das war unerträglich. Es war ja vielmehr so, daß in den ersten Jahren vor allem ehemalige Nazifunktionäre – Kreisleiter, NSDAP- und Polizeigewaltige – wieder leitende Stellungen‘ innerhalb der Lagerselbstverwaltungen innehatten. Ich erinnere mich beispielsweise an den stellvertretenden Lagerschutzkommandanten in Ketschendorf, Schröter, genannt ,,Hofhund“, ehemals Polizeileutnant, oder an den SS-Arzt Dr. Fiedler, in Ketschendorf Chef des Lazaretts. Später wurden sie dann von sogenannten „Antifa“-Männern abgelöst, die die Russen zwar wegen irgendwelcher, für uns oft nicht durchschaubarer Delikte einsperrten, die ihnen aber wohl immer noch angenehmer waren als alle anderen.
Ich gehörte dann zu den ersten, die im Juli 1948 entlassen wurden.
In einem Brief vom 3. August 1948 beglückwünschte mich Walter Bartel, der inzwischen zum Privatsekretär Wilhelm Piecks avanciert war, zu meiner Freilassung. Inzwischen sei auch Georg Krausz zur Entlassung gekommen.
Offensichtlich wirbelte unser Verschwinden doch mehr Staub auf, als es für uns den Anschein hatte. Krausz berichtete nach seiner Entlassung, daß er immer dann, wenn eine Untersuchungskommission ins Lager gekommen war, vortrat und seinen Fall schilderte. Jedesmal hätten die Offiziere betroffen reagiert, schließlich aber beteuert, sie könnten ihm nicht helfen.
Schließlich gelang es ihm, Wilhelm Pieck eine heimliche Botschaft zukommen zu lassen. Pieck erwirkte immerhin bei der sowjetischen Millitärverwaltung Krausz´ Verlegung in eine Zelle des Zuchthauses Torgau, wo er von Robert Siewert, mittlerweile Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt (3), erkannt und ausgelöst wurde. Krausz stand dann lange als Stellvertretender Chefredakteur dem SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ vor und war zudem jahrelang Vorsitzender des Verbandes Deutscher Journalisten.
Ungeschehen waren die Jahre nicht mehr zu machen. Wir seien „die bedauerlichen Opfer einer sehr ernsten politischen Zeit, in der mit allen Mitteln gekämpft wird“, hatte Bartel in seinem Brief an mich geschrieben. Vielleicht. Auf jeden Fall war es ein sinnloses Opfer. Es kostete mich viereinhalb Jahre meiner Jugend. Ich würde mir wünschen, daß die Menschen aus einem Schicksal wie meinem lernen. Wieder aber säen sie Haß und schreien nach Rache.
War wirklich alles umsonst? Als Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und Mitbeteiligter an seiner Befreiung fühlte ich mich als Held. Jetzt aber gewinnt man mitunter den Eindruck, als seien die Internierten der Nachkriegslager die eigentlichen Helden. Das kann ich nicht verstehen.
Wir entnahmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung dem 1991 im dipa-Verlag Frankfurt a. M. erschienenen Buch „Recht oder Rache? Buchenwald 1945-50“, eine Sammlung von Berichten Betroffener, herausgegeben von Hanno Müller.
PS: Das „Speziallager Nr. 2“ in Buchenwald wurde 1950 geschlossen. „Nicht näher bezeichneten sowjetischen Archivdokumenten zufolge hätten in den 11 Lagern der sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1950 122.671 Deutsche eingesessen, von denen 45.262 wieder auf freien Fuß gesetzt worden seien. 14.202 Häftlinge habe man dem Ministerium des Innern der DDR übergeben, 12.770 Personen seien in die UdSSR gebracht, 6.680 Personen in Kriegsgefangenenlager überführt worden, 212 Häftlinge seien geflüchtet. In der ganzen Zeit, vor allem in den Jahren 1945-47, verstarben den Angaben zufolge, 42.889 Personen, was in erster Linie auf Krankheiten, insbesondere Tuberkulose, zurückgeführt wird. Durch Militärgerichte seien 756 Personen zum Tode verurteilt worden.“ („Recht oder Rache“ – s.o. – S. 14)
In den 22 nationalsozialistischen KZs und deren hunderten von Außenlagern starben über 6 Millionen (Meyers Lexikon 1986).
1952 wurde beschlossen, in Buchenwald eine „Nationale Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus“ einzurichten, mit deren Gestaltung u.a. der Bildhauer Fritz Cremer beauftragt wurde.
Seit 1994 werden in die Ausstellung im ehemaligen Lager zunehmend Dokumente über dessen Nutzung nach 1945 einbezogen.
aus: ICH 1/ 1995