„… viele Fragezeichen …“ Ein Brief

Lieber Andreas Peglau,

das Heft 4/ 94 meines Exemplars der Psychozeitung hat an den Rändern viele Fragezeichen, z. B. am Rande Ihres Editorials, in dem Sie schreiben: „Als Männer noch nicht nach besten Kräften Frauen unterdrückten, als Männer und Frauen noch nicht nach bestem Kräften ihre Kinder unterdrückten, als Ackerbau und Viehzucht die Natur noch nicht am Lebensnerv trafen, da könnte das Leben spürbar sinnvoller gewesen sein …“

Mich beunruhigen seit geraumer Zeit öffentliche Verlautbarungen verschiedenster Medien, in denen in zahllosen Varianten von der ,,Unterdrückung der Frauen durch die Männer nach besten Kräften“ gesprochen wird, als handele es sich hier um mit gutem Willen allein zu verändernde – sozusagen böswillige – Verhaltensweisen. Ich vermisse so oft die Suche zu verstehen.

Eine solche Haltung paßt in meiner Wahrnehmung zu dem ebenfalls auf uns gekommenen ,,säkularisierten“ und wissenschaftsgläubigen Mangel an Achtung und Würdigung der Kräfte des Lebens selbst, der Naturgewalten, zu welchen die biologischen Geschlechtsunterschiede und -potenzen sowie die emotionalen Reaktionen auf diese Unterschiede gehören.

Auch die Kinder sind in der Vergangenheit nicht mutwillig unterdrückt worden. Und wir können diese Unterdrückung trotz allen intellektuellen Wissens bekanntlich nicht mit bloßem und noch so gutem Willen abbauen, solange wir unsere eigenen Kindheitsschmerzen nicht gut genug kennen. Die Unfähigkeit, kindliche Bedürfnisse wahrzunehmen, ist vielmehr nicht nur kulturell sondern in unserem eigenen Erleben historisch übermittelt. Lloyd de Mause hat in seiner Geschichte der Kindheit dargestellt, aus welchen emotionalen Nöten heraus die Erwachsenen früherer Zeiten Halt und emotionale – z. B. Trauer-Hilfe in der bedingungslosen Liebe und überaus großen Feinfühligkeit ihrer Kinder fanden.

Die Geschichte des ,,Patriarchats“ ist kein historischer Zufall. Vielmehr müssen sehr starke Kräfte am Werk gewesen sein, daß sie die natürliche Gleichwertigkeit und Ebenbürtigkeit der Geschlechter in unserer Wahrnehmung und in unserem Bewußtsein so sehr entstellen konnten. Warum suchen wir so wenig, diese Kräfte in uns und zwischen den Geschlechtern zu verstehen und machen uns das Leben mit gegenseitigen Schuldzuweisungen schwer?

Ruth Priese, Berlin

 

 

aus ICH 2/ 95