“Ich bin Deutsche.” Ein Brief

Ich bin in diesem Land geboren. Ich bin voller haßerfüllter Wut.

Manchmal spüre ich diese Wut, sie scheint unendlich zu sein.

Sie richtet sich gegen die, die alles Lebendige in mir abgetötet haben, gegen die Schule, Eltern, die Mächtigen, gegenüber denen ich so machtlos bin. Allzuoft richtet sie sich jedoch gegen mich selbst oder gegen andere, die mir in die Quere kommen.

Ich bin zu Pflichtbewußtsein und Gehorsam erzogen worden. Rationales Denken, Erklärungen sind wichtiger als Gefühl, hab ich gelernt. Gefühle sind doch einfach lächerlich – oder?

Ich habe lange gebraucht, ehe ich diese Wut in mir sehen konnte. Und noch immer äußert sie sich versteckt. Ich habe Angst vor meinen Aggressionen. Ich ducke mich vor Autoritäten, ich mache zu oft nur einfach mit, sagen zu selten NEIN. Ich nehme mich oft nicht ernst. Und ich werde schuldig damit, denn ich bin jetzt alt genug und für mich selbst verantwortlich.

Ich muß Gefühle verdrängen, damit ich die Welt aushalte. Doch in den letzten Jahren funktioniert das Verdrängen nicht mehr so gut.

Mein Freund und ich haben seit 3 Jahren ein Grundstück im Norden von Berlin, das wir im umgebauten Bauwagen bewohnen, da wir nicht so viel Geld zum Hausbau haben. Das Grundstück liegt etwas abseits, wunderschön in der Landschaft mit viel Himmel. Es steht kein Haus mehr dort, nur ein paar Ruinen. Die Natur hat es sich zurückerobert.

Auf dem Grundstück wurde von der DDR-Landwirtschaft Dünger gelagert, er hat das Trinkwasser verseucht. Überall ist Müll abgekippt worden. Die Strommasten stehen schon lange nicht mehr.

Inzwischen sind Brennesseln gewachsen, die den Boden reinigen, wir lassen sie deshalb größtenteils stehen, auch wenn es schwer zu ertragen ist, weil es nicht so ,,schön ordentlich“ aussieht. Wir haben versucht aufzuräumen, jeder Spatenstich fördert Schrott zutage. Es ist nicht einfach und es geht so langsam vorwärts.

Es war oft nicht leicht auszuhalten für mich dort, wenn ich aus Berlin kam: die Ruhe, die Einsamkeit, das Alleinsein, die Einfachheit und das mühsame Wasserholen oder Feuermachen.

Dann habe ich gemerkt, es ist dieses einfache DASEIN, was mich so beunruhigt. Die Natur ist einfach nur. Nichts weiter. Keine Leistung, kein Schaffen. Das war schmerzhaft. Mußte ich nicht immer etwas leisten, um jemand zu sein?

Und mit einem Mal wurde ich kreativ, ohne Druck, sah so viel Dinge, die ich vorher nicht gesehen hatte. Ich versuchte zu pendeln zwischen Kultur und Natur, zwischen Stadt und Land, denn noch studiere ich in Berlin.

In den letzten drei Jahren ist viel gewachsen, ,,Nutz“-pflanzen und ,,Un“-kräuter, Freundschaften, zwei Bauwagen von Freunden sind dazugekommen. Ringsum haben sich Gleichgesinnte angesiedelt, die andere Lebensformen suchen. Wir leben in der Natur, spüren die Verbundenheit mit Singvögeln, den Spatzen, den Wildkatzen, Rehen, Mäusen – es war fast das Paradies.

Ich sage war – es gibt kein Paradies. Auf dieser Welt nicht mehr.

Als das erste Mal eingebrochen wurde, Ferngläser gestohlen wurden, dachte ich mir noch nicht viel. Nur daß der Briefkasten abgerissen war, versetzte mir plötzlich Übelkeit. Ich spürte das Unheil, doch ich ließ mich beruhigen.

Vor einer Woche wurden alle drei Bauwagen völlig verwüstet, Fenster von innen mit Stühlen herausgeschlagen, Türen aufgebrochen, Kürbisse aufgespießt, das Bett zerhackt, über alles Streichhölzer und Kakao gestreut… mit Wonne und mit wahnsinnigem Haß.

Ich dachte, wir hätten keine Feinde. Wir sind doch einfach nur da – nichts weiter.

Am Wochenende sind sie wiedergekommen. Letzte Nacht ist der Bauwagen unserer Freunde abgebrannt. Wir haben sie gesehen, aber nicht fassen können. Sie waren gut vorbereitet. Sie trugen Springerstiefel und Tarnkleidung. Sie kamen leise, mit getarnten Fahrzeugen – blitzschnell, gut trainiert und organisiert.

Als ich anfing zu sehen, war es schon zu spät. Wir wollten es alle nicht wahrhaben. Das kann doch nicht sein. Das ist doch wie Krieg! Ich war lange leise, habe geschwiegen. Jetzt schreie ich!

NEIN!

Ich bin keine Märtyrerin. Ich spüre wieder diese wahnsinnige, haßerfüllte Wut. Wir schaffen es nicht allein. Wer zusieht, schweigt, macht sich mitschuldig. Ich bin Deutsche, in diesem Land geboren. Ich bin nicht die einzige.

Christiane Böhme, Berlin

 

 

aus ICH 1/ 95