Heide Göttner-Abendroth, befragt von Tanja Braumann
***
T.B.: Ich beginne unser Gespräch mal mit dem, was uns Angela S., ICH-Leserin aus Dresden geschrieben hat: ,,Gibt oder gab es das Matriarchat wirklich, oder ist jeder menschlichen Gesellschaft eine gewisse patriarchale Struktur eigen? Die letzte Behauptung habe ich ohne eine Begründung dazu gelesen und finde aus eigener Kraft weder Beweis noch Gegenbeweis.“
Göttner-Abendroth: Ja, diese Behauptung steht auch in all unseren Schulbüchern, und in der Regel auch in den universitären Standardwerken. Da wird im Grunde so getan, als ob es das Patriarchat von Ewigkeiten an in der Menschheitsgeschichte gegeben habe, als ob das eine anthropologische Kategorie sei. Und es wird – wie die Leserin sagte – nicht begründet. Genau das halte ich bereits für patriarchale Ideologie, und zwar die Grundideologie des Patriarchats. Denn damit kann sich das System intern immer wieder stabilisieren ohne begründen oder sich in Frage stellen zu müssen. Das findet sich in allen wissenschaftlichen Bereichen, in der Geschichte, in der Philosophie und es wird heute auch penetrant und unbegründet immer wiederholt.
Dagegen spricht aber das archäologische, ethnologische, kulturgeschichtliche Material – wenn wir nur mal bereit sind, uns mit diesem Material zu beschäftigen. Das ist für mich als Matriarchatsforscherin auch ein ziemliches Problem, daß ich oft Leute habe in den Vorlesungen, die sagen: ,,Ja, das gab es doch überhaupt nicht.“ Dann sage ich: ,,Mein Herr oder meine Dame, haben sie überhaupt schon mal einen Blick in das einschlägige Material geworfen?“ Das ist dann in der Regel nicht der Fall.
Das heißt, die Behauptung kommt auch immer von Leuten, die sich strikt weigern, sich überhaupt mit den Sachen zu beschäftigen. Darum ist das für mich eigentlich gar keine Frage mehr, sondern das signalisiert nur, daß jemand das nicht will oder einfach so durchdrungen ist von diesen patriarchalen Ideologien, daß er oder sie da bleiben möchten, wo sie sind.
T.B.: Ich hab mal im Fremdwörterbuch der DDR von 1977 unter „Matriarchat“ nachgeschlagen, und da steht: „Mutterherrschaft – Bezeichnung für Entwicklungsstufen der Menschheit mit besonders stark hervorgehobener Stellung der Mutter als alleinbestimmendem Familien- und Sippenoberhaupt; Mutterrecht. (Gegensatz: Patriarchat).“ Und bei ,,Patriarchat“ steht alles das, was hier für Mutter beschrieben ist, für Vater. Es ist nur eine Umkehrung.
Göttner-Abendroth: Das ist die ebenso beliebte Fortsetzung der Kernthese der patriarchalen Ideologie, daß, wenn man das Wort Matriarchat schon in den Mund nimmt, dann muß das Frauenherrschaft gewesen sein, oder Mütterherrschaft. Wenn die erste These von der Ewigkeit des Patriarchats sich als durchlöchert erweisen sollte, lautet also die zweite Abwehrhaltung: ,,Das war ja doch lediglich die Umkehrung. Und diese Frauenherrschaft wurde wahrscheinlich deswegen überwunden, weil klarerweise sich die Männer irgendwann mal gegen die Frauenherrschaft wehren mußten und dann eben die Männerherrschaft einrichteten.“
Mir wird manchmal vorgeworfen, daß ich das Wort ,,Matriarchat“ gebrauche, denn es würde ja die Nähe zu ,,Patriarchat“ suggerieren. Ob ich nicht was anderes sagen wolle, wie ,,matrizentrisch“ oder ,,matrifokal“ und was jetzt alles auf dem Markt ist (lacht). Ich muß sagen, ich hab einen wissenschaftspolitischen Grund, auf dem Wort ,,Matriarchat“ zu bestehen. Denn einmal muß man ,, Matriarchat“ nicht als Mütterherrschaft übersetzen.
Wer ein bißchen Griechisch kann, weiß, daß das Wort arche nicht nur Herrschaft heißt, sondern auch Anfang. Es hat zwei Bedeutungen. Und in der Bedeutung ,,am Anfang waren die Mütter“ – so kann man Matriarchat nämlich auch übersetzen – trifft`s die Sache ziemlich genau. Während ich Patriarchat immer nur mit Väterherrschaft übersetzen würde, was die Sache auch ziemlich genau trifft.
Und bei solchen Ersatzwörtern wie matrizentrisch und matrifokal habe ich die Erfahrung gemacht, darunter kann sich eine normale, nicht akademisch vorgebildete Person nichts vorstellen. Das sind Kunstbegriffe. Und sie geht mit der Auffassung nach Hause: Naja, Matriarchat hats nie gegeben, den Rest hat sie schon vergessen. Dann sind wir wieder beim alten. Darum bestehe ich auf dem Begriff ,,Matriarchat“ den ich allerdings genau definiere. Ich beschreibe so genau es geht, wie die matriarchale Gesellschaft ausgesehen hat.
T.B.: Dann sei so gut, und tu das doch mal. Vielleicht zunächst am besten sozialökonomisch.
Göttner-Abendroth: Zuerst einmal, was so kurzgefaßt sehr provokativ klingt: Matriarchate waren überhaupt keine Herrschaftsgesellschaften, sondern – wenn wir einen modernen politischen Begriff nehmen wollen – im besten Sinne Anarchien. Also nicht Anarchien als Chaos, was man sich wiederum meist darunter vorstellt, sondern sie waren – hier gebrauche ich einen Begriff von Christian Siegrist – ,,regulierte Anarchien“.
Es waren also herrschaftsfreie Gesellschaften, die sehr wohl geordneten Regeln folgten. Und das spiegelt ihr Sozialmuster: Matriarchate – in der Regel Ackerbaugesellschaften mit Gemeinschaftseigentum von Land und den großen Häusern – basieren auf Matriclans, den in der weiblichen Verwandschaftsebene bestehenden Sippen. Darin haben die verschiedenen Frauengenerationen ihren wohlbestimmten Ort, und die verschiedenen Männergenerationen ebenfalls.
In einem mütterlichen Sippenhaus lebten z. B. die sippenälteste Frau (die Sippenmutter) ihre Töchter, ihre Enkelinnen, und dann die in direkter weiblicher Linie zugehörigen Männer, nämlich ihre Brüder, ihre Söhne und ihre Enkel. In einem solchen Sippenhaus lebten keine „Herren“, keine Gatten, keine Väter. Die gab es nicht. Die Heiratsregeln bestimmten, daß ein Sippenhaus im Heiratskontrakt stand mit einem anderen Sippenhaus. D. h., alle jungen Frauen eines Sippenhauses heiraten alle jungen Männer des anderen Sippenhauses und umgekehrt.
Die Männer selbst lebten und arbeiteten im Sippenhaus ihrer Mütter, auch nachdem sie verheiratet waren. Die Gattinnen lebten also nicht bei den Gatten, sondern es gab eine nächtliche „Besuchsehe“.
Vaterschaft konnte unter den Bedingungen, daß diese Ehen Gemeinschaftsehen waren – also jede Gattin mehrere Gatten hatte und jeder Gatte mehrere Gattinnen – sowieso nicht erkannt werden, war auch gar keine Frage, kein Problem. Deswegen war die Gattenbeziehung ziemlich sekundär.
Es heißt oft in der Literatur, die Männer hatten in den Sippenhäusern ihrer Gattinnen nichts zu sagen. Das wird dann meist mit einem empörten oder schmerzlichen Ausruf konstatiert, auch bei Ethnologen. Sie verschweigen oder übersehen dabei, daß die Entscheidungsprozesse in den Sippenhäusern zwischen Frauen und Männern, die miteinander ja im engsten Sinne blutsverwandt sind, gemeinschaftlich verlaufen. Die Männer haben Mitbestimmungs-, Mitwirkungs- und Miterziehungsrecht im mütterlichen Sippenhaus, aber nicht im Sippenhaus der Gattin. Dort sind sie Fremde und Gäste.
Sie entbehren auch nicht der Möglichkeit, väterliche Gefühle zu leben und zwar bei den Kindern ihrer Schwestern, bei den Nichten und Neffen. Denn jeder Mann in einem Matriarchat, der dem matrilinearen Verlauf der Verwandschaftsregeln folgt, wird immer die Kinder der Schwester als am nächsten mit sich verwandt betrachten. Sind sie ja auch nach diesen matrilinearen Spielregeln. Während er die Kinder der Gattinnen gar nicht als mit sich verwandt betrachten kann, denn die heißen anders. Die heißen nach dem Clan der Gattin.
Daß solche Gesellschaften herrschaftsfrei waren, hängt damit zusammen, daß es dort keine Autokratinnen gab und keine Monarchinnen, die das ganze Gemeinschaftsgefüge bestimmten. Dabei hat die Sippenmutter schon eine wichtige Rolle, aber nicht die Rolle einer Herrscherin, sondern sie besitzt so etwas wie natürliche Autorität. Das heißt, wenn sie Rat gibt, fällt der Rat sehr stark ins Gewicht, weil sie als erfahrene Frau gilt. Sie ist sowieso die Mutter von allen, die sie hervorgebracht und genährt hat. Es gibt keinen Grund, ihr zu mißtrauen. Ihr Rat kann also freiwillig angenommen werden oder auch nicht. Sie kann nicht herrschen, sie kann nicht befehlen. Sie hat keinerlei Möglichkeiten, etwas, das sie rät, auch zu erzwingen.
T.B.: Also anstelle von Macht steht so etwas wie natürliche Würde und Autorität?
Göttner-Abendroth: Ja. Das ist zwar auch eine Macht – ich würd sagen, eine Macht von innen, während das, was sich sehr mit der patriarchalen Gesellschaftsform verbindet, sind Herrschaftsformen, die auf äußere Macht über andere beruhen und auf solchen Strukturen wie: Einer kann befehlen – die anderen müssen gehorchen, weil dieser eine einen Erzwingungsstab hat. Erzwingungsstab sind Krieger, Polizei, Militär und dergleichen. Das ist typisch für Herrschaftsgesellschaften. Aber diese matriarchalen Kulturen sind ja Verwandschaftsgesellschaften.
Also die Regeln der Gesellschaft – und deshalb übernehme ich ja den Begriff ,,regulierte Anarchie“ – sind die Regeln der Verwandtschaft, der Beratung, des Vertrauens untereinander, des Gewichts von natürlicher Autorität, mehr aber nicht. Danach funktionieren sie wohlgeordnet, aber nicht über Zwang. Diese Gesellschaft ist im Grunde in all ihren Zügen eine Konsensgesellschaft.
Im Sippenhaus, das die kleinste politische Einheit darstellt, werden die Entscheidungsfindungs-Prozesse gemeinsam geführt, und zwar so lange, bis Konsens hergestellt worden ist. Auf Dorfebene geht das weiter und zwar durch die einzelnen Sippenvertreterinnen oder -vertreter, die dann im Dorf- oder Stammesrat so lange beraten, bis wieder Einstimmigkeit erzeugt ist. Und das ist eine Gesellschaft, die läßt Herrschaftsmuster, die auf der Struktur von Befehlen und Gehorchen ruhen, überhaupt nicht zu.
T.B.: Konsens und nicht Diktatur der Mehrheit – genannt: Demokratie – das ist auch ein Thema, das für uns äußerst schwer zu verstehen ist. Aber woher weißt du, daß das wirklich so gelaufen ist?
Göttner-Abendroth: Das weiß man aus ethnologischen Berichten. Das ist sogar gefilmt worden bei noch lebenden matriarchalen Kulturen. Das kann man nicht aus der Geschichte wissen.
T.B.: Sag doch bitte etwas über Orte und Zeiten des Matriarchats.
Göttner-Abendroth: Soweit ich mit meiner Forschung bin – und dafür sprechen auch die archäologischen Zeugnisse – können wir davon ausgehen, daß die gesamte jungsteinzeitliche Entwicklungsperiode einschließlich großer Teile der Bronzezeit diese matriarchale Gesellschaftsordnung kannte.
Die Jungsteinzeit ist die Epoche, in der der entwickelte Ackerbau einsetzt. 10.000 v.u. Z. haben wir erste Stadtkulturen, die mit Ackerbau verbunden sind und wo Spezialisierungen wie häusliches und landwirtschaftliches Handwerk aufkommen. Das ist die Zeit des voll entwickelten klassischen Matriarchats. PflanzerInnen-Kulturen, die latent solche Strukturen schon gebildet haben, können wir noch früher ansetzen, in der mittleren Steinzeit. Die ist ungefähr 60.000 v.u.Z. Man hat archäologische Hinweise darauf in Ostasien gefunden.
Bis ungefähr 9.000 v.u. Z. haben wir im Vorderen Orient die ältesten archäologischen Ausgrabungsstätten, die auf diese Gesellschaftsordnung verweisen. In dieser Zeit – ab 10.000 v.u. Z. – wandert diese Ackerbaukultur praktisch um den ganzen Erdball. Von mehreren Zentren ausgehend und in langsamen Siedlungsbebewegungen – es waren ja keine Eroberungszüge – empfangen alle Kontinente die Ackerbaukultur, einschließlich der ihr zugehörigen Sozialordnung: dem Matriarchat. Also insofern haben wir in einer bestimmten kulturellen Entwicklungsphase Matriarchat überall.
Das heißt nicht, daß es allein Matriarchat gab. Parallel dazu gingen altsteinzeitliche SammlerInnen- und Jägerkulturen weiter.
Diese Situation änderte sich erst zu der Zeit, wo erste patriarchale Eroberungskulturen aufkommen. Das macht sich ca. 2000 v. u. Z. bemerkbar. So daß man sagen kann, daß die Entwicklungsphase der patriarchalen Gesellschaft ungefähr 4.000 Jahre ausmacht.
T.B.: Noch mal zu den Städten. Also, das waren nicht die unbegrenzt wachsenden und auch noch keine Festungsstädte.
Göttner-Abendroth: Nach archäologischen Funden hatten sie ca. 3.000, in Ausnahmen bis ca. 5.000 Bewohner. Solche Städte waren eigentlich Ackerbaustädte – in dem Sinne, daß sie sich alle selber ernährten -, aber sie hatten auch alle handwerklichen und künstlerischen Spezialisierungen. Es waren keine Festungsstädte: Sie hatten keine Befestigungswälle – es war ja auch noch nicht die Zeit der Eroberungen. Sie waren auch keine Hauptstädte, denn dieser Ausdruck allein setzt ja schon den zentralistischen Reichsgedanken voraus.
Matriarchale „Staatsbildung“ – wenn es so etwas überhaupt gab -, bestand darin, daß sich z. B. von einer Mutterstadt einzelne Sippen ablösten, wenn die Stadt zu groß wurde, und nicht allzuweit entfernt eine oder mehrere Tochterstädte gründeten, von denen wieder Tochterstädte ausgingen. So daß ein Netz von Städten entstand, das lediglich durch die symbolischen Verwandschaftsbeziehungen (Mutter -, Tochter -, Enkellinnenstadt) zusammengehalten wurde, wobei jede Stadt unabhängig blieb. Insofern hatten sie keinen Staat. Abordnungen der Tochterstädte haben vielleicht einmal im Jahr der Mutterstadt einen Referenzbesuch abgestattet. Aber es gab keinerlei Tribut oder Steuerverpflichtungen zwischen ihnen.
Es ist wichtig zu sagen, daß es matriarchale Kulturen bis heute gibt, und nicht nur als armselige Dorfkulturen, sondern als ganze Landstriche, wo heute noch Stadtkultur besteht: die Kasi z. B. in den Bergen von Assam haben Städte in 16 Distrikten, ungefähr in der Größenordnung wie die erwähnten archäologischen Siedlungen.
T.B.: Alle Kulturen, die ich kenne, sind ziemlich stark bezeichnet durch ihre Religion, ihren Glauben bzw. durch eine Ideologie. Was unterscheidet denn matriarchale Spiritualität von anderen Religionen und Ideologien?
Göttner-Abendroth: Religionen, so wie wir sie kennen, sind verbunden mit patriarchalen Herrschaftsmustern und bilden diese Herrschaftsmuster in ihren Institutionen ab. Sie sind also ursprünglich spirituelle Bewegungen, die sich institutionalisiert haben und dadurch hierarchisch, zentralistisch geworden sind, Priesterkasten ausgebildet haben, die allein die „wahre Lehre“ haben und lehren.
Matriarchale Spiritualität kannte keine Institutionalisierung in diesem Sinne. Sondern matriarchale Spiritualität wird gelebt in der alltäglichen Begegnung mit den Wesen und Dingen, die alle die göttliche Kraft repräsentieren – und in großen Kultfesten, an denen das ganze Volk beteiligt ist. Alle wußten, worum es geht; niemand mußte sie das lehren. Das sind ihre Volkstraditionen und zwar durchaus lokal verschieden, bezogen zum Beispiel auf ihre jeweilige natürliche Umgebung, auf Berge, Wasser, Flora, Fauna, auf das Wetter ihrer Gegend.
Das heißt auch, daß matriarchale Spiritualität gar keinen Glauben beinhaltet. In den patriarchalen Großreligionen müssen die Menschen immer etwas glauben. Und ich sage etwas ketzerisch: Man muß nur dann etwas glauben, wenn man es nicht selber sehen, prüfen, anfassen, wahrnehmen kann. Dann wird Glauben verlangt. Und das Opfer des gesunden Menschenverstandes gleich noch dazu, weil in der Regel das, was zu glauben ist, eben äußerst unglaubwürdig ist. Ein transzendenter, omnipotenter, unfaßbarer, gar nicht verstehbarer Gott – den kann man höchstens glauben. Begreifen kann man nichts davon.
Während es in Matriarchaten keine derartige Muttergöttin irgendwo am Himmel oder jenseits davon gibt, sondern die gesamte Natur, Kosmos und Erde sind die göttliche Kraft, die als weiblich vorgestellt wird, weil sie Leben hervorbringt. Einschließlich ihrer vielen konkreten Wesen, die männlich oder weiblich sind und alle Teil dieser göttlichen Kraft.
Insofern sage ich: Die Göttinvorstellung der matriarchalen Spiritualität ist universell – und zugleich läßt sie allen konkreten Wesen – Frauen, Männern, Sternen, Winden, Elementen, Tieren und Pflanzen – Raum.
Also die Göttin des Matriarchats ist zum Anfassen. Man kann auf ihr herumlaufen. Wir gewinnen Nahrung von ihr. Wir haben selber Teil an ihr. Jede menschliche Gestalt ist Teil von ihr; eine Göttin zum Erleben. Mit dem Ganzen des Universums, der irdischen und kosmischen Erscheinung im Einklang zu sein, mit der Natur in Kommunikation zu sein, wie auch die Menschen untereinander in Kommunikation sind; immer und immer wieder die Ganzheitlichkeit der kosmischen Ereignisse in sich zu tragen – das ist die ganze Haltung. Und die setzt keinerlei Glauben voraus, braucht keine Dogmen, keine Lehren, keine Priesterkasten – weil es im Grunde jede Person für sich vollziehen kann.
Das, denke ich, unterscheidet eben matriarchale Spiritualität auch von Ideologie. Meine Definition von Ideologie ist: eine Geisteshaltung, die eine schlechte Realität, eine Realität, wo Herrschaft und Knechtschaft eine Rolle spielen, verdecken muß. Insofern haben patriarchale Religionen an Ideologie Anteil, weil sie dem Menschen eine heile Welt im Jenseits spiegeln oder einen großen Gott, der dennoch gerecht ist, auch wenn soundsoviel Ungerechtigkeiten ablaufen, die sie im Grunde still ertragen sollen. Hier, finde ich, trifft die marxistische Religionskritik zu.
Matriarchale Spiritualität ist dagegen höchst widerspenstig gegen Ideologie, weil sie bei den konkreten zwischenmenschlichen Dingen und Naturgegebenheiten bleibt. Sie erfindet nicht irgendwelche verdrehten Theorien, die die Menschen beeinflussen sollen, sondern bleibt bei den lebensfreundlichen Kräften und Beziehungen unter den Menschen. Sie bildet eine Gesellschaft, die im Ausgleich miteinander und mit der Natur ist, schlicht nur ab in antropomorphen Darstellungen. So kann man anhand der matriarchalen Spiritualität und ihrer bildlichen Äußerungen sehr viel Wahrhaftiges über diese Gesellschaften erfahren. Während patriarchale Ideologie ja immer wieder etwas anderes behaupten muß, als sich in einer leidvollen Herrschaftsrealität tatsächlich ereignet.
T.B.: Woraus beziehst du das Wissen, daß matriarchale Spiritualität widerspenstig gegenüber Religion und Ideologie ist?
Göttner-Abendroth: Aus den Widerstandsformen, die sich ergeben haben, wenn matriarchale Kulturen von patriarchaler Umgebung bedrängt wurden, oder wenn sie in die Subkultur gegangen sind.
Also ich nehme mal das Beispiel Europas. Die matriarchale Epoche war zwar untergegangen, aber matriarchale Muster gab es als subkulturelle Muster noch bis ins Mittelalter – wie die Tradition der Naturverehrung, der Kommunikation mit der Natur, die in vielen Kreisen unterhalb der herrschenden christlich-abendländischen Kultur weitergeführt worden ist. Solche subversiven Kulte wie im römischen Militärstaat der Isis-Kult waren verboten. Warum? Weil sie zuviel Zulauf hatten von den Frauen und von den armen Leuten. Und so ging das im christlichen Mittelalter mit den Zirkeln weiser Frauen, die später als Hexenzirkel verteufelt wurden und mit sogenannten Ketzergemeinden, die sich aus diesen alten widerspenstigen Vorstellungen zusammentaten und sie weiter pflegten.
Matriarchale Vorstellungen gehen im Grunde überall da weiter, wo Menschen die Natur verehren und auch Erotik verehren als große natürliche Kraft. Auch in sozialen Zusammenhängen, wo z. B. Frauen ihre spirituellen Kräfte und Funktionen ausüben und leben.
T.B.: Dann ist das, was sich hartnäckig hinter vielen religiösen Festen und Riten als heidnischer Brauch gehalten hat, eigentlich matriarchalen Ursprungs?
Göttner-Abendroth: Ja. Die Leute haben sich ja nicht selbst als Heiden bezeichnet, sondern nur eine ältere, ihnen nahestehende Tradition bewahrt. Die Christen haben sie als Heiden beschimpft und verteufelt und dann verbrannt. Ich meine, wenn das nur harmloses Heidentum gewesen wäre – ohne die dahinterstehende alte Kultur und andere Sozialmuster – wär´s der Kirche doch gar nicht so gefährlich gewesen. Aber das war tatsächlich subversiv.
Eine sehr interessante Erscheinung des ausgehenden Mittelalters ist z. B. die Beginenbewegung, wo Frauen säkulare, nicht-christliche, Klöster gründeten, um ihre Traditionen zu pflegen und eigene soziale Zusammenhänge zu gründen. Diese Bewegung war sehr stark – und wurde dann auch zerschlagen.
T.B.: Religionen sind ja ein Trost für das auszustehende Leid im „irdischen Jammertal“ und die geben das – wenn auch ganz unfaßbare – Versprechen, daß das Leben mit dem Tod nicht endet, sondern daß da noch was ganz Wunderbares, Unendliches kommt. Trotzdem will niemand sterben.
Was ist der Tod in der matriarchalen Spiritualität?
Göttner-Abendroth: Da gab es diesen krassen Schnitt zwischen Leben und Tod gar nicht, wie ihn spätere Kulturen zeigen – und dann durch Erlösungsreligionen wieder zu heilen versuchen.
Die Vorstellung war, daß Leben und Tod zyklische Prozesse sind, die zueinander gehören. Daß der Tod praktisch die andere Seite des Lebens ist und daß jedes Leben – also die Menschen, die Pflanzen und die Tiere – sowieso aus dem Tod durch Wiedergeburt beständig zurückkehrt. Leben hat Dauer, aber nicht als ewiges Leben in einem Jenseits, was nie aufhört – und dann wahrscheinlich irgendwann mal sehr monoton werden würde (lacht) -, sondern als zyklische Wiederkehr.
Das ist eine Vorstellung, die den Menschen offenbar sehr viel an Todesangst, die in späteren Kulturen ja vorhanden ist, genommen hat. Das heißt, Todesangst in diesem Sinne kam gar nicht erst auf, vielleicht Angst vor dem Sterbeprozeß durchaus; aber Angst vor der Vernichtung der Existenz kannten sie nicht.
Auch Angst davor, nach der Wiedergeburt vielleicht in irgend etwas Unbekanntes zu geraten, zur Strafe als Ameise oder so wiedergeboren zu werden – wie im Hinduismus -, kannten sie nicht. Ihre Wiedergeburtsvorstellung ist insofern sehr konkret, weil jeder gestorbene Mensch als Kind in die eigene Sippe zurückkehrt, ins eigene Sippenhaus, in den eigenen Clan, ins eigene Dorf.
T.B.: Man sagt das ja heute auch noch manchmal: Ich lebe fort in meinen Kindern.
Göttner-Abendroth: Ja, und das war bei ihnen ganz direkt leiblich-sinnlich gemeint. Der hinduistische Wiedergeburtsglaube hat das ja noch sehr realistisch und konkret. Aber da kommt dann das Lohn- und Strafeprinzip hinein. Denn warst du im Leben nicht gut, entsprechend der durchaus patriarchalen Regeln des Hinduismus, dann wirst du runtergestuft im nächsten Leben. Männer werden runtergestuft, indem sie als Frauen wiedergeboren werden, und wenn das auch nicht klappt, wirst du als Tier wiedergeboren und so weiter, was unter den lebenden Wesen eine brutale Hierarchie herstellt.
T.B.: Und haben die Lebenden in matriarchalen Kulturen eine Beziehung zu den Toten?
Göttner-Abendroth: Ja, da sie der Auffassung sind, daß die Toten auch leben, nur auf andere Weise, gibt es eine intensive Kommunikation mit ihnen, und die Bindung an die Toten ist sehr eng. Sie sind sozusagen die andere Seite der Sippe, und sie werden auch begleitet durch besondere Feste und Feiern. Man lädt sie ein, tanzt für sie, singt für sie, deckt den Tisch für sie. Totenspeisung ist sehr üblich, und zwar nicht nur bei diesen Festen, sondern durch das ganze Jahr, denn die Toten müssen ja bei ihrer Jenseitsreise auch erhalten werden. Und die Totenfeste dienen auch dazu, sie zu bitten, sich wiedergebären zu lassen, weil es bei den Lebenden doch so schön ist. (lacht)
T.B.: Aber sie haben keine konkrete Vorstellung von Erscheinungsformen der Toten?
Göttner-Abendroth: Also in einer Hinsicht ist die Vorstellung konkret. Die Begräbnisplätze sind in vielen Kulturen gesonderte Plätze und manchmal Inseln, die im Westen liegen. Diese Inseln heißen Totenreich oder Toteninseln. Und sie stellen sich vor, daß die Toten dort genauso leben wie die Lebenden, genauso fröhlich und so heiter und genauso Liebesfeste feiern wie die Lebenden. Also es ist im Grunde eine Spiegelung der Welt der Lebenden.
Aber da es den Toten sehr gut geht, müssen die Lebenden etwas tun, damit sie sich trotzdem wiedergebären lassen, indem sie noch schönere Feste veranstalten, um die Toten zurück zu locken. Und dafür, daß sie ihnen immer wieder Grabgaben bringen, Totenspeisung, Geschenke, Blumen und dergleichen, bedanken sich die Toten, indem sie die Lebenden segnen. Denn die Toten gelten, weil sie die Erfahrung der anderen Seite des Lebens machen – also der Anderswelt – als weiser, und können dadurch Segen und Hilfe und Glück spenden, bis sie wiedergeboren werden.
T.B.: Ich hab das Gefühl, daß in unserer augenblicklichen, untergehenden, und die ganze Welt vielleicht noch mit sich nehmenden Kultur, Kommunikation das Hauptproblem ist. Irgendwie hat sich halb ernst und halb lächerlich zwar die Ansicht verbreitet, daß es zum Wachstum meiner Zimmerpflanzen beiträgt, wenn ich mit ihnen rede, oder in der Religion geht noch, daß ich mit Gott kommunizieren soll (den verstehe ich allerdings noch weniger als meine Pflanzen) aber ansonsten … Mit wem kann ich schon noch wirklich in Verbindung treten, außer mit denen, die genauso aussehen wie ich. Möglichst dürfen sie auch keine andere Hautfarbe, Sprache etc. haben.
Göttner-Abendroth: Und sie müssen auch gleiche Ansichten haben, sonst klappt die Kommunikation wieder nicht.
T.B.: Ja, genau.
Göttner-Abendroth: Das ist sehr treffend, was du sagst, Tanja, daß wir im Grunde unsägliche Kommunikationsprobleme haben. Und ich denke, das ist auch ein Teil der Katastrophe, wie sie in frühpatriarchalen Zeiten begann und sich jetzt fortsetzt.
Einmal zerbrach die Kommunikation zur Natur hin. Wenn man die Natur beherrscht, macht man keine Kommunikation mehr mit ihr. Dann unterwirft man sie, schaut ihre Regeln ab und benutzt sie.
Dann zerbrach die Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Wenn die Männergruppe die Frauengruppe beherrscht, dann braucht man nicht mehr zu kommunizieren. Man schaut nur noch hinter dem Rücken der anderen, wie reagieren die, um sie über ihre Reaktionen zu beherrschen.
Kommunikation nimmt ja das Gegenüber ernst. Das ist eine Ich-Du-Beziehung. Während alle, die per Experiment oder Erforschung hinter dem Rücken der anderen herausforschen, wie funktionieren die, um sie beherrschen zu können, das Gegenüber nicht mehr ernst nehmen. Das heißt, hier wird das Gegenüber zum Objekt gemacht: die Natur, die Frauen. Und sind es noch immer. Dann setzt sich das fort mit fremden Völkern, mit Andersgesinnten, die zum Objekt der Kriege wurden – ob sie nun Heiden, Ungläubige, Nichtmarxisten oder ,,Nicht-sowieso“ heißen. Das ist vollkommen egal.
Dadurch wird die Kommunikation auch zerstört, denn Kommunikation ist ,,mitmenschlich“. Und Herrschaft ist nicht ,,mitmenschlich“. Herrschaft will objektivieren und andere benutzen.
Wir haben gar keine Ahnung mehr, wie diese alten Kulturen mit der Natur kommunizieren konnten. Sie hatten wahrscheinlich sehr subtile Möglichkeiten dafür. Und wahrscheinlich … nicht nur wahrscheinlich, antwortete die Natur auch. Wohl nicht auf unsere menschliche Weise. Wenn Kommunikation entsteht, ist das ja nicht nur die Sache der einen Seite. Es entsteht ein Wechselspiel.
Ich denke, sie hatten in dieser Weise auch tatsächlich Kommunikation mit den Toten. Ich weiß nicht, in welchen energetischen Formen, aber Tote verschwinden ja auch nicht als ,,Nichts“. Sondern die Lebensenergie, die in ihnen wohnte, geht nicht verloren. Sie haben wahrscheinlich durchaus Möglichkeiten gehabt, mit dieser frei gewordenen oder frei schwebenden Lebensenergie in Kommunikation zu treten. Dadurch hatten sie Erfahrungen, die uns weitestgehend verloren sind, weil wir diese Kommunikation nicht mehr können oder heute mühsam wieder versuchen, sie zu finden.
aus ICH 4/ 92