Vom Nutzen der sexuellen Enthaltsamkeit für den sozialistischen Aufbau in der DDR

von Rudolf Neubert

Schadet es dem Mädchen, wenn es zeitig verkehrt?

Ja. Die Entwicklung wird vorzeitig in andere Bahnen gelenkt. Die Interessen des Mädchens kreisen um das Liebeserlebnis. Viele Mädchen hören auf zu lernen, sie wollen möglichst schnell auf der begonnenen Bahn fortschreiten. Werden sie im Stich gelassen, so flattern sie, falls nicht ein verständnisvoller, warmherziger und energischer Erzieher ihnen aus dem Wirbel heraushilft, von einem zum anderen. Wird ein Mädchen gar vorzeitig Mutter, so ist auch seine körperliche Entwicklung zu Ende. Das Längenwachstum hört auf, aus dem Kind wird, ohne daß es zu einer richtigen Jugendzeit kam, eine Frau. 

Schadet es dem jungen Mädchen, wenn es spät beginnt?

Nein. Es erleidet keinerlei Einbuße in seiner Gesamtentwicklung. Verwechselt die Frage nicht damit, ob ein Mädchen überhaupt unberührt bleiben soll. Eine Frau wird erst ganz Frau durch die Mutterschaft. Gemeint ist, daß ein Mädchen sich nur einem jungen Mann hingeben soll, den es als Vater ihrer Kinder anerkennen, achten, wünschen würde. 

Nützt es dem Jungen, wenn er mit dem Geschlechtsverkehr wartet und erst später, nach dem 18. Lebensjahr beginnt?

Man kann unbedenklich sagen, daß es ihm im allgemeinen zum Vorteil gereicht. Er wird nicht vorzeitig aufgeregt und von seinen nächsten Aufgaben abgelenkt. Seine Fortpflanzungsorgane werden nicht übermäßig durchblutet, sie entwickeln sich in aller Stille. 

Es gibt aber eine andere Meinung. Der bekannte Sexualforscher Dr. Wilhelm Reich und der Stadtarzt von Berlin, Dr. Max Hodann, waren der Meinung, daß die jungen Menschen, nachdem sie geschlechtsreif geworden sind, miteinander sexuell verkehren dürfen. Die nächste Konsequenz dieser Meinung war, daß sie die Kenntnis der Empfängnisverhütung unter den Jugendlichen verbreiten wollten. Was haben wir dazu zu sagen?

Zuerst, daß die Voraussetzungen, von denen Max Hodann ausging, nicht mehr für uns gelten. Während in der kapitalistischen Gesellschaft die Rechte der Jugend mit Füßen getreten und die Arbeiterjungen- und mädel sehr früh schon der Ausbeutung unterworfen wurden, werden sie bei uns für die Aufgaben, die der Aufbau des Sozialismus stellt, sehr sorgfältig ausgebildet. Der Kapitalismus nahm der Jugend den Inhalt ihrer Jugendjahre und drängte sie dazu, im Geschlechtsverkehr eine Art Entschädigung zu suchen, bei uns jedoch erschließt der Staat den Jugendlichen alle Möglichkeiten, sich zu bilden und zu entwickeln. Bei uns hat der Jugendliche einen Lebensinhalt, und er kann ruhig und bewußt seiner völligen Reife entgegengehen. 

Von welchem Zeitpunkt ab wir es für sittlich halten, wenn zwei Liebende sich auch körperlich vereinigen, ist eine Frage, die gründlich durchdacht sein will. Man kann der Auffassung sein, daß nicht die Eintragung auf dem Standesamt oder die Einsegnung in der Kirche diesen Zeitpunkt bestimmt. Wenn die beiden Menschen nach einer gründlichen Prüfung den festen Entschluß gefaßt haben, ihr Leben gemeinsam zu führen und ihre Kinder miteinander aufzuziehen, dann ist keine andere Instanz mehr zuständig – dann können sie aber auch auf das Standesamt gehen.

 

 

Gekürzt übernommen aus: Rudolf Neubert, „Die Geschlechterfrage. Ein Buch für junge Menschen“ erschienen 1956 in 5.Auflage im Greifenverlag zu Rudolstadt. (Überschrift und Hervorhebungen von mir, – A.P.)

 

 

aus ICH 1/ 96