„… Schuld oder Nichtschuld der Deformierten“. Aus Briefen

Lieber Andreas,

das ist mein erster Leserbrief zur ICH. Der Grund ist, daß ich selten etwas derartig Interessantes gelesen habe, wie den Artikel von Ernst Federn nebst Deiner Gedanken dazu. Ich sehe allerdings die ganze Thematik etwas lockerer als Du, eher so wie Ernst Federn es tut, nämlich ganz sachlich. Wir brauchen doch nicht zu erörtern, daß das Gut/ Böse bzw. Schwarz/ Weiß-Schema niemals aufgeht, genauso wie es völlig normal ist, daß sämtliche politischen Systeme bis zum heutigen Tag die Menschheit belügen und betrügen , um die eigene Macht zu erhalten.

Das Problem liegt aber nicht in den Systemen, Parteien oder Religionen. Das Problem ist der Mensch selbst, denn er bringt ja auch all diesen Schwachsinn hervor, weil er in permanenter Angst vor seinen dunklen Seiten lebt. Ich denke, die Angst ist der Hauptfeind der Menschheit, die Angst vor Freiheit vor allem.

Der Hauptgrund, warum ich Dir schreibe, ist Deine Feststellung zu Schuld oder Nichtschuld der Deformierten. Über diesen Punkt habe ich seit 1989 sehr viel nachgedacht und bin zu einer diesbezüglich sehr radikalen Ansicht gelangt, die durch die Lektüre von Wilhelm Reichs ,,Rede an den Kleinen Mann« (nicht Jedermanns Sache!) nachhaltig bestärkt wurde.

Meiner Ansicht nach ist das Gerede von „die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“ völlig unzutreffend. Wer bedient denn die Waffen im Krieg, mordet und foltert? Das sind die Kleinen, nicht die Großen! Und nachdem die Großen verjagt oder gehängt wurden, dienen die Kleinen bereitwillig dem nächsten Herren.

Mir ist zum Beispiel nicht bekannt, daß irgendeiner der öffentlich angeklagten Stasi-Folterer seit nunmehr 5 Jahren verurteilt worden wäre. Und das, obwohl diese Fälle, im Gegensatz zum Mielke-Polizistenmord, völlig klar liegen. Es gibt Anklagen, Beweise und Gesetze der ehemaligen DDR, nach denen Folter mit Sicherheit strafbar war. Und hier liegt das Problem. Die Gesellschaft muß endlich an den Punkt gelangen, wo jeder Einzelne die völlige Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen hat.

Das Wort Demokratie wird immer gern mit ,,Volksherrschaft“ übersetzt. Davon ist nicht viel zu bemerken. Die Schuld daran haben aber nicht die Politiker allein, sondern jeder Einzelne, der seine demokratischen Rechte und Pflichten nicht wahrnimmt, der nur nehmen und nicht geben will. Daran ist u.a. der sogenannte Sozialismus gescheitert. Wenn man diesen Gedanken allerdings weiterspinnt, begibt man sich auf gefährliche Bahnen. Einerseits ist offensichtlich, daß die Menschheit die Ursachen ihrer Selbstzerstörung immer wieder selbst reproduziert, andererseits scheint nicht mehr viel Zeit für Erneuerung zu bleiben, wenn man einen Blick auf die globalen Probleme wirft. Was also tun? Mein Rezept lautet: ,,Sauber bleiben und durchhalten“. Das klingt zwar sehr allgemein, dafür ist es aber auch unter extremen Bedingungen anwendbar, auch unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers. Es setzt nur eines voraus: geistige Unabhängigkeit.

Mit freundlichen Grüßen: Volker Hesse, Chemnitz

PS: Macht weiter so mit der ICH, aber bitte etwas weniger Weinerlichkeit!

 

Das, was Ernst Federn ausführt, ist wahrlich unglaublich. Bordelle für Häftlinge … Als Sachse bin ich ja nur über Kriegs-Dok-Filme vom DDR-Fernsehen ,,aufgeklärt“ worden. Daß Solidarität in extremen, peinigenden Zeiten eher fehlt, verstehe ich heute besser. Aber daß es bei aller Grausamkeit, Entbehrungen und Leiden noch was ,,anderes“ gegeben haben soll? Bordelle, das ist wahrlich etwas, wo ich zwiespältig bin.

Stefan Kunzelmann, Jena

 

aus ICH 2/ 95