Helfen und nicht Heilen. Über psychoanalytische Sozialarbeit

Stefan Becker im Gespräch mit Andreas Peglau über psychoanalytische Sozialabeit.

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A.P.: Meiner Meinung nach ist im alltäglichen Leben der Bundesrepublik von psychoanalytischem Gedankengut nicht viel zu spüren – was für mich übrigens eine ziemliche Enttäuschung nach der „Wiedervereinigung“ war. Zumal sich doch offenbar gerade nach 1968 auch in der BRD deutlich gezeigt hat, daß Psychoanalyse weit mehr ist als eine bloße Behandlungsmethode, daß sie auch eine Weltanschauung mit gesellschaftsveränderndem Potential ist. Inzwischen scheint sich ihr Einfluß für meine Begriffe wieder viel zu sehr auf therapeutische Sprechzimmer zu beschränken.

Sozialarbeit hat ja – als Möglichkeit der Unterstützung in Not geratener Menschen – von vornherein einen sehr breiten Ansatz, der viele Bereiche berührt: Säuglingspflege, Altenpflege, Betreuung von gefährdeten und gestörten Kindern und Jugendlichen, Arbeit mit Drogensüchtigen und so weiter.

Ist psychoanalytische Sozialarbeit also eine Möglichkeit, in umfassenderem Maße mit tiefenpsychologischem Wissen auf gesellschaftliche Prozesse einzuwirken – oder lege ich da zuviel hinein in den Begriff?

Becker: Wenn wir das gesellschaftliche Ganze als eine Art abgespaltene Subjektivität der lebendigen Menschen begreifen, dann muß eine konsequent fortgeführte Psychoanalyse letztlich ankommen bei der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Darum hat sich die Psychoanalyse zu Zeiten Freuds und besonders in den zwanziger Jahren bemüht. Und daß sie sich heute reduziert auf einen ,,klinistischen“ Rahmen, auf einen Sektor innerhalb der Medizin, das ist etwas, das wir der bleibenden Wirkung des Faschismus verdanken.

Zu den wenigen Ausnahmen von dieser Beschränktheit gehört heute zum einen die von Paul Parin, Mario Erdheim und anderen entwickelte Ethnopsychoanalyse, zum anderen die Psychoanalytische Pädagogik und die Psychoanalytische Sozialarbeit.

An das verlorengegangene Potential anzuknüpfen ist um so mehr notwendig, als die sogenannte ,,klassische Psychoanalyse“ sich mittlerweile überwiegend darauf konzentriert, Menschen zu behandeln, die als fast ,,normal“ gelten könnten, während die Psychoanalyse vor 1933 sowohl eine ungleich größere Zahl von Krankheitsbildern als auch von gesellschaftlichen Bedingungen für menschliches Leid im Blickpunkt hatte. Dieses Spektrum reichte von schwer verwahrlosten Menschen über ,,klassische“ Neurosen wie Hysterie oder Zwangsneurosen bis hin zu psychotischen Störungen – also sogenannten ,,Geisteskrankheiten.“

A.P.: Inwiefern ist für die gegenwärtige Rolle der Psychoanalyse der Faschismus verantwortlich?

Becker: In einem ganz erheblichen Maße. Zunächst hat er dafür gesorgt, daß das kreativste Potential der Psychoanalyse – das waren insbesondere Juden -vertrieben oder ermordet wurde. Was danach von den Analytikern übrig blieb, wurde nicht nur politisch beschnitten, sondern auch von den therapeutischen Zielen her. Wo Verwahrloste oder ,,Geisteskranke“ als ,,unwertes Leben“ angesehen wurden, war kein Platz für deren Behandlung. Und diese Entwicklung der Analyse wurde auch noch durch ganz konkrete Lebensumstände Freuds beeinflußt.

Er hatte sich immer gegen eine ,,Medizinalisierung“ der Psychoanalyse – wie sie vor allem von den amerikanischen Analytikern betrieben wurde – zur Wehr gesetzt und hätte sogar sehr gerne die Amerikaner aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Dann aber – 1938 – mußte er emigrieren und brauchte dazu unter anderem die finanzielle Unterstützung seiner wohlhabenden amerikanischen Kollegen …

Insofern könnte man polemisch überspitzt sagen: Der vor allem aus Amerika übernommene Medicozentrismus der Psychoanalyse basiert darauf, daß der durch Hitler geschaffene Ausnahmezustand in dieser Hinsicht bis heute nicht überwunden wurde.

Aber natürlich hat es nach dem Krieg beachtliche Anstrengungen gegeben, das alte Potential der Analyse wieder zu entfalten – durch Helmut Dahmer und Alfred Lorenzer zum Beispiel, die Analyse und Historischen Materialismus verbunden haben oder durch Alexander Mitscherlich, der klinische und Kultur-Theorie nie trennte. 

A.P.: … und – wie Sie sagten – auch durch die Psychoanalytische Sozialarbeit. Auf welche Weise läßt sich das eine mit dem anderen verbinden, was bleibt bei der Sozialarbeit übrig von der psychoanalytischen Behandlungsmethode? Ich kann mir beispielsweise schwer vorstellen, daß Kinder aus ,,asozialen“ Familien, die vielleicht sowohl in ihrer Kontaktfähigkeit als auch in ihrem Intellekt schwer geschädigt wurden, sich täglich pünktlich auf eine Analytiker-Couch legen und ein bis zwei Stunden frei assoziieren. 

Becker: Es ist in der Tat so, daß beispielsweise eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen, die zwar weder in die Psychiatrie noch in den Knast gehören, aber oftmals doch dort gelandet sind, einer klassischen Analyse nicht zugänglich sind. Entweder kommen sie gar nicht zu ihrem Termin oder sie kommen aber sie reden nicht. Das führt dazu, daß sie verlangen, daß wir mit ihnen etwas anderes machen – zum Beispiel das, was Hans Zulliger ,,Spaziergangtherapie“ genannt hat: Mit bestimmten Jugendlichen können Sie nur unaufdringlich kommunizieren, wenn Sie mit ihnen spazierengehen.

Sie können sich das ja vorstellen: Man schaut dem anderen nicht so direkt ins Auge und hat trotzdem eine Verbindung mit ihm. Oder der psychoanalytische Pädagoge August Aichhorn hat sich in Wien mit bestimmten Jugendlichen zu festen Terminen in der Straßenbahn getroffen. Das ist ja auch eine Gelegenheit, sich nicht zu nahe zu sein und sich trotzdem zu treffen. Oder er ist zu einem Jugendlichen, der die Schule schwänzte und sich zu diesem Zweck immer unter sein Bett verkroch, nach Hause gegangen und hat sich mit dazu gelegt – so lange, bis der Jugendliche anfing, ihn zu fragen, was er denn um Gotteswillen unter dem Bett zu suchen habe.

Auf diese Weise kam ein Kontakt zustande, bei dem der Jugendliche dem merkwürdigen Mann beibrachte, wie dieser denn ein guter Lehrer zu sein habe: Indem er den scheinbar unbotmäßigen Erwachsenen veränderte, verwandelte er sich selbst.

A.P.: Was das Analysieren beim Spazierengehen betrifft, das hat doch auch schon Freud selbst mit einigen seiner Patienten so gehalten.

Becker: Ja, zum Beispiel mit seinem Schüler und Mitstreiter Sandor Ferenczi. Freud hat ja aus seiner Methode sowieso nie ein Dogma gemacht und daß er zur Couch griff, hat er unter anderem so begründet, daß es ihm zu anstrengend war, täglich länger als vier Stunden Menschen in die Augen zu schauen.

Wichtig ist also: Ich kann Psychoanalyse in einem klassischen Rahmen machen, ich kann aber auch zu jemand an seinen ,,sozialen Ort“ gehen – ein Begriff, der von dem großen psychoanalytischen Pädagogen und Sozialisten Siegfried Bernfeld stammt. Das heißt also, ich suche ihn dort auf, wo er nach mir fragt, wo er in der Lage ist, eine Beziehung zum Beispiel zu mir als Sozialarbeiter einzugehen.

Und natürlich kommen auch dort – wie in jeder menschlichen Beziehung – Übertragungen und Gegenübertragungen und Widerstände zustande, die sich wieder deuten und bearbeiten lassen. Im Unterschied zur klassischen Analyse passiert mit den schwerer Gestörten, die das hauptsächliche Klientel unserer psychoanalytischen Sozialarbeit ausmachen, diese Deutung im Wesentlichen auf der Ebene der Supervision.

Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter und seinem Klienten ist ja auch immer eine gegenseitige Beziehung, in die sowohl der Klient etwas Bearbeitbares aus seiner Lebensgeschichte hineinträgt, überträgt, wie auch der Sozialarbeiter seine unbewußten Wünsche, Ängste, Probleme mit hineinbringt; die sogenannte Gegenübertragung. Insofern können Deutungen dieser Beziehungen in der Supervision zu Einstellungsänderungen der Sozialarbeiter führen. Und diese Veränderungen wirken auf die Klienten zurück, ermöglichen ihnen, sich weiterzuentwickeln. 

A.P.: Und das funktioniert auch bei den Menschen, die Sie als Ihr bevorzugtes Klientel bezeichnen und von denen Sie schreiben, daß sie ,,an tiefgreifenden, lebensgeschichtlich früh eingetretenen Entwicklungs- und Beziehungsstörungen leiden“? Immerhin sind viele davon nach Ihren Angaben zuvor bereits als ,,psychotisch“, ,, autistisch“ oder zumindest ,,schwer neurotisch gestört“ eingestuft worden, haben lange Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten oder Gefängnissen hinter sich und gelten als ,,nicht behandelbar“.

Becker: Ja, aber diese Menschen als ,,nicht behandelbar“ abzuklassifizieren, ist natürlich nur der Ausdruck der Ideologien von Medizin und bestimmten Versicherungsanstalten beziehungsweise Krankenkassen.

Dazu gehört doch zum Beispiel, daß überhaupt nur Menschen gefördert werden sollen, die prinzipiell erwerbsfähig sind. Leute, die als nicht oder nicht mehr erwerbsfähig gelten, repräsentieren ja offenbar einen gesellschaftlichen Unwert, der keine Förderung verdient.

Meine eigene klinische und forschende Tätigkeit jedenfalls habe ich in den letzten vierzehn Jahren sehr stark diesem Personenkreis gewidmet. Und aus dieser Erfahrung heraus sage ich Ihnen: Es ist nie zu spät, um zu helfen. Und über die Möglichkeit dieser Hilfe läßt sich nicht anhand irgendeiner ,,Diagnose“ urteilen.

Entscheidend ist viel mehr die Frage, ob jemand zur Verfügung steht, der den Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen, der ,,psychotisch“ erkrankt ist, entspricht. Jemand, der eine Psychose hat, braucht einen Menschen, der von seinem eigenem Unbewußten her in der Lage ist, den Zustand seines Gegenübers so sehr an sich selbst herankommen zu lassen, daß er eine ähnliche Krise spürt und durchlebt wie dieser.

Also, verstehen Sie, die Krise eines psychotischen Menschen muß – wenigstens in großen Anteilen – zur Krise seiner Therapeuten werden, sonst können diese ihn nicht behandeln.

Wenn es nicht zu einer Übertragung des psychotischen Erlebens kommt, kann dieses auch nicht durchgearbeitet werden. Und dazu müssen Menschen da sein, die in der Lage sind, die verrückte Welt ihres Klienten mit diesem zu teilen und dabei auch zu riskieren, daß ihre eigene Welt nach dieser Behandlung nicht mehr dieselbe ist.

Ich glaube, daß man auch durch seine Klienten als Therapeut sozialisiert wird. Es wäre schlimm, wenn das nicht der Fall wäre; man geriete in die Position eines Lehrers, der von seinen Schülern nichts mehr lernt – und ein solcher Lehrer sollte aufhören, Lehrer zu sein.

Wir werden alle als Analytiker indirekt auch von unseren Analysanden analysiert und wachsen daran. Oder erkranken daran, was Freud ja auch zu seiner Empfehlung geführt hat, der Analytiker sollte alle vier bis fünf Jahre seine eigene Analyse wieder aufnehmen.

A.P.: Aber mit psychotischen Menschen hat Freud doch wohl gar nicht gearbeitet. Hielt er das nicht auf Grund der Schwäche des Ichs und mangelndem Realitätskontaktes dieser Patienten sogar für unmöglich?

Becker: Man muß dazu folgendes sagen: Der Freud selber hat mit psychotischen Menschen nicht viel anfangen können, das ist nun mal nicht sein Metier gewesen. Er hat ja sogar bei seinem bekanntesten Schüler und späteren Feind C. G. Jung lebenslang übersehen, daß dieser unter einer psychotischen Störung litt und viele ihrer Konflikte genau dort ihre Wurzel hatten.

Aber schon zu Lebzeiten Freuds gab es Analytiker, die damit besser umgehen konnten, wie Paul Federn oder in Ungarn Sandor Ferenczi, später zum Beispiel Bruno Bettelheim, Rudi Eckstein und Ernst Federn.

Ich möchte es einmal so formulieren: Es gibt nun mal Menschen, bei denen muß man erst mal die Voraussetzungen in ihrer Persönlichkeit schaffen, von denen Freud ausgegangen ist bei seinen Patienten.

Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben. Ich habe ja selbst viele autistische Kinder und Jugendliche viele Jahre lang behandelt, Kinder, die völlig zurückgezogen von ihrer Unwelt gelebt haben, vielfach überhaupt nicht gesprochen haben.

Das Wichtigste für diese Kinder ist zunächst, daß wir ihnen eine menschliche Beziehung anbieten, in der sie soviel Halt und Wohlbefinden verspüren können, wie sie ihnen bis dahin nur ihre autistische ,,Schale“ oder Schutzhülle geboten hat. Um das zu tun, müssen wir beispielsweise bereit sein – bei jemand, der nur Robotergeräusche von sich gibt und durch uns hindurchschaut -, uns ihm so unaufdringlich zur Verfügung zu stellen, daß wir uns vielleicht vorübergehend selbst so abgestorben fühlen wie ein Roboter, der nicht funktioniert.

A.P.: Heißt das, wenn ich mit einem Autisten arbeite, muß ich unter Umständen eine Phase ertragen oder gar herbeiführen, in der ich mich selbst wie ein Autist fühle und verhalte, mich zum Beispiel nur zu ihm setzen und überhaupt nichts machen?

Becker: Als ,,überhaupt nichts machen“ könnte das nur derjenige beschreiben, der es noch nicht selbst getan hat. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein autistisches Mädchen, das jeden Tag viele Stunden lang vor einer laufenden Waschmaschine verbrachte, um offenbar eine Verbindung zu bestimmten Formen der sich bewegenden Wäsche herzustellen. Und die erste Möglichkeit, mit ihr Kontakt herzustellen, war diese, daß die Therapeutin, die ich damals supervidiert habe – eine sehr erfahrene, liebevolle Sozialarbeiterin – viele Stunden und Tage mit diesem Mädchen vor der Waschmaschine zubrachte. Das war sozusagen ihr sozialer Ort, die einzige Chance für sie, Halt und Sicherheit im Wachzustand zu empfinden. Es stellte sich dann heraus, daß dieses Kind eine Frühgeburt war, die ursprünglich 800 Gramm wog und mit Mühe und Not über den Inkubator am Leben gehalten wurde. Und natürlich, wenn Sie sich den Inkubator vorstellen und was sich in ihm bewegt, so können Sie da durchaus eine Parallele entdecken.

Das Hineinschauen in diese Waschmaschine war also eine primitive Art der Erforschung: Woher bin ich gekommen, wer bin ich? Und als nach ungefähr drei Jahren eines mühsamen Beziehungsaufbaus erstmalig auch gesprochen werden konnte mit diesem Mädchen, sie auch immer mehr hinein wuchs in eine Emotionalisierung ihrer Äußerungen, bestätigte sich das.

Aber dieses Hineinwachsen war außerordentlich dramatisch. Die Reflexionen über ihre Zeit im Inkubator konnten überhaupt erst richtig in Gang kommen, nachdem wir eines Tages in der Nähe eines Backofens waren und sie ungeheuer Angst hatte, daß sie selbst verbrennt, so wie es dem Brot dort gehen könnte. Erst als diese wirkliche Todesangst auftauchte und sie dann auch schweißgebadet und vor Angst fast gelähmt Vorstellungen mitteilte, daß sie es ist, die aus diesem Ofen nicht mehr herauskann – an dem Punkt war es dann erstmals möglich, eine Differenz zwischen ihrer angstbesetzten Vorstellung und der Wirklichkeit festzuhalten.

Kurz: Ich halte es also auch bei solchen gestörten Menschen für möglich, eine Persönlichkeitsstruktur aufzubauen, ehe sie dann irgendwann eine Art fördernden Dialog führen können, der eine Ähnlichkeit mit einer klassischen Analyse haben mag.

Aber auch dann muß man bestimmte Regeln beachten: Befreien Sie sich zum Beispiel von jedem Anspruch, ein autistisches Kind heilen zu wollen! Seien Sie aber bereit, sich dem Kind zur Verfügung zu stellen und sich von ihm leiten zu lassen. Wenn Sie zum Beispiel ein Lehrer sind, der ein autistisches Kind unterrichten soll, dann werden Sie erleben, daß alle Ihre Erwartungen, dem Kind das beizubringen, was Sie beabsichtigen, scheitern werden. Und zwar so gründlich scheitern werden, daß Sie anfangen, an sich als Lehrer zu zweifeln und zu verzweifeln: Ich kann bei diesem Kind gar nichts erreichen! Und wenn Sie an diesem Punkt angelangt sind – und also auch keine Erwartungen mehr an dieses Kind haben – dann passiert es Ihnen in einer ganzen Reihe von Fällen, daß das Kind genau dann anfängt, etwas von dem zu machen, was Sie ihm beibringen wollten.

Ich bin also schon der Meinung, daß insgesamt viel mehr psychotherapeutische, speziell analytische Hilfe möglich ist, als überhaupt schon realisiert wird. Und ich glaube, daß leider Gottes die Ideologie der herrschenden psychiatrischen Wissenschaften und der herrschenden Pädagogik zur Aussonderung von Menschen beiträgt, die eigentlich durchaus in der Lage sind, sich mit psychoanalytisch-pädagogischen Hilfen zu entwickeln.

Womit ich nicht unbedingt sagen will, daß sie geheilt werden können. Aber ich glaube, es ist gar nicht notwendig oder möglich, alle Menschen zu heilen. Ich glaube, manche Menschen müssen lernen, mit ihren Schwierigkeiten besser zu leben. Gerade für manche psychisch kranke Menschen wäre eine ,,Heilung“ höchstens möglich, wenn sie sterben würden. Sie brauchen einen bestimmten Status an ,,krank sein“, mit dem sie leben können, um sich authentisch zu fühlen. Also: Helfen kann man immer, heilen nicht.

A.P.: Psychoanalyse soll innere seelische Veränderungen bewirken. Aber steckt denn nicht bei psychisch gestörten Kindern fast immer eine reale kaputtmachende Außenwelt – zumeist in Form der Erziehungspersonen – hinter ihren Problemen? Muß man nicht also auf jeden Fall die Eltern mit einbeziehen? Zumal auch die schönste psychoanalytische Sozialarbeit irgendwann zu Ende ist und die Kinder wieder zurück müssen in ihre krankmachende häusliche Umgebung.

Becker: Also ich sagen Ihnen, die Sozialarbeit, die wir betreiben, ist natürlich eine, wo wir in der Mehrzahl der Fälle mit den ganzen Familien arbeiten – wer immer jetzt ,,Familie“ ist. Das kann ja manchmal eine Mischung sein aus: ein Vater, zwei Kinder, die Großmutter, eine Tante oder ein Nachbar, mit dem man zusammenlebt. Also es geht auf jeden Fall darum, mit den Familien zu arbeiten. Ich kenne so gut wie keinen Jugendlichen oder kein Kind, wo das nicht notwendig ist. Oft besteht das Ziel der Therapie dann darin, Menschen einen sicheren sozialen Ort in der Familie zu geben.

Ich will Ihnen mal ein Extrembeispiel für das Fehlen eines solchen Ortes geben. In einer Arztfamilie starb der lange gewünschte Sohn im Alter von 3 Jahren an einem Darmverschluß. Daraufhin ergraute die Mutter und wurde melancholisch, brachte aber noch ein Kind auf die Welt, ein Mädchen. Mit diesem Kind wurde bis zu dessen 14. Lebensjahr täglich für den toten Bruder gebetet und zweimal wöchentlich ein ausgiebiger Besuch auf dem Friedhof veranstaltet. Dieses Mädchen durfte nie Tochter ihrer Mutter sein, sondern sie mußte immer Ersatz ihres Bruders sein – bis sie endlich über eine schwere Magersucht so krank wurde, daß sie darüber einen Eigensinn entwickelte, der es ihr ermöglichte, einen von dem toten Bruder unabhängigen Ort ausfindig zu machen, eine eigene psychische Bedeutung in der Familie zu erlangen.

Und in der darauf erfolgenden Therapie konnte sie erstmalig ihren Haß auf ihren toten Bruder herauslassen, der ihr die Kindheit zur Hölle gemacht hatte und aus ihrer Mutter ein Schreckgespenst gemacht hatte – das sie im Übrigen niemals anfassen durfte. Gleichzeitig war eben auch eine Behandlung der Eltern möglich und nötig und es wurde deutlich, daß beide Eltern diesen toten Sohn innerlich nie hatten sterben lassen. Die Mutter war zwar ergraut, hatte aber keine einzige Träne über den Verlust ihres Sohnes vergossen. Der Vater hatte sich von der Mutter zurückgezogen, war in ein anderes Zimmer im Hause gezogen, hatte nebenher Freundinnen, redete aber über das alles nicht. Folglich hatte diese Familie die Trauer über den toten Sohn förmlich eingemauert und der Tochter so jede Chance verbaut, sich zu ihren Eltern in eine lebendige Beziehung zu setzen.

A.P.: Alles, was Sie über Ihre Form der Sozialarbeit erzählen, klingt nach hohem zeitlichen und personellen Aufwand. Analytisch gut geschulte und ständig supervidierte Sozialarbeiter mit großem Einfühlungsvermögen setzen sich mit Autisten wochenlang zusammen, um zu ihnen einen ersten Kontakt aufzunehmen, versetzen sich in die schwierige Innenwelt von Psychotikern, behandeln ganze Familien – oftmals jahrelang – und so weiter. Wer bezahlt das?

Becker: Zunächst einmal: Teuer ist es auf jeden Fall, wenn man kurzfristig und kurzsichtig denkt. Aber wenn man beispielsweise autistische Kinder 5 bis 10 Jahre gut psychoanalytisch-pädagogisch fördert, können diese Kinder unter Umständen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu versorgen – was nicht heißt, ihren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit zu verdienen. Aber erstens leben sie dann menschenwürdiger und zweitens kosten sie den Staat viel weniger als bei einem andauernden Aufenthalt in einer psychiatrischen Aufbewahranstalt. Also ,,es rechnet sich“ sogar.

Aber ich habe auch oft so argumentiert: Unsere militärischen Verteidigungausgaben sind übermäßig aufgebläht. Jede müde Mark, die wir aus dem Sozialstaat herausklopfen für solche Zwecke, ist im günstigsten Fall eine Mark weniger in diesem kriegerisch orientierten Verteidigungshaushalt. Und wenn ich mir überlege, daß die Nato zwar heute keinen Krieg mehr gegen den ,,Weltkommunismus“ führt, aber vor allem über Polizeifunktionen im Osten nachdenkt, dann haben sie ganz offenbar immer noch viel zu viel Geld.

Wir sind immer noch ein sehr reiches Land. Und speziell hier in Berlin wird zwar gesagt, es gibt überhaupt kein Geld für gar nichts mehr, aber was im Osten real an Geld eingesetzt wird, liegt noch nicht einmal näherungsweise in der Höhe der Hilfen, die im Westen teilweise verschleudert werden.

A.P.: Der Gedanke, kurzfristig Geld auszugeben, um langfristig welches zu sparen, ist ja interessant, aber er funktioniert doch auch in dieser Gesellschaft überhaupt nicht. Es ist doch bekannt, daß beispielsweise eine Ausweitung des psychotherapeutischen Angebotes wesentliche Kosten für ,,klassische“ Medizinische Eingriffe, Operationen oder Krankenhausaufenthalte drastisch senken würde. Bis hin zur Ökologie, wo es klar ist, wenn man jetzt investieren würde, könnte man spätestens folgenden Generationen sehr viel Geld für die Eindämmung der Folgeschäden ersparen.

Das ,,sich rechnen“ bezieht sich doch offensichtlich nur auf Wahlperioden oder die ,,mittelfristigen“ Bilanzen einzelner Konzerne. ,,Gesamtgesellschaftlich“ heißt das Motto doch eher ,,nach mir die Sinnflut“. 

Becker: Schauen Sie, ich glaube, daß man in der gegenwärtigen Lage sehr hart kämpfen muß, um Alternativen, wie ich sie beschrieben habe, durchzusetzen. Aber: Die Zahl der Menschen, die sich nicht abspeisen lassen mit halbherzigen psychiatrischen Dressuren, die wächst. Ansonsten sind die verschiedenen Disziplinierungsstrategien von überflüssigen Medikamenten bis hin zur Ver-Beamtung etwas, was die Menschen sich auch nicht mehr beliebig gefallen lassen.

Ich glaube auch, daß die klassische Psychiatrie ein langsam aber doch effektiv sterbender Dinosaurier ist. Ich weiß, daß die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die sich für überlange stationäre Diagnostik in Kinderpsychiatrien einsperren lassen, nicht mehr so hoch ist, wie das noch vor wenigen Jahren in Ost und West der Fall war.

Es ist auch längst überfällig, daß bei allen Angeboten der Psychotherapie in der Kinderpsychiatrie individualisierenden Formen der Behandlung der Vorrang gegeben wird gegenüber den verbreiteten pädagogisch-reglementierenden Gruppenverfahren. Der Widerspruch gegen all diese Institutionen, die einen antikooperativen und hierarchisierenden Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen pflegen, wird größer und lauter – und diese Systeme lassen sich auch nicht mehr finanzieren.

Ich bin natürlich auch jemand, der bei sich bietender Gelegenheit Öl ins Feuer gießt, damit die Verhältnisse sich verändern.

A.P.: Sie sind kurz nach der ,,Wende“, Anfang 1990 aus Tübingen nach Berlin gekommen – und arbeiten seitdem vorwiegend im Osten dieser Stadt. Zufall?

Becker: Das ist überhaupt kein Zufall. Ich bin nach der Wende entsetzt gewesen über die Perspektive, daß die Deutschen sich in Mitteleuropa vereinigen und möglicherweise wieder schrecklich mächtig werden könnten und einen neuen Herd für Krisen und Kriege inszenieren könnten. Da ich sehr viele gute Freunde, nicht zuletzt jüdische Freunde, in Amerika habe, war für mich in dem Moment klar: Also entweder verlasse ich Deutschland und Europa und gehe in die USA – oder aber ich gehe in die ehemalige DDR. Für letzteres – speziell für Ost-Berlin – hätte ich mich nicht entschieden, wenn ich es nicht für notwendig und möglich gehalten hätte, die zwischen West und Ost herrschende Ungleichgewichtigkeit und Ungerechtigkeit in dieser Stadt zu verändern.

Ich habe starke Verbündete auch aus dem Bereich der Sozialarbeit gewonnen, zum Beispiel den damaligen Rektor der Fachhochschule für Sozialarbeit, Reinhart Wolff, einen langjährigen Freund noch aus den guten Zeiten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Und gemeinsam waren wir dann maßgeblich daran beteiligt, daß die Mittel für den geplanten Neubau dieser Fachhochschule nicht im Westen, sondern hier im Osten Berlins, in Hellersdorf, ausgegeben werden. Und was ist passiert? Die Mehrzahl auch der Altlinken haben aufgeschrien ,,Hilfe, wir wollen nicht in den Osten!“ – was so ungefähr klang wie: ,,Wir wollen nicht zu den Schwarzen!“.

Ich finde es aber sehr gut, daß sie jetzt dort hinkommen, auch im Sinne des An-den-sozialen-Ort-der-Menschen-Gehens: dorthin gehen, wo es brennt und dort Perspektiven entwickeln.

Und was die Psychoanalyse betrifft, ich bin der Meinung, daß es auch West-Kollegen geben muß, die nicht sagen ,,Kommt zu uns in den Westen an unseren Hof, wir zeigen Euch, was richtige Psychoanalyse ist“, sondern die in den Osten gehen und das, was hier nach den eigenen Bedingungen gewachsen ist und wächst, mit ihrem Fachwissen unterstützen. Und mir selber hat die Weiterbildungsarbeit und meine Supervisionstätigkeit hier außerordentlich gut getan, um meine eigenen Konzepte besser zu verstehen und zu entwickeln.

Es ist mir zum Beispiel hier in diesem Team von engagierten Mitarbeitern aus Ost und West noch klarer geworden, wie wichtig es ist, daß Psychoanalytiker sich entghettoisieren und ,,entkirchlichen“ von ihren therapeutischen Gesellschaften und daß sie tatsächlich kreative Arbeitsgemeinschaften mit Sozialarbeitern und Pädagogen entwickeln.

Ich glaube auch, daß es in diesem Sinne wichtig wäre, daß mehr Psychoanalytiker nicht vorrangig von klassischen Analysen leben, sondern intensiver in sozialen Organisationen mitarbeiten. In solchen Organisationen hätten sie eine wichtige Multiplikatorenfunktion. Und wenn die Arbeit der Analytiker – sagen wir zur Hälfte – jenseits der Couch stattfinden würde, würde auch die Arbeit auf der Couch davon profitieren.

A.P.: Glauben Sie, daß Psychoanalyse und Tiefenpsychologie für diese deutsche Gesellschaft eine größere Bedeutung bekommen können? Daß deren Erkenntnisse in mehr gesellschaftliche Bereiche hineinwirken können, zum Beispiel auch in die Erforschung der Ursachen für Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit?

Becker: Ich bin fest davon überzeugt, daß Möglichkeiten dafür bestehen. Ich glaube, daß durch die Teilung der Deutschen die Trauer über den Faschismus eingemauert war und daß der Versuch der Westdeutschen, aus den Ostdeutschen das einzige deutsche Volk mit einer Niederlage zu machen, eine neue Einmauerungsstrategie darstellt. Und gegen diese Strategie muß man ankämpfen, um überhaupt Trauerprozesse in Gang zu bringen, die wiederum Voraussetzung dafür wären, daß eine Fragestellung wie die nach beschädigter Kindheit als Grundlage für rechtsradikales Verhalten möglich wird.

Man wird auch die Deutschen von ihrem Alptraum nicht heilen können, aber man kann ihnen helfen, damit umzugehen.

Ich glaube, daß es wichtig ist, daß jeder in seinem Nahbereich damit anfängt – und für mich ist das eben eher Ost-Berlin als West-Berlin. Aber es gibt ja nicht nur Probleme und Unrecht zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. Und aus diesem Grunde glaube ich, daß wir die unterschiedlichen Ethnien, die allein schon in Berlin zusammenleben, viel mehr reflektieren müssen, um so die sich darin spiegelnden Weltbezüge zu begreifen. Das wird ganz plastisch und erlebbar, wenn in mit uns kooperierenden Heimen oder Tagesstätten nicht nur deutsche Kinder aus Ost und West, sondern auch beispielsweise polnische, türkische und angolanische Kinder gemeinsam betreut werden. Da stoßen ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander, die viel voneinander lernen können.

 

 

Frühere Veröffentlichung in ICH – die Psychozeitung 4/1994.