Auf meinem Weg durch die Straßen Berlins (ich wohne erst seit einem halben Jahr hier und latsche manchmal so durch die Gegend, um mein Umfeld kennenzulernen), fand ich gestern Eure Zeitung. Ich fühle mich angesprochen und möchte dies hier einfach mal loswerden:
Ich war gerade 19 und schwanger als ich heiratete. Eine Familie zu gründen war für mich der Inbegriff meiner Träume. Ich weiß nicht mehr; was ich mir da eigentlich vorstellte, nur noch, daß ich hoffte, es würde alles besser und alles, was mich quälte, würde verschwinden.
In diesem Sinne war also auch alles geplant und erwünscht. Die Schwangerschaft erlebte ich freudig erstaunt mit großen Kinderaugen, Ich habe Gedichte geschrieben und mit bunten Farben unser Familienglück ausgemalt. Irgendwelche störenden Eindrücke nahm ich einfach nicht wahr. Ich brauchte eine heile Welt, also existierten für mich keine Probleme und wenn doch mal welche auftraten (wir wohnten anfangs im Hause meiner Schwiegereltern, da waren Konflikte gar nicht so selten), lief ich ihnen davon.
Doch dann fand ich mich wieder an Kochtopf und Windelberg und ein schreiendes Bündel verlangte nach mir; die ich nach der schockierenden Entbindung, von Ausschlag gepeinigt, selbst auf Hilfe hoffte.
Mein Mann mußte sich frei nehmen, um in den ersten Tagen unser Kind zu versorgen. Damit hatte ich nicht gerechnet, was war geschehen?
Irgendwie richteten wir uns dann ein. Ich versorgte mein Kind so gut ich es vermochte, und doch wurde ich das Gefühl nicht los, überfordert zu sein.
Als das Babyjahr zu Ende ging und ich endlich anfangen konnte zu arbeiten, habe ich mich sehr erleichtert gefühlt. Wir bekamen eine eigene Wohnung in so einem Betonklotz. Wir lebten wie tausend andere auch und doch war ich nach einem halben Jahr am Ende. Ich fühlte mich bedroht, eingesperrt, einsam und vor allem: Ich fühlte mich unfähig. Ich schaffte nicht, was doch alle Mütter schafften. Die banalsten Dinge gingen mir nicht mehr von der Hand. Selten kam ich pünktlich aus dem Haus. Gab ich das weinende Kind in der Krippe ab, kam ich mir hundsmiserabel vor. Im Labor konnte ich mich nicht konzentrieren, war depressiv oder aggressiv, ich fand keine Freunde. Ich rannte nachmittags nach Hause über Krippe und Kaufhalle und haßte dieses Leben und haßte mich.
Mein Mann nahm dieses Problem weniger ernst. Er war voll gefordert als Praktikant, Fernstudent, Familienvater. Er sagte mir, ich müsse mit meinem Leben und den Leuten auskommen. Wie recht er hatte.
Ich kam aber nicht aus. Es wurde immer schlimmer. Oft habe ich mich gefragt, wie die anderen Frauen fertigwerden damit. Mir ging jeglicher Elan verloren. Unsere Ehe wurde immer schweigsamer, bis wir uns nichts mehr zu sagen hatten. Ich glaube, er konnte einfach nichts mehr mit mir anfangen.
Nach der Scheidung wurde mir schmerzhaft deutlich, daß die Ursachen tiefer und weiter zurückliegen mußten, denn mein Problem wurde nicht kleiner, im Gegenteil – nur näher ´ran kam ich nicht. Ich fand keinen Zugang zu mir selbst, zu meiner Vergangenheit, zu meiner eigenen Person, ich fühlte mich überflüssig und unbrauchbar. Morgens quälte ich mich aus dem Bett, nur, um abends nach einem leeren Tag todmüde wieder hineinzufallen.
Ich wußte, daß ich eine schlechte Mutter war, da habe ich mir nie etwas vorgemacht. Ich litt darunter, doch ich konnte dem Kind nicht geben, was nicht in mir war.
Immer öfter brachte ich sie zu ihrem Vater, der sie mir auch jedesmal ohne Frage abnahm. Er wohnte mit seiner neuen Partnerin zusammen, die langsam einen dicken Bauch bekam. Unsere Tochter fühlte sich dort wohl. Für mich war das nur wieder ein neuer Beweis für meine Unfähigkeit.
Einen Ausweg sah ich nicht. Einsam war ich und weltfremd. Mit einer Katze oder einem Baum konnte ich mitfühlen, die Menschen waren mir egal. Ich fing an zu trinken, spann mich ein in absurde, oft makabre Phantasien.
Ich habe niemals den Mut gehabt, mein Leben zu beenden, aber es brachte mir Befriedigung, daran zu denken.
Ich quälte mich, weil ich nur dann spürte, daß ich vorhanden war, sonst fühlte ich mich identitätslos.
Die Zeit tropfte an mir vorbei wie aus einem undichten Wasserhahn. Ich begriff nichts.
Des Kindes wegen bin ich dann in die Nervenklinik gegangen; ich wollte ihr diese Mutter ersparen.
Die Psychologin hat sich alles angehört und mich eingewiesen. Damit war die Sache erstmal erledigt. Ich bekam ein Bett in einem Zehn-Frauen-Saal, Tabletten und Ausgang. Die anderen Frauen waren größtenteils älter als vierzig, ich konnte mit ihnen nichts anfangen.
Die Tabletten nahm ich brav und willig ein, weil ich immer brav und willig das getan habe, was von mir verlangt wurde. Den Ausgang benutzte ich, um mir Alkohol zu besorgen. Eigentlich erstaunlich, daß es niemand mitbekam. Dann wurde ich zunehmend schläfrig. Nichts geschah außer einer täglichen, nichtssagenden Visite, einem ,,Bastelkurs mit Tratscheinlagen“ und Gymnastik. Die Patienten saßen da, rauchten, jammerten und warteten, daß die Depression abklingen möge. Mir hatten die Ärzte eine endogene Depression diagnostiziert und nun sollte ich genauso abwarten, da man außer Psychopharmaka kein Gegenmittel wußte.
Diese Station war ein Auffanglager für Leute, die in ihrer Umwelt nicht mehr problemlos funktionierten, die Konflikte hervorriefen mit ihrem seelischen Elend, die in Frage stellten, was in der DDR nicht in Frage gestellt werden durfte, nämlich das konkrete gesellschaftliche Leben. Also schob und schirmte man die Unfähigen ab. Dem System mag das ganz nützlich gewesen sein, den einzelnen Leuten auf dieser Station konnte es nicht helfen. Aus Gesprächen habe ich erfahren, daß manche Dauerpatienten waren, andere alle paar Wochen wieder eintrafen, die wenigsten aber als geheilt entlassen wurden.
Da bekam ich irgendwie Angst, doch ich wußte genauso wenig wie all die anderen, wie ich draußen überleben sollte.
Die Angst vor der Einsamkeit mit all ihren Abgründen bedrohte mich mehr als das Leben in der Psychiatrie. Also blieb ich und erlebte hier einen seltsamen Zustand von zufriedener Hoffnungslosigkeit: Wenn wir auch draußen nicht existieren können, hier drinnen ist unsere Welt. Keine schöne Welt, aber hier finden wir uns wieder, hier können wir in Ruhe leiden.
Jede Woche gab es eine Professorenvisite, davor hatten alle Patienten ziemlichen Horror. Und mir ging es bald nicht anders. Ich betrat einen Raum, der von weißen Kitteln nur so wimmelte. Die Gesichter hielten ein aufmunterndes Grinsen bereit und warteten gespannt, als ich in den Sessel sank.
Ich hörte die Fragen, aber sie drangen mir nicht in mein Bewußtsein. Ich fühlte mich bedrängt, ihr medizinisches Interesse an meinem Fall machte mir Angst und die ganze Vorführung verwirrte und lähmte mich. Böse starrte ich auf mein Schuhspitzen, um nicht loszuheulen angesichts dieser Demütigung.
Geholfen hat mir neben der Gemeinschaft, die die Patienten trotz allem bildeten, eine Physiotherapeutin. Sie trat an mich heran, erzählte was von Yoga und Körperempfinden und lud mich ein, doch mal zu kommen. Unter dem Motto “Besser als Rumsitzen” bin ich hingegegangen und habe eine tiefe, gute Erfahrung machen können, nämlich die meines eigenen Körpers.
Ich konnte mich fühlen während der Übungen, lernte, in mich hineinzuhorchen und ich war erstaunt, daß es da tatsächlich etwas gab, worauf ich hören konnte. Ich machte erste Bekanntschaft mit mir.
Vor allem lernte ich, mich zu entspannen. Ich entlastete mein Gehirn von all den unlösbaren Problemen, die sich ständig da durchwälzten. Mein Kopf wurde freier und ich wurde wieder ansprechbar. Das hätten die Psychologen ausnutzen können. Doch von Yoga schienen sie gar nicht so viel zu halten, jedenfalls geschah weiterhin nichts.
Es war ein einziges Abwarten, Stillhalten und Betäuben. Als es mir mal so zum Kotzen ging, daß ich nicht aufstehen mochte, haben sie mir einen Tropf angehängt mit einer antidepressiven Lösung. Doch ich wollte diese ,,Lösungen“ nicht mehr. Gut, es ging mir dreckig, aber durch das Verhindern meiner Emotionen wurde ich nur ruhiggestellt.
Ich fürchtete mich vor dem Unbekannten in mir, doch ich spürte, daß ich mich darauf einlassen mußte, wollte ich jemals mit mir zurechtkommen und frei sein von Komplexen, Ängsten und Süchten.
Ich habe eigenmächtig all die Tabletten abgesetzt, mich aus der Klinik entlassen und bin wieder arbeiten gegangen.
Die Kollegen waren bereit, zu warten, bis ich wieder mein ,,normales“ Leben aufnehmen würde, zeigten sich aber zunehmend verständnislos und abweisend, als ich keine Anstalten traf, meine Tochter wieder zu mir zu holen. Doch das konnte ich nicht. Ich brauchte Zeit, den Weg, den ich gefunden hatte, nun auch zu gehen. Ich ging weiter zum Yoga und zu Einzelgesprächen mit der Psychologin, die mir doch Anhaltspunkte gaben.
Tiefere Einsicht gewann ich aber vor allem durch die Lektüre der Bücher von Erich Fromm. Seine Erklärungen menschlichen Verhaltens sind für mich nachvollziehbar, sie haben mir nicht die Last meiner Schuld abgenommen und ich weinte oft über die vielen begangenen Fehler. Aber die Hoffnung, die aus diesen Büchern sprach, lenkte meine Selbstanalyse von der Selbstzerstörung zur Selbsterkennung.
Manchmal fällt es mir schwer, mit diesen Erkenntnissen umzugehen, weil es auch immer bedeutet, mein Versagen aufzudecken. Jeden Tag neu spüre ich meine eigene Bedürftigkeit nach bedingungsloser Liebe, mein Unvermögen, wirklich frei zu sein.
Ich bin oft ängstlich, traurig, manisch-depressiv, aber ich bin ohne diesen destruktiven Haß. Ich bin auf der Suche nach mir selbst und ich spüre, daß ich den Weg dahin gefunden habe.
Heike W., Berlin
PS: Wenn ich den Brief nochmal durchgehe, fällt mir auf daß längst nicht alles gesagt ist, daß vieles nur angedeutet werden konnte. Trotzdem hat mir dieses Ordnungschaffen sehr geholfen, wie eine Art Abschluß vielleicht und ich freue mich über jede Reaktion auf meinen Brief.
aus ICH 1/ 92
… Beim mehrmaligen Lesen Deines Briefes, Heike, spüre ich, wie nah mir Deine Geschichte geht und wie sie mich in vielen Dingen an meine eigene erinnert und mir Deine Beschreibungen sehr vertraut und bekannt vorkommen. Auch mir ging es vor nicht so langer Zeit so, daß ich vor mir, meinem Körper und dem ganzen unverdauten Gefühlsbrei aus meiner Kindheit weglaufen wollte, weil ich das Gefühl hatte, völlig überfordert und alleingelassen zu sein. Deine Beschreibungen über den lähmenden, seltsamen Zustand von zufriedener Hoffnungslosigkeit in der Nervenklinik habe ich erlebt und wenn ich mich in diese Zeit zurückfühle, spüre die Trauer und die Wut in mir hochsteigen. Ich kenne das hilflose Gequatsche der Weißkittel über angebliche endogene Depressionen und manisch-depressive Psychosen und bereue heute, so lange Zeit diesen Ärzten vertraut und auf ihre bunten Pillen gehofft zu haben.
Auch die noch so großen Ängste und Einsamkeiten können nicht weggeschluckt oder weggeschockt werden. Das weiß ich heute. Bis hierhin war es ein schmerzhafter Weg mit vielen Rückschlägen. Ich bin froh, diesen Weg gefunden zu haben und durch mehrere Gespräche mit Beratern bis hin zur Therapie eine Möglichkeit für mich erkämpft zu haben, die mir hilft, mich besser anzunehmen.
Ich habe genau wie Du diese psychiatrischen Anstalten als Auffanglager erlebt für Menschen, die mit sich und ihren seelischen Verletzungen nicht mehr klarkommen. Es geht mir nahe und macht mich traurig, wenn ich daran zurückdenke, wie durch die ständigen Einweisungen und Aufenthalte das Gefühl, wenigstens hier in Ruhe leiden zu können sich ausbreitete und „traurige Normalität“ wurde.
Ich war zum Glück noch so gesund, mich mit diesem Leben auf Raten nicht abfinden zu können und den Weg zur Beratung und Psychotherapie zu finden.
Dabei hat es mich viel Kraft gekostet, gegen das Unverständnis der Ärzte zu kämpfen – bis ich erkannte, daß dieser Kampf sinnlos war, weil: Sie können mir nicht helfen. Die Hilfe, die ich von den Ärzten erwartete, konnte mir kein noch so guter Arzt geben. Sie konnte nur von mir kommen und langsam gelang es mir zu sagen: ,,Mein Gott Udo – du hast es ganz schön schwer gehabt und warst sehr oft allein und heute wartest du immer noch auf jemandem, der dich an die Hand nimmt. Es kommt keiner mehr. Nimm dich selbst an die Hand und sei gut zu dir.“
Udo Wieczoreck, Hoyerswerda
aus ICH 2/ 92