Heilen ohne Feindbild

von Hans-Jürgen Achtzehn 

Unser gesamtes Denken und Lernen resultiert aus einem abendländischen und somit analytischen (=zergliedernden) Verständnis. Im Altertum waren die Ärzte noch Gelehrte mit einer umfassenden Bildung von Philosophie, Astronomie, Religion, Mathematik und Naturwissen. Durch die Frage nach der Kausalität, d. h. die Suche nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, war man bald gezwungen, diese ganzheitliche Schau zugunsten einer genaueren Aussagefähigkeit aufzugeben.

Zum Beispiel: In einem Dorf wird ein Mann von herabstürzenden Trümmern eines Hausdaches erschlagen. War man sich vorher sicher, daß dieses Ereignis etwas mit der Beziehung dieses Mannes zu den Hausbewohnern sowie anderen Faktoren im Ort und im Leben dieses Menschen zu tun haben muß, so entdeckte man nun, daß das von Holzwürmern zerfressene Gebälk die alleinige Ursache ist. Letztlich hatten also die Holzwürmer Schuld und der Hausbesitzer konnte bestenfalls wegen Vernachlässigung seiner Sorgfaltspflicht belangt werden, hatte aber selbst keinen Bezug zum Opfer.

Die Betrachtungsweise wurde somit von innen nach außen verlagert. Nun war es außerdem möglich, diese Vorgänge zu beweisen, indem man jederzeit die vermeintlich auslösenden Faktoren nachvollziehen konnte – z. B. indem man bewies, daß Holzwürmer ein Balkengerüst zum Einsturz bringen können. Diese Beweisführungsfähigkeit war vorher durch die Komplexität der vielen ineinandergreifenden Vorgänge nicht möglich, da sie sich derart nicht wieder reproduzieren ließen. Allerdings stellte sich bald heraus, daß diese Art der Betrachtung lediglich statisch, d.h. tot bzw. auf das angeblich Wesentlichste reduziert war. So wurden Naturgesetze aufgestellt, die im Laborversuch ihren Beweis fanden, aber in der Realität sich dann doch nicht auf Dauer als ausreichend erwiesen.

In der Medizin bewegte man sich lange in dieser unsicheren Zone von einerseits genauem Wissen über einzelne Funktionen und andererseits der mangelnden direkten Umsetzbarkeit auf ein Lebewesen, dem Menschen. Erst ziemlich spät, im Verhältnis zu anderen Wissenschaften, gelang es der Medizin, die unsicheren, ungenauen Faktoren einer ganzheitlichen Betrachtung abzulegen. Dieser große Schritt wurde letztendlich erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts getan, als man glaubte, die Ursache für alle Krankheiten in Form von winzigen Erregern gefunden zu haben. Spätestens seit dieser Zeit ist das Hauptaugenmerk in der Medizin allein auf dieses – falsche – Kausal-Denken fixiert. Findet man keine Erreger (Bakterien, Viren usw.) so sucht man nach Autoimmunkomplexen oder nach erblichen Belastungen, die sich in veränderten Gen-Strukturen beweisen lassen. Auf alle Fälle muß es ein Faktor sein, der von außen kommt, d.h. für den der Mensch in seiner jetzigen Position gar nicht oder nur bedingt – z. B. durch falsche Lebensführung – verantwortlich ist. Dieses Feindbild mit der Frage von Schuld und Unschuld, von Opfer und Täter, zieht sich durch das gesamte medizinische Denken.

Aber nicht nur hier begegnen wir dieser Vorstellungsweise. In allen Wissenschaftsbereichen und auch im täglichen Leben hat sich diese Betrachtungsweise durchgesetzt. So ist es verständlich, wenn andere die Grenzen und Unzulänglichkeiten dieses Systems schon längst erkannt haben, ohne seine Vorteile zu ignorieren. Die Physik war eine der Ersten, die einen sogenannten Paradigmenwechsel vollzogen hat, indem sie von der Betrachtungweise der toten Materie – Molekül – Atom – Neutron – Quark abwich und versuchte, über die Relativitäts- und Quantentheorie zur Chaosforschung wieder Zugang zum Lebendigen und Ganzheitlichen zu bekommen.

In der östlichen Philosophie hingegen hat es diese Aufspaltung zwischen den einzelnen Wesenheiten oder Elementen nie gegeben.

Es ist immer alles als eine Ganzheit betrachtet worden, als ein Gewebe von Zusammenhängen im Universum. D.h., daß nichts passieren kann, ohne das etwas anderes beeinflußt wird. Dieses Denken, daß sich zur gleichen Zeit überall alles gegenseitig beeinflußt, hat dazu geführt, daß im Bereich der östlichen Medizin (chinesische Medizin, Aryuveda usw.) die Ganzheitlichkeit erhalten blieb.

Ich möchte nun versuchen, verschiedene Therapieformen gegenüberzustellen, damit es leichter möglich ist, die Unterschiede in Form ihrer Grenzen und Möglichkeiten zu erkennen.

Östliche Medizin am Beispiel der chinesischen Medizin:

In der chinesischen Medizin gibt es ein funktionelles Verständnis. D. h., alles was in und am Menschen geschieht, bezieht sich auf ein ganzes System. Wenn chinesische Mediziner versuchen, die Atmung zu beschreiben, dann meinen sie nicht nur die funktionellen Lungen, sondern gleichzeitig alles was an und um uns atmet. Sie verknüpfen die einzelnen Vorgänge in das System von Ying und Yang und dieses wiederum in die Betrachtungsweise der Fünf-Elementelehre. Träger dieser Kräfte ist das Chi. Chi ist die Lebensenergie, die Energie überhaupt, die alles am Leben erhält, ihr Sitz ist beim Menschen in den Nieren.

Zu der chinesischen Medizin gehört unter anderem die Akupunktur. Sie ist ein Teil der gesamten Medizin und nur begrenzt von ihr getrennt anwendbar. Im Westen hat es Versuche gegeben, die Akupunktur ohne ihr ursprüngliches Verständnis am Kranken anzuwenden. Die großen Erfolge, die im Osten damit vollbracht wurden, konnten hier nie nachvollzogen werden. Da man ferner die Wirkungsweise der Akupunktur nie befriedigend erklären konnte, kam man zu der Annahme, daß die Erfolge allein auf eine Art kultureller Suggestion zustande kommen, ohne zu begreifen, daß man einzelne Verfahren aus einer ganzheitlichen Therapie nur bedingt heraustrennen kann.

Krankheit resultiert also aus einer Schwächung des Chi, was zu einem Ungleichgewicht zwischen den oben erwähnten Kräften führt, die zum einen im Menschen selbst und zum anderen auch außerhalb von ihm walten.

Die Therapie richtet sich folglich darauf aus, das Chi zu stärken und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Allerdings ist es kaum möglich, Chi wieder zuzuführen. Das bedeutet, daß bei schweren oder tödlichen Krankheiten, in denen das Chi gravierend geschwächt oder aber kaum noch vorhanden ist, die Künste des Arztes versagen. Der Arzt versteht sich somit nicht als Heiler, sondern als ein Weiser, der um die Verhältnisse, um das Muster im Universum und im Menschen weiß, der weiß, wie diese Muster zusammenarbeiten und der sich selbst in der Rolle des Katalysators sieht, der den Selbstheilungsprozeß im Menschen vorantreibt.

Abendländische Medizin am Beispiel der Human- oder Schulmedizin

In der westlichen Medizin kam man, wie erwähnt, durch die Betrachtung von Ursache und Wirkung und durch die Entdeckung kleinster Lebewesen zu der Erkenntnis, daß Krankheiten von außen in den Körper eindringen. Somit entstand ein Feindbild, dem der Mensch je nach Abwehrstärke ausgeliefert ist. Er ist Opfer, eigentlich nie Täter, es existiert keine oder nur eine begrenzte Wechselwirkung zwischen ihm und dem, was ihn krank macht. ,,Was kann ich dafür, daß diese Bakterien mich krank gemacht haben?“ Die Frage von Schuld und Unschuld steht im Zentrum. Selbst in der Psychoanalyse sind es die Eltern, die umgebende Gruppe oder die Gesellschaft, die Schuld ist an einer Krankheit. Die großen Erfolge die zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit dieser Betrachtungsweise und den daraus resultierenden zahlreichen Entdeckungen im Bereich der Zellularpathologie und der Bakteriologie gemacht wurden, führt die Medizin noch immer auf, um auch in den Bereichen diese Sichtweise anzuwenden, in denen sie aber letztendlich versagt.

Krankheit resultiert somit aus einem Angriff von außen, der nur deswegen Erfolg hat, weil die Abwehr geschwächt ist. Das trifft auch bei Autoimmunprozessen zu, wobei lediglich der Kranke selbst sein eigener Feind ist.

Die Therapie richtet sich demnach hauptsächlich gegen diesen Feind. Erreger versucht man zu töten, Vater und Mutter werden besiegt, Gene werden manipuliert usw. Hat man den Feind vernichtet, verschwinden die von ihm erzeugten Symptome und die Krankheit gilt als geheilt. Mit einer später auftretenden Krankheit, die ihren Sitz an einem anderen Organ hat oder auf einem anderen Feind basiert, sieht man keinen direkten Zusammenhang. Erfolge werden vor allem dort erzielt, wo es möglich ist, den Feind genau zu bestimmen und wo man die ,,Waffen“ hat, ihn zu besiegen. Bei den meisten chronischen Krankheiten, bei denen keine genaue Feindbestimmung möglich ist, wo die Erkrankungsmöglichkeiten einer großen Komplexität unterliegen oder wo keine ,,Waffen“ existieren, muß das therapeutische Ergebnis zwangsläufig unzufrieden bleiben, bzw. ist eine Heilung nicht möglich.

Der Arzt versteht sich somit als ,,Polizist“, als Reparateur und insofern als Heiler, indem er den Feind besiegt und den Kranken vom Symptom befreit. Es gibt keinen direkten Bezug zwischen ihm und dem Patient, er bleibt genauso ein Fremder wie der Erreger. Er ist Macher, nicht Helfer oder Begleiter, und wenn er den Feind nicht besiegen kann, so sieht er die Schwäche bei sich. In dem Maße wie der westliche Patient jegliche Verantwortung für seine Krankheit ablehnt, in dem Maße übernimmt der Arzt die Berechtigung, fremdbestimmt an ihm handeln zu dürfen. Daher ist er auch sehr erbost, wenn ein Patient nicht seinen Anweisungen folgt, denn er fürchtet zu Recht, daß bei Nichtbeachtung seiner Therapie die Krankheit schlimmer wird und seine Macht über den Feind schwindet, was dann eine Niederlage für ihn – nicht für den Patienten! – bedeuten kann. 

Homöopathie 

Die Homöopathie zählt zu den wenigen westlichen ganzheitlichen Heilweisen. Dabei möchte ich jetzt nicht auf die wichtige Theorie des Ähnlichkeitsgesetzes oder der Arzneipotenzierungen eingehen, sondern aufzeigen, wodurch sie diesem Anspruch gerecht wird.

Im Verständnis der Homöopathie hat Krankheit hat ihre Ursache in einer Störung der Lebensenergie. Die Symptome – körperliche, geistige wie psychische – sind lediglich Ausdruck dieser Störung und dienen dem Arzt zur Findung der richtigen Arznei, sie sind niemals die Krankheit selbst. Auch wenn wir einen Erreger entdecken, so bleibt immer noch die Frage offen, warum

dieser krankheitserregend wirken konnte, bzw. warum das Immumsystem so geschwächt war. D.h. die Frage nach einer Kausa (Ursache) wird noch weiter vorverlegt und ist immer im Bereich der gestörten Lebensenergie zu suchen In der Therapie wird ebenfalls ausschließlich versucht, diese Lebensenergie zu beeinflusse Da es sich um eine Energie-Form handelt, werden auch nur die energetischen Anteile einer Arznei zur Anwendung gebracht. Eine Heilung gilt erst dann als erfolgreich, wenn die Lebensenergie wieder in ihrer für jeden Menschen individuellen Ordnung ist, was sich nicht nur im Verschwinden von körperlichen Symptomen widerspiegelt, sondern auch seinen Ausdruck im psychischen Bereich, in Form einer Weiterentwicklung, kundtut.

Der Arzt (Homöopath) versteht sich somit als jemand, der die energetische Störung erkennen kann, und somit durch die Wahl des richtigen Arzneimittels den Selbstheilungskräften Hilfestellung zur Lösung dieser Störung gibt. Er ist in jedem Fall auf die Mithilfe des Patienten angewiesen und steht mit ihm in Beziehung, da sonst die Krankheit nach zeitweiligem Ausbleiben der Symptome in gleicher oder anderer Form wiederkehren würde. Dabei ist es wichtig zu wissen, daß jede Krankheit einen Sinn hat. Dieser liegt allgemein darin, daß es dem Patienten aus verschiedenen Gründen nicht möglich war, diesen anstehenden Lebensschritt aus eigener Kraft und Gesundheit zu tun, sondern daß er die Krankheit als Ruf um Hilfe benutzen mußte.

Summationstherapien 

In verschiedenen medizinischen Bereichen hat man bereits erkannt, daß eine Krankheit nicht allein auf ein Verursacherprinzip zurückzuführen ist. Angeregt durch die Erkenntnisse aus dem Bereich der Psychoanalyse, sah man gewisse Zusammenhänge zwischen organischen Krankheiten und psychischen Verhaltensmustern. Darauf entwickelte man die Therapieform der Psychosomatik. Hier wird zumindest der Tatsache Rechnung getragen, daß es eine Verbindung von Körper und Psyche gibt, aber der geistig-energetische Anteil wird noch ausgeklammert. Als Ursache sucht man darum auch wieder den Schuldigen in einem der bekannten Bereiche und schiebt den ,,Schwarzen Peter“ hin und her. Entweder ist die Psyche schuld an einem körperliche Leiden oder umgekehrt. Die Sinnhaftigkeit einer Krankheit bleibt begrenzt, daß man annimmt, daß dieses Wechselspiel sozusagen ,,Spuren“ hinterläßt. Trotzdem steht diese Therapieform nur im Grenzbereich zu den Summationstherapien, da sie wenigstens noch ein eigenes Konzept besitzt und nicht nur eine einfache Addition zweier getrennter Therapien ist.

Es gibt aber darüberhinaus viele Therapien, die sich selbst als ganzheitlich verstehen, aber beim genaueren Hinsehen lediglich Anhäufungen von verschiedenen Einzeltherapien darstellen. So addiert man z. B. zu einer medikamentösen Therapie (gegen den Erreger, z. B. Antibiotika) eine diätetische (gegen falsche Verhaltensweisen, z. B. Verhaltenstherapie) und eine meditative (gegen den unruhigen Geist, z. B. autogenes Training) hinzu und glaubt nun mit der Summe aller Einzelteile die Gesamtheit des Menschen erfaßt zu haben. Die Krankheit besteht also aus einzelnen, sich ergänzenden oder überschneidenden Einzelerkrankungen. Der Arzt soll bemüht sein, diese Einzelerkrankungen genau zu diagnostizieren, und die jeweilige Therapie oder den dafür geeigneten Spezialisten zu finden. Der für mich einzige erkennbare Vorteil eines solchen Krankheits- und Menschenverständnisses liegt darin, daß es möglich ist, mit dieser Vielzahl an verschiedenen Therapien, bei Krankheiten, die durch keine andere Therapieform bisher befriedigend erreicht worden sind, eine Linderung oder Lebensverlängerung zu erreichen. Selten wird daraus Heilung resultieren. 

Bedingungen für ganzheitliche Heilweisen 

– Ein eigenes Verständnis vom Menschen, seines Wesens, seiner Ziele und Aufgaben und somit ein eigenes Weltbild.

– Anerkennung ,,energetischer Prozesse“ (z. B. Gott)

– Sinnhaftigkeit in der Krankheit (z. B. verpaßte Entwicklungsschritte)

– Krankheit als Störung im ,,lebensenergetischen Bereich“ (es gibt dafür viel Ausdrücke, z. B. Lebensenergie, Seele, Ätherleib usw.)

– Therapie nicht als Ausdruck eines Kampfes gegen den Tod und somit Einbeziehung eines Verständnisses von Leben und Tod

– Heilung als Entwicklung, nicht als Symptombeseitigung

– Patient und Behandler müssen eine Beziehung eingehen

– Behandelbarkeit (Heilung!) des größten Teils aller Krankheiten. Die Begrenzung liegt in dem für die jeweilige ganzheitliche Heilweise typischen Standort; von wo aus sie einen Prozeß betrachtet.

Als wesentliche Begrenzung der ganzheitlichen Heilweisen gilt im Allgemeinen die mangelnde Fähigkeit, punktuell schnell eingreifen zu können (z. B. Notfallmedizin; sicher verfügt auch jede dieser Heilweisen über Möglichkeiten, rasch Hilfe leisten zu können, doch aus meiner Erfahrung heraus sind damit zu viele Unsicherheitsfaktoren verknüpft, die in einer solchen Situation eher störend wirken. Natürlich ist andererseits auch völlig klar, das diese Notsituation nur einen geringen Teil an der gesamten Medizin ausmachen.)

Fazit 

Nach dem oben Ausgeführten sollte es eigentlich recht nahe liegen, daß die Verantwortlichen im Bereich der Medizin und die Patienten eine Vielzahl von Möglichkeiten des Helfens oder Heilens anerkennen. D.h., daß es nirgendwo auf der Welt nur eine Form der Hilfe für kranke Menschen gibt. Vielmehr erscheint es notwendig, nebeneinander zu arbeiten, wobei keine dieser Heilweisen (oder ihre Behandler – Ärzte, Heilpraktiker) lediglich zu einer Zusatz- oder Hilfstherapie degradiert werden darf. Es erscheint mir eher erforderlich, daß die einzelnen Therapeuten in diesen Bereichen, ihre eigenen individuellen Grenzen und die ihrer Therapieform erkennen, ohne sich dessen schämen zu müssen, mit einem sicheren Gefühl (ohne sich strafbar zu machen; Ärztekammer!) und ruhigem Gewissen auch Patienten weiterleiten können.

 

 

Dieser Beitrag entstand nach einem Vortrag, der im Rahmen einer Veranstaltung des ich e.V. zur ganzheitlichen Medizin am 19.5.91 in Berlin (Ost) gehalten wurde.

 

 

aus ICH 3/ 91