Dorothee Sölle, befragt von Tanja Braumann
T.B.: Ich bin religionsfeindlich aber sozialismusgläubig aufgewachsen. Inzwischen habe ich zwar einiges gelernt, habe aber immer noch Probleme mit dem Gottesbegriff. Ich weiß inzwischen, daß Gott – auch für Sie – kein Mann ist, der in den Wolken wohnt. Am ehesten ist es wohl das, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, der Naturzusammenhang, vielleicht der Große Geist. Trotzdem neige ich immer wieder dazu, Gott zu personifizieren. Ich bin einfach sauer (auf den Mann), wenn ich zum Beispiel in der Bibel, bei Jesaja lese: »Soll ich den mütterlichen Schoß öffnen … oder soll ich ihn verschließen? Denn ich bin es, der gebären macht, spricht dein Gott.«
Sölle: Interessant, daß Sie ausgerechnet dieses Beispiel nehmen. Ich habe mich nämlich auch gerade etwas damit beschäftigt. In den ältesten Teilen der Bibel spielt das eine ungeheure Rolle, daß die Frauen der Urväter – also Sahra, Rebecca, Rachel – alle keine Kinder bekamen. Unfruchtbarkeit wurde als ein Fluch empfunden und war eine soziale Demütigung erster Ordnung für Frauen. Es war eigentlich das Furchtbarste, was einer passieren konnte.
Es gibt eine Geschichte, da kommt Rachel zu Jacob und sagt: »Schaff mir Kinder, sonst sterbe ich!«. Und da sagt er: »Ja bin ich’s denn schuld? Ist es nicht Gott, der die Gebärmutter aufschließt und zuschließt?« Also die Quelle des Lebens ist nicht in unsrer Hand. Das wird damit gesagt, und das finde ich vollkommen richtig. Die religiöse Vorstellung ist tatsächlich die: Gott schließt die Gebärmutter auf.
Ich habe mich gerade mit einer marxistischen Freundin auseinandergesetzt, die von der Produktion und Reproduktion des Lebens sprach. Und ich habe gesagt, ich kann solche Wörter nicht hören! Wir produzieren das Leben nicht, schmeiß diese Sprache raus, die ist tödlich! Das liefert uns an die Gentechnologen und an alle möglichen Idioten aus, die ja in der Tat der Meinung sind, sie könnten den Menschen zusammenclonen, und zwar morgen. Das ist alles in unserer Hand. Wir machen ja alles!
Die Wahl ist nicht „Gott oder kein Gott“ sondern: Gott oder diese Wissenschaftsgötzen. Also – ist der Ursprung des Lebens in unserer Hand, in der Hand wissenschaftlich geschulter Männer oder gibt´s darüber hinaus noch was anderes, was wirklich das Leben schützt? So verstehe ich, daß Gott die Gebärmutter aufschließt und zuschließt. Ich finde auch, das Erlebnis der Geburt ist ja ein überwältigendes Erlebnis, etwas, das mit Dankbarkeit oder Ehrfurcht einhergeht – für mein Gefühl jedenfalls. Ich hab ja da nicht einfach was gemacht – da gehen doch eher Machen und Beschenktwerden zusammen, also Aktivität und Passivität sind eins, und die klassische Trennung von Handeln und Behandeltwerden fällt weg.
Das finde ich eigentlich das Schönste daran: Das Geschenk des Lebens. Das Leben ist nicht wie eine kaufbare oder produzierbare Sache da, sondern vor uns, neben uns, nach uns – so Gott will. Es ist nicht vollständig in unserer Hand. Darauf will ich eigentlich hinaus, dogmatisch gesprochen auf den Schöpfer. Alles was da ist, muß irgendwo herkommen, und dieses Irgenwoherkommen ist verbunden mit Güte und Liebe. Ich meine, es ist nicht so, wie manche Philosophen denken, daß sich irgendwann mit dem Urknall da sowas zufällig losgemacht hat, und das vergeht genauso sinnlos wieder. Das ist ein absoluter Zufallsglauben, der für mich mit viel Nihilismus verbunden ist, während die meisten Religionen meinen, das Leben ist ein geliebtes, erwartetes Kind, etwas Gutes.
Das drückt sich in der Bibel so aus, daß Gott in der Schöpfungsgeschichte jeden Tag sagt: »Es war gut« und am letzten Tag »Es war sehr gut«. Das »gut« kann man auch mit »schön« übersetzen, es war »tow« – »gut und schön«. Das ist die Perspektive von Schöpfung, und ich finde es wichtig, die zu lernen, um überhaupt Ehrfurcht vor dem Leben zu haben.
T.B.: Ein großes »Ja« und ein kleines »Aber«: Manchmal werde ich angesichts solcher Wahrheiten und ethischer Prinzipien unruhig, denn ich lebe jetzt und hier in der Welt von Lüge, Macht, Gewalt und Lebenszerstörung. Und in dieser Realität, vielleicht als Kompromiß, stimmt für mich auch der Satz der Frauenbewegung »Mein Bauch gehört mir!«.
Sölle: Ich empfinde da auch einen Konflikt. Eine liberale Gesetzgebung, die ich befürworte – das kann niemand anders entscheiden als die Frau selber – halte ich für juristisch richtig. Das heißt aber nicht, daß ich nicht ethisch jeder Frau in dieser Situation sage: »Ach, kriegs doch. Ich helf Dir auch, oder gibs mir oder tu was anderes aber nicht das« – eben weil es ein Geschenk ist. Ich meine, die gesellschaftliche Situation, in der wir uns allmählich befinden ist so krank! In denselben Kliniken werden etwa genau so viele Kinder abgetrieben, wie zugleich mit allen Mitteln künstlich gezeugt werden.
Vor einiger Zeit las ich in der Zeitung, nun sei es gelungen, die »schreckliche« Schranke der Menopause zu überwinden – die über 50-jährigen dürfen nun auch noch schwanger werden! Das ist ja so ein Symbol dafür wie krank das ist: Alles muß jederzeit möglich sein, und wir sind Herren von allem! Also, dieser Allmachtswahn – damit bricht Religion. Das ist das Mindeste: Tod und Leben sind nicht allein in unserer Hand.
Ich kann verstehen, wenn die Konservativen sagen: »Wer Pazifistin ist, muß auch gegen die Abtreibung sein«, weil man das Leben nicht teilweise lieben kann. Und ich bin gegen die Abtreibung, ich möchte, daß die Zahlen runtergehen. Aber mir ist klar, durch Kriminalisierung passiert das nicht; das ist die idiotischste Maßnahme, die man treffen kann.
T.B.: So gesehen bin ich auch dagegen. Wobei ich andererseits im Augenblick, so wie die Verhältnisse jetzt sind, im Interesse der Liebe auch für Abtreibung bin, weil – ich weiß nicht, ob das nicht noch mehr Haß, Zerstörung und Gewalt produziert, wenn Kinder ungeliebt auf die Welt kommen, und es kommen sehr viele Kinder ungeliebt. Das ist ja ein Problem der Liebesfähigkeit der Eltern. Wie haben wir Liebe erfahren, »gelernt«, wie willkommen waren wir in sterilen Kliniken, bei mit allem Möglichen beschäftigten Eltern, in Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen mit »Erziehungszielen«, die schon fast nichts mehr mit unseren ursprünglichen kindlichen Bedürfnissen zu tun hatten?
Sölle: Was für mich auch Gott bedeutet: Gott traut uns die Liebe zu. Gott vertraut uns die Liebe an. Das ist eigentlich, wozu wir auf der Welt sind: Liebesfähig zu werden, das ist das Ziel des menschlichen Lebens. Und das ist nicht eine völlig utopische Aufgabe, wie einige behaupten. Das ist ja eine der tiefsten Kritiken am Christentum, daß es eine Überforderung des Menschen sei, weil wir eh nicht fähig seien zu lieben. Während das Christentum eigentlich sehr optimistisch darin ist und sagt: Doch, du bist ein Sohn, eine Tochter des Höchsten. Für dich ist der Himmel da. Im Paradies warst du auch schon mal und da kommst du auch wieder rein. Alles ist möglich dem, der da glaubt. Ihr seid zur Freiheit berufen, Ihr seid zur Liebe berufen … Das ist so der Grundtenor: Die Liebe ist nicht etwas Unmögliches, sondern es ist eine Erfahrung, auf der das Leben beruht und etwas, in das wir hineinwachsen können.
Ich denke, man soll sich nicht von einem falschen Determinismus leiten lassen: Weil ich nicht richtig geliebt, nicht richtig gestillt, genährt. geboren oder gewickelt wurde, bin ich lebenslänglich zur Nicht-Liebe verurteilt.
Es gibt so eine Pop-Psychologie, die ich wirklich für äußerst gefährlich halte, in der ich meine gegenwartigen Probleme immer rückprojiziere in meine schrecklichen Eltern und mich dann damit entschulde, und aus dem wirklichen Lebenszusammenhang herausnehme. Gott traut mir die Liebe zu, und das passiert ja doch auch in jeder realen Beziehung. Wenn mich jemand liebt, dann traut er mir auch die Liebe zu, erwartet die Liebe, nimmt an, daß ich den anderen Menschen als – also die psychologische Sprache ist genauso tödlich wie die technokratische: als »Liebesobjekt« würde man jetzt sagen; ich finde das so schrecklich! Ich kann mich so kaum ausdrücken! – jedenfalls das ich ihn als ein Geschenk Gottes annehme, und auch, daß ich annehme, wie er oder sie ist und auch werden kann..
Die Bejahung des Lebens setzt eigentlich voraus, daß wir einander die Liebe zutrauen. Die Alternative dazu ist der Tod, und zwar der Tod, bei dem man noch etwas länger auf zwei Beinen rumlaufen kann, der aber trotzdem schon jetzt der Tod ist. Es gibt keine Neutralität dazwischen. Die Liebe ist eigentlich die einzige Chance der Menschen.
T.B.: Aber dieses Zutrauen klingt sehr passiv. Kann ich nicht auch etwas für meine Hoffnung tun?
Sölle: Ja, deswegen hat die jüdische und auch die christliche Tradition diese Forderung gestellt. Ich meine, es ist ja an sich verrückt zu sagen: »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst!« – denn Liebe ist angeblich was ganz Spontanes. Wie kommen die Kerle darauf, das zu befehlen? Also Befehle sind sinnvoll beim Nein: »Du sollst nicht töten!« das kann man ja noch verstehen, »Du sollst nicht stehlen!«, aber »Du sollst lieben!« ist ja schon sehr viel verlangt. Aber damit ist schon gemeint, daß das etwas ist, was Du kannst, was möglich ist, was im Bereich Deiner Möglichkeiten liegt, das Leben zu teilen.
Es gibt ein sehr schönes Wort von Martin Buber. Das ist dem Auftakt der Bibel nachgebildet: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Und Buber sagt: »Im Anfang war die Beziehung.« Das Allererste, also das onthologisch Erste ist, daß wir als Menschen aufeinander bezogen sind. Schon biologisch ist das ja so, daß wir eine unmäßig verlängerte Kindheit haben im Vergleich zu anderen höheren Säugetieren und das weist uns darauf hin, daß für uns am Anfang Beziehung steht und nicht Individuation, daß das Individuum eigentlich eine Kümmerform, eine Abgespaltenheit ist, die dem Leben feindlich gegenübersteht.
In der Frauenbewegung z. B. gibt es ja einen starken Trend dazu, unabhängig zu sein, Abhängigkeiten abzubauen. Natürlich gibt es neurotische Abhängigkeiten. Wie Menschen vom Schnaps so können auch Frauen von Männern abhängig sein, und das ist schrecklich. Es gab so einen amerikanischen Schlager in den 50er Jahren. Da heißt es immer: »Don’t fence me in« also: »Mach keinen Zaun um mich rum, wenn du mich einzäunst, dann bin ich ganz schnell weg«. Das ist ein Sich-Wehren gegen falsche Abhängigkeit, gegen diese Klebrigkeit der Familie, die Übertriebenheit der Beziehung, die Unfähigkeit, etwas allein zu unternehmen – also dieses Man-muß-immer-zusammen-weggehen usw. Das ist natürlich der Tod der Liebe.
Aber ich denke, totale Unabhängigkeit ist gar nicht, was ich will. Das ist ein Männerideal. Das ist das Bild von dem jungen Mann, der – go west – reitet, einsam, immer weiter in die untergehende Sonne, und sich dabei als der Größte vorkommt. Solche Bilder formen ja auch Kulturen, und das Bild dieses Cowboys ist ein Bild der Unabhängigkeit als höchstem Wert, einem Männerwert.
»Im Anfang war die Beziehung«. Was heißt das denn? Daß wir so bezogene Wesen sind, daß wir abhängig voneinander, aufeinander angewiesen sind, einander brauchen und das auch nicht verleugnen sondern stärken und pflegen sollen. Du sollst lieben, denn du kannst es. Du wirst liebesfähig in deinem Leben.
T.B.: Du kannst lieben, das heißt doch erst mal nur: Du hast die Anlage, lieben zu können mitbekommen. Wenn ich mich aber umsehe, sehe ich wenig gelebte Liebe. Jeder Mensch hat die Anlage zum Gehen, aber wenn meine Beine amputiert sind, kann ich nicht laufen. Und in diesem Sinne können viele Menschen nicht lieben.
Sölle: »Wer noch lebt sage nicht niemals« sagte der alte Brecht. Sie können es vielleicht jetzt noch nicht, aber mehr soll man nicht sagen. Man muß an diesem »Du kannst es« festhalten. Auch Menschen, von denen wir denken, daß sie überhaupt keine Liebe in sich haben, werden ja manchmal in kleinen Momenten ihres Lebens plötzlich bewegt zu einer Liebestat.
Es gibt bei Dostojewski eine schöne Geschichte von einer alten Frau, die ein Biest war und dafür in der Hölle saß. Aber ein einziges Mal hatte sie einer Bettlerin ein Zwiebelchen geschenkt, ein kleines Zwiebelchen. Und da kommt der Engel des Lichtes in die Hölle und sagt: »Tja, also, ihr lieben Teufel, ihr müßt sie freigeben, denn sie hat einmal dieses Zwiebelchen verschenkt«, legt das Zwiebelchen auf die Waagschale und es wiegt tatsächlich schwerer als all die Untaten dieser gräßlichen Frau. Und dann kommt der schreckliche Teil der Geschichte: Die Frau ergreift das Zwiebelchen und soll daran aus der Hölle gezogen werden. Auf einmal hängen sich ganz viele andere Menschen an sie und da schreit die Alte: »Nicht doch, das ist mein Zwiebelchen!« und in dem Moment zerreißt es.
Ich wollte die Geschichte erzählen, weil es um die Fähigkeit geht, von sich wegzugehen, das Leben zu teilen – wenn man Liebe mal so beschreiben will -, das Leben nicht als etwas festzuhalten, was ich für mich nur haben will. Ich finde zum Beispiel, die Erziehung zum Teilen ist die einfachste Form der Erziehung zur Liebe. Deswegen ist es so schwierig, in einer Ein-Kind-Gesellschaft überhaupt etwas derartiges zuwege zu bringen. In einem Geschwisterkreis ist es vollkommen natürlich, der Pudding wird geteilt. Da denkt kein Mensch weiter drüber nach, so selbstverständlich ist das. Aber in einer Ein-Kind-Familie ist das ganz anders. Diese Geschwisterlosigkeit als neues Schicksal ist sicher eine Erschwernis der Liebe. Ich denke, daß diese Familienstruktur ungeheuer liebesfeindlich ist. Dieses Arrangement: zwei Erwachsene, ein Kind oder: ein Erwachsener, ein Kind – das muß überwunden werden. Da müssen andere Formen des Miteinander her, Großfamilie, Zusammenleben in mehreren Generationen, gegenseitiges Geben und Nehmen.
Bei manchen ist ja auch die Fähigkeit zu Nehmen ganz verkrüppelt. Die können sich auch gar nicht freuen, wenn man ihnen einen guten Morgen wünscht oder wenn der Liebe Gott ihnen Schneeglöckchen schickt, also – diese Undankbar-keit dem Leben gegenüben Und sie können eben auch nicht geben. Diese beiden Fähigkeiten gehören ganz eng zusammen und gedeihen auch nur miteinander. Wie passiert denn Erziehung zur Liebe? Doch wohl nicht durch Ermahnungen, das wäre ja nun das Letzte.
T.B.: Aber durch fromme Sprüche der Kirche doch wohl offenbar auch nicht.
Sölle: Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, daß wir auf diese »blöden Sprüche« verzichten können. Die Geschichten, die die Kirche erzählt und erzählen sollte, die Geschichten der Bibel, sind ja eigentlich Geschichten von der Liebe, von der Liebe Gottes zu den Menschen, von der Liebe der Menschen zu Gott und der Menschen untereinander. Das sind eigentlich alles Beispielsgeschichten davon, wie Liebe Feindschaft und Gleichgültigkeit überwindet.
Ich habe bei einem russischen Philosophen eine lange Abhandlung darüber gelesen, was seelisch passiert ist, indem man die Religion abschaffte und die Menschen so vereinzelte. Rußland galt früher immer als das Land einer fast unbegrenzten Barmherzigkeit. Es gibt sehr viele Zeugnisse dafür, zum Beispiel die Gefangenentransporte, die während des Zarismus nach Sibirien gingen, wo die Bäuerinnen und Bauern das letzte Stück Brot gegeben haben und hatten selbst nichts. Aber das ist völlig weg. Diese Kultur ist getötet worden. Und ich frage mich, ob das nicht doch damit zusammenhängt, daß es keine Kirche mehr gab, daß da nirgends mehr jemand solche Geschichten erzählte oder solche Lehren verbreitete. Das ist auch eine furchtbare Trivialisierung des Lebens, das dann so reduziert wird auf den Kampf ums Überleben.
T.B.: Ich meine auch nicht, daß man keine Wünsche, Hoffnungen und Träume mehr haben, aussprechen und verbreiten sollte. Ich bin sogar der Meinung, daß sie selbst eine verändernde Kraft besitzen, wenn man/frau sich dessen und seiner/ihrer selbst bewußt ist.
Sölle: Ja, ich glaube schon, daß Beten hilft – dem Beter, der Beterin. Das Beten ist sozusagen die leidenschaftlichste Form des Wünschens. Es ist ein konzentriertes, inniges, unabgelenktes Wünschen, daß sich an die Macht des Lebens selbst richtet. Ich meine damit nicht, daß es zaubert, aber es verändert diejenigen, die beten. Es macht sie bekannt mit ihren Wünschen, macht sie zu Hause darin. Ich hab viel Erfahrung mit gemeinsamem Beten und auch politischem Gottesdienst. Diese politischen Gottesdienste und die Politisierung des Gottesdienstes, die sich ja im Ganzen vollzogen hat, ist für mich eine befreiende Kraft.
Ich war vor ein paar Tagen zufällig in einem nicht besonders bewegenden Gottesdienst, wo ich normalerweise eigentlich auch gar nicht hingegangen wäre. Da betet der Mensch für alle Asylanten! Und ich dachte, mein Gott, wo hören die Leute das denn sonst noch in einer Welt der Hetze und der Angstmache, des Neides, des Rassismus? Die Politiker kneifen und der sagt einfach: »Behüte alle Asylanten. Hilf allen Fremdlingen.« Eine ganz einfache Sache, ein Wunsch, den ich mit diesen vierzig Menschen, die da in der Kirche sind, teile – also jedenfalls nehme ich das an, jedenfalls wird ihnen zugemutet, solche zu sein, die Asylanten beschützen wollen. Das ist schon sehr viel, und es muß irgendwo eine Sprache geben, einen Ort geben, wo das auch gesagt wird, und zwar so, daß jeder Mensch das versteht und daß er draußen, wenn ihm ein Rassist begegnet, auch »Nein« sagt. Die Liebe, die Gott mir zumutet, ist ja auch eine Kraft, die mich trägt und stark macht.
Es gibt ein schönes Gebet vom heiligen Franz über die Liebe: »Mach mich zum Werkzeug deines Friedens, daß ich Lieben übe, da wo man sich hasset, daß ich verzeihe, wo man sich befeindet, daß ich verbinde, wo man sich trennt …« Benannt wird, was meine Rolle in der Welt ist als Kind Gottes, was ich eigentlich soll, in einer nicht idealisierten Welt, sondern in ihrer ganzen Bosheit und Feindlichkeit angesehenen Welt.
Ernesto Cardenal sagt irgendwo, wir leben auf einer Erde, auf der das Leben sich durch Vereinigung fortpflanzt, also durch Liebe. Er spekuliert dann ein bißchen, Gott hätte ja auch irgend einen anderen Mechanismus zur Verbreitung des Lebens finden können. Dieser Wunsch, sich zu vereinigen, zusammen zu sein – im Schwedischen heißt Liebe-Machen Samspel, Zusammenspiel; das ist ein schönes Wort, finde ich – das ist so tief in uns, daß gegen die Liebe zu leben schon anstrengend ist. Das Böse ist anstrengend und bedarf einer großen Selbstknechtung, wenn ich alle die Triebe in mir, die sich vereinigen wollen, wegdränge, um irgendwelcher anderen Dinge willen, die mir »wichtiger« sind.
T.B.: Mich irritiert das, diese wunderbaren großen Worte über die Liebe und dann der Haß der Kirche auf Sexualität, die eigentliche Vereinigung, mit Hexenverbrennung und Frauentwürdigung, was meiner Ansicht nach auch heute noch lebendig ist, viel subtiler natürlich. Cardenal beschreibt das ja in seinem »Buch von der Liebe« einerseits ganz freundlich und logisch. Der Schöpfer habe Zärtlichkeit, Leidenschaft und Sexualität in die Welt gebracht, also sei das alles göttlich und achtenswert. Im gleichen Atemzug begründet er aber, warum er als Mönch darauf verzichten kann. Die »wahre« Liebe sei eben die zum Schöpfer all des Schönen selbst, zur Quelle. Mich macht das mißtrauisch, vor allem angesichts der Gewalt, die in Seinem Namen Frauen, Kindern und Jugendlichen angetan wurde und wird.
Sölle: Ja, stimmt. Das Christentum ist eine, durch das Patriarchat beschädigte und entstellte Religion. Und im Patriarchat ist Macht wichtiger als Liebe, Herrschaft, Unterwerfung ist wichtiger als Samspel.(lacht)
Diese zerstörerischen, lebensfeindlichen Tendenzen des Patriarchats sind sehr früh in die Kirche eingeflossen. Nach einer kurzen Periode der Gleichberechtigung wurden die römischen Machtstrukturen übernommen, mit der konstantinischen Wende dann endgültig. Die Religion wurde Staatsreligion. Ihr nicht anzugehören war ein Staatsverbrechen und alles was daraus folgte. Aber das war nicht das ganze Christentum. Jesus ist ja ganz anders umgegangen. Es gibt diese bekannte Geschichte mit der Ehebrecherin, die gesteinigt werden soll nach mosaischem Gesetz und wo er dann sagt: »Wer ohne Sünde ist werfe den ersten Stein« und sie freispricht. Auch der Umgang Jesu war von einer bemerkenswerten Freizügigkeit und Zärtlichkeit. Man hat ihm ja vorgeworfen, daß er mit Huren und Weinsäufern ständig zuwege war. Ich glaube, was man vielleicht wirklich vom alten Christentum lernen könnte, das ist so eine erotische Kultur, die die Beziehungen der Menschen nicht auf die zählbaren Orgasmen verengt. Das ist sicher eine neue Erfindung und eine merkwürdige Zerstörung auch.
Ich bin jetzt gerade in Assisi gewesen und da fielen mir diese ganzen Geschichten vom heiligen Franz ein. Der hatte ja eine sehr schöne Beziehung zu einer Frau, der heiligen Klara, der Gründerin des Klarissinnenordens. Sie haben zusammen gearbeitet, haben diese Armutsbewegung aufgebaut. Da gibts eine Geschichte: Die beiden sind einmal spazieren gegangen, und da hat der Franz gesagt: » Die Leute reden über uns, sie klatschen entsetzlich. Wir müssen uns trennen.« Und da fing Klara furchtbar an zu weinen und ging weg. Franz ging ihr nach, weil er das gar nicht ertragen konnte, wie schrecklich sie weinte. Es war Winter und es lag Schnee. Und als ihre Tränen in den Schnee fielen, blühten auf einmal lauter Rosen um sie herum. Und dann heißt es in der Geschichte: Franz ging zu ihr und hielt ihre Hände, und von da an waren Franz und Klara nie mehr getrennt. Das heißt nun nicht, daß sie dauernd zusammen waren, aber es gab eine Versöhnung, ein Miteinander, das sich auch unabhängig macht von diesem örtlichen Zusammensein.
Daß Rosen mitten im Winter blühen, das haben ja manche Menschen schon erlebt. Diese Unzerstörbarkeit einer Kultur von Zärtlichkeit, Liebe, Zugetansein – das hat es auch innerhalb der Welt der Mönche und Nonnen immer wieder gegeben. Es ist nicht eine totale Enterotisierung, also man muß dabei nicht an vatikanische Machiavellisten denken, die nur Macht im Kopf haben. Es ist ein Miteinander, Beieinander – auch in Frauenklöstern – sehr viel Freude, Spiel, Interaktion, sich necken, sich ärgern, sich freuen.
Klar, die Sexualfeindschaft der Kirche ist ein furchtbares Unglück, ein Verbrechen an den Menschen, die sie beschädigt hat. Das ist nicht die Religion, an die ich glaube. Ich fühle mich davon nicht getroffen. Mir geht das übrigens mit dem Sozialismus ganz genauso. So furchtbar die gegenwärtige Zerstörung und Niederlage dieses sozialistischen Versuches, des Staatssozialismus ist, so heißt das für mich überhaupt nicht, daß damit die Gerechtigkeit vom Tisch ist und man sich darum nicht mehr zu kümmern braucht: Jetzt leben wir also im flotten Kapitalismus, von nun an bis in alle Ewigkeit und alle Welt!
T.B.: Das ist ein gutes Beispiel. Gerade weil das so ist, will ich genau hinsehen, was denn eigentlich die zerstörerischen Handlungen und Gedanken und Beziehungen waren, die dazu beigetragen haben, daß dieser Traum eben nicht wahr geworden ist. Und da ist für mich bei Kirche eben zum Beispiel Sexualitätsfeindlichkeit ein wesentliches Thema. Es gibt bei aller fortschrittlichen, kritischen Entwicklung in der Kirche und Gläubiger außerhalb der Kirche diese unsägliche Tradition eben immer noch, wenn auch auf viel subtilere Weise. Das weiß ich auch aus meiner eigenen Geschichte, obwohl ich ohne Gottesdienste aufgewachsen bin, aber mit einer Großmutter und einer Mutter, die die Lehren trotz Lossagung verinnerlicht hatten.
Sölle: Aber die Freude, die Lust an der Sexualität, das ist von Gott geschaffen, das ist nicht irgendetwas künstlich Produziertes. So wie man eben mit Harfen und Pauken Gott loben kann, so kann man auch mit Penis und Vagina oder sonstwas Gott loben. Das ist ein Instrument des Glücks, der Freude. Wo ich die Kritik der Kirche als berechtigt sehe, ist ja die abgespaltene Sexualität. Was mich also zur Zeit belastet, ist eine Zunahme an Brutalität, wenn das stimmt, daß Vergewaltigungen zunehmen, das heißt die Assoziation von Sex mit Gewalt, Sexualität, die überhaupt nicht auf den anderen bezogen ist, sondern sogar völlig abgekoppelt wird, ja wo der Genuß sogar erhöht wird, wenn der andere dabei gedemütigt wird..
Der andere wird gar nicht wahrgenommen in seiner Andersheit, sondern eben nur benutzt. Das ist zerstörerisch.
T.B.: … weil eben der Satz »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« wirklich zutrifft. Wenn ein Mensch sich nicht selbst lieben kann, kann er auch den Nächsten nicht lieben. Und weil er sich klein und schlecht und unzulänglich fühlt, muß er sich erhöhen, indem er den Nächsten erniedrigt. Das ist ja das gleiche Prinzip wie im Umgang mit Fremden.
Sölle: Es gibt eine schöne Übersetzung dieses Satzes von Martin Buber: Liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Das sagt es noch deutlicher.
Mit dieser Selbstliebe bin ich allerdings etwas zurückhaltend. Das wird immer so betont: Man muß sich erst mal selbst lieben, eh man andere lieben kann. Ich glaube, in der Bibel ist das so gemeint, daß die Selbstliebe etwas so Natürliches ist, daß man sie nicht lernen muß. Also zum Beispiel, daß ich esse, wenn ich Hunger habe und trinke, wenn ich Durst habe, also mir selbst etwas Gutes tue. Oder wenn ich schlafen will, lege ich mich hin und schlafe.
T.B.: Aber wer tut das schon noch? Wer hat sein Leben so organisiert, daß er das überhaupt kann?
Sölle: Also ich denke an natürliche Bedürfnisse, die einfach einen gewissen drive haben, man wird dahingezogen, das zu tun.
T.B.: Aber das ist genau der Kern der Psychologie, die mich interessiert. Wir werden durch verschiedene Einflüsse von unseren natürlichen Bedürfnissen abgespalten und müssen wieder lernen, sie wahrzunehmen, um uns eben nicht in Ersatzbedürfnissen – Sie nennen es Götzen – zu verlieren. Dabei ist nicht die Frage, ob ich mich zuerst selbst lieben soll und dann andere. Sobald ich mich wahrnehme, werde ich auch meine Zugehörigkeit, meine Eingebundenheit in die Welt, meine Abhängigkeit wahrnehmen. Das ist schon eine Interaktion.
Sölle: Das ist für mich auch ein politisches Problem. Die erste Welt ist so abgespalten von der Realität der übrigen zwei Drittel oder drei Viertel der Menschheit, daß sie ja nur sich wahrnimmt. Das ist auch eine Zerstörung des Blicks. Ich frage mich, ob das durch eine bessere Ich-Liebe oder Selbst-Liebe geheilt werden kann, oder ob nicht die Wahrnehmung der anderen viel wichtiger ist, die Wahrnehmung auch der anderen Realität.
Worauf ich hinaus will, ist eine tiefere Verbundenheit mit dem gesamten Leben, ein größerer Pantheismus vielleicht.
Wenn ein Baum gefällt wird, dann muß es so sein, daß mir das weh tut, wenn der zerschlagen wird und kracht um. Weil – der Baum gehört zu mir und ich gehöre zu dem Baum, ich bin nicht ohne den Baum. Mein Leben zerstört sich selbst in dieser Zerstörung. Diese Art von Emphatie, von Zusammengehörigkeit und gemeinsamem Leiden auch, die meine ich, müßte stärker werden. Dann würde ich auch meine eigenen Bedürfnisse deutlicher empfinden. Ich frage mich, ob man auf dem Wege dieser Ich-Psychologie und Individualisierung weiterkommt.
T. B.: Selbstwahrnehmung und Selbstachtung ist meiner Meinung nach auch etwas völlig anderes als Egozentrik oder Eurozentrik, der Blick auf den Bauchnabel der EG. Was die Erste Welt in ihrem Konsumrausch veranstaltet, ist ja eben gerade die verzweifelte Suche nach Wahrhaftigkeit, Sinn, Lebendigkeit. Leider wird man das alles auf dem Weg von Lüge, Tand und Tod nicht finden, auch wenn die Moden und Wissenschaftswunder sich schon fast überschlagen.
Mein Ich-Bild ist ohne Du, ohne Beziehung, nicht denkbar und lebbar. Ich habe Angst, wenn in Kuweit Öl brennt und in Brasilien Wälder abgeholzt werden. Ich weine, wenn im Fernsehen verhungernde Menschen oder erstickende Vögel vorgeführt werden; auch wenn ich mich jetzt fast schäme, das auszusprechen. Ich erschrecke, wenn ich von ozonblinden Hasen in Australien höre. Das bin doch alles ich – wenn nicht heute, dann spätestens morgen.
Sölle: Vielleicht ist das, was ich an dieser Ich-Sucht am schrecklichsten finde, so ein Bestreben nach Sicherheit, was ständig Abgrenzung schafft, die spirituelle Apartheid, in der wir leben. Wir sind zwar nicht gerade südafrikanische Rassisten, aber was wir seelisch tun, ist ein ähnliches System. Wir halten uns apart, getrennt: von den Armen, von den Dreckigen, von den Andersfarbigen usw, und lassen uns auch nicht von denen berühren, oder vom Baum. Das macht mir nichts, daß der gefällt wird. Das ist zwar vielleicht schade, weil ich dann keinen Schatten mehr habe, aber im übrigen schmerzt es nicht, weil meine Seele das gar nicht ist. Die hat den Baum noch gar nicht berührt.
Ich habe etwas Angst vor einem Subjektivismus, der sicher ein Zug unserer Kultur ist. In der Literatur zum Beispiel wird ständig das Ich durchleuchtet. Über die reale Welt der Menschen, die da leben, über die kranke Tante der Person, die da vor sich hin philosophiert, die Arbeitswelt, erfahre ich überhaupt nichts. Es wird nichts überhaupt noch der Reflexion wert erachtet, was außen ist. Es gibt eine so radikale Innenwendung, die für mich ein Ausdruck dieser spirituellen Apartheid ist, also der Beziehungslosigkeit. Das Ich hockt in seinem Gefängnis, tapeziert sich die Wände immer wieder mal neu, weil es kulturell möglich ist, hat massig Platten da oder sonstwas, aber es ist trotzdem ein Gefängnis. Es kommt nie heraus. Es ändert höchstens einiges an dem Drum und Dran.
Es gibt in der christlichen Tradition das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst.
Wenn ich eine Kritik an der Kirche in dem Zusammenhang formulieren will, dann ist es eher die, daß sie zu wenig Gottesliebe gelehrt hat, und immer nur so getan hat, als liebte Gott uns, schützte Gott uns, bewahrte Gott uns, rettete Gott uns. Daß wir Gott lieben, schützen, retten, bewahren sollen, klingt schon fast größenwahnsinnig, obwohl ich das für völlig richtig halte. Diese Liebe zum Ganzen, nennen wir sie mal Gottesliebe, diese Weltseele, die wir werden können, diese Berührungsfähigkeit – ich frage mich oft, ob die mit einem reinen Humanismus abgegolten ist.
Der Humanismus ist ja so begründungsschwach. Er kann ja eigentlich nicht begründen, warum man denn nun Kinder mit Langdon-Down-Syndrom nicht doch einschläfern sollte. Das ist sehr schwer wissenschaftlich zu begründen. Mir fällt da auch nicht mehr ein als eine religiöse Begründung, dieses Du-sollst-nicht-töten, diese Bejahung des Lebens, an der ich Anteil habe.
T.B.: Dem stimme ich zu, stelle aber trotzdem noch die Frage, warum werden so viele kranke Kinder geboren? Welche Ursachen gibt es dafür?
Sölle: Ökologische?
T.B.: Ja, und im engeren Sinne psychologische.
Sölle: Ja, die Wissenschaft fragt sich das ja auch. Und das wird verringert werden. Ich finde das grauenvoll, die Geschichten von Frauen auf dem Spielplatz mit einem behinderten Kind, und da kommt jemand und fragt, warum ist das überhaupt geboren? Konntest du das nicht vorher bereinigen? Also der Zwang zur Abtreibung, der ja da wissenschaftlich geplant ist, auch mit diesen Voruntersuchungen. Wenn ich jetzt ein Kind kriegte, ich würde das gar nicht alles wissen wollen, diese Geschlechtsvorbestimmungen – ich tausch’s doch nicht um, wenn’s das falsche hat! Was soll denn der Quatsch? (lachen)
T.B.: Richtig, aber das meint meine Frage auch nicht. Ich denke, es ist ja auch ein Ausdruck der Krankheit dieser Welt, daß so viele kranke Kinder geboren werden, auch weil Menschen so anthropozentrisch agieren, und ich frage nach Heilung.
Sölle: In diesem Sinne auch die Unfruchtbarkeit, die ja auch zunimmt …
T.B.: Da wären wir wieder beim Anfang unseres Gespräches …
Sölle: Ja, das ökologische Gefüge ist so zerstört, das Zutrauen darin, daß das Leben gut ist, das Schöpfungsvertrauen, dieses ganz natürliche Urvertrauen.
Ich frage mich oft, ob es ohne Religion möglich ist, das wieder aufzubauen. Ich weiß nicht, wie man das machen kann, Kindern auch die Gewißheit zu geben, jetzt ist die Sonne ins Bett gegangen, morgen kommt sie wieder; die Mama geht jetzt weg, sie kommt aber mittags wieder. Die Gewißheit, daß etwas wiederkommt ist ja ein ungeheurer Lernfortschritt für ein Kind, wenn es das unmittelbare „Jetzt-mußt-du-da-sein“ verschieben kann. Ich weiß noch, wie eins meiner Kinder das Wörtchen »gleich« lernte. Es konnte noch kaum reden, aber »gleich, gleich« war der größte Trost der Welt: »Gleich kommt die Mama wieder«, »Gleich gibt’s was zu essen«. Das Zeitbewußtsein hängt ja mit Vertrauen zusammen. Ein Mensch braucht ein solches Lebensvertrauen. Die Religion ist eigentlich nur eine Sprache dafür, wie auch das Umarmen oder Kuscheln – es gibt ja viele Formen zu sprechen. Aber ich finde schon, daß es wichtig ist, auch verbal diesen Halt zu haben. Zum Beispiel meine Enkel, die beten immer abends, zuerst ein etwas formelhaftes Gebet und dann fangen sie an, alle, die sie lieben aufzuzählen: Behüte auch den Papa, behüte auch die Großmutter, behüte auch die Trille – das ist unsre Katze (lacht) – und das weitet sich immer mehr aus. Was passiert da? Einerseits wird ein Weltvertrauen aufgebaut, ein Gottesvertrauen, und andererseits wird das Kind selbst daran beteiligt. Es ist nicht nur der Empfänger. Es sagt ja auch dem Gott, worauf er alles aufpassen muß, soll es ihm auch sagen, vielleicht vergißt er ja sonst doch mal was. Gott ist ja nicht eine Großmaschine! Es ist Quatsch, daß Gott alles weiß. Man muß ihm sagen, daß er die Trille behüten soll. Ich denke, man muß die natürliche Religiosität von Kindern auch nähren, vielleicht mit noch ein bißchen was anderem als Mickey Mouse und Badman. Ein theologischer Grundsatz, den ich sehr wichtig finde ist: Wo Gott nicht ist, ziehen die Götzen ein.
Es ist nicht so, daß da ein Freiraum entstünde, ein rationalistisch cleener Freiraum, sondern da sitzen die Götzen des Geldes, der Macht, des Phallus, der Angst – gerade bei den Kindern. Die Fernsehreligion ist tödlich: Wieviel Gewalt, wieviel Machtstreben da vermittelt wird! Gegen diese Götzen etwas zu setzen, mit einem Stückchen Religion, die Kinder auch selbst begehen; also ich plädiere dafür, das Beten auch zu lehren.
Ich sage manchmal jetzt zu Menschen, die irgendwo hingehen: »Gott behüte dich!« Ich weiß, daß ich das nicht kann. Ich kann dich nicht behüten. Ich kann dir mit meinen zehn Fingern zehn Engel mitschicken, aber das reicht wohl nicht. Zugleich will ich das. Es muß einen Schutz geben, der stärker ist als meiner. Und das Bedürfnis, jemanden zu schützen hängt für mich auch ganz eng mit Religiosität zusammen.
T.B.: Danke. Ich glaube, wir haben für manches noch unterschiedliche Begriffe, sind uns im dahinter liegenden Sinn aber ein Stück näher gekommen.
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aus ICH 6/ 92