„Gegen diese Entwicklung wehre ich mich als behinderter Mensch …“ Aus Briefen

Was mich zur Zeit am meisten in Ihrer Zeitung interessiert, ist die Beschäftigung mit dem Thema Euthanasie. Es ist doch sehr aktuell.

Auch in der jetzigen Zeit gibt es Menschen, die zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheiden. Lebenswert ist der Mensch, der in der Lage ist, ein glückliches Leben zu führen, lebensunwert ist derjenige, der dies angeblich nicht kann. Diese Entscheidung soll schon nach der Geburt gefällt werden. Ist ein Kind behindert, hat es keine Aussicht auf ein glückliches Leben, kann also getötet werden, da es lebensunwert ist.

Vertreter dieser Ansicht ist u.a. Peter Singer aus Australien, aber auch deutsche Wissenschaftler vertreten diese Meinung, so z.B. Norbert Hörster und Dieter Birnbacher. Die ganze Tötungswissenschaft heißt heute nicht mehr Euthanasie, sondern Bioethik.

Und das soll legitimiert werden durch ein Gesetz, die Bioethik-Konvention, die noch in diesem Jahr im Europa-Rat verabschiedet werden soll. Hinter deren schönen Titel „Zum Schutz der Menschenrechte im Hinblick auf die Anwendung in Biologie und Medizin“ geht es in Wirklichkeit u.a. um

– Forschung an einwilligungsunfähigen Personen (geistig Behinderte, kranke Menschen und Kinder),

– um Organentnahme bei Lebendspendern (Menschen, die im Koma liegen) und

– darum, daß (Zitat) „in Ausnahmefällen die Entnahme von Knochenmark von einer einwilligungsfähigen Person zum Nutzen eines mit dem Spender in engerem verwandtschaftlichen Verhältnis stehenden Empfänger erlaubt sein (kann), sofern kein anderer Spender zur Verfügung steht.“

Falls diese Konvention zum Gesetz wird, betrifft sie uns alle, ob Frau, ob Mann, ob behindert oder nichtbehindert. Und das macht mir Angst. Ich habe Angst davor, alt und damit vielleicht eines Tages „einwilligungsunfähig“ zu werden, oder daß mir das gleiche durch einen Unfall passiert oder daß ich ein Kind bekomme, daß getötet oder zu Versuchen benutzt würde, wenn es behindert wäre.

Aber in der letzten Zeit habe ich festgestellt, daß diese Konvention in der Bevölkerung kaum bekannt ist, daß kein Mensch weiß, was da hinter verschlossenen Türen verhandelt wird.

Mein Ziel ist es, die Öffentlichkeit von diesem Vorhaben in Kenntnis zu setzen und somit etwas gegen diese Konvention zu tun.

Andrea Keller, Erfurt 

 

Ich begrüße es sehr, daß die ICH eine Serie von Beiträgen zur (besser: gegen) Euthanasie herausbringen wird. Zur Zeit beschäftige ich mich selbst damit und versuche, die Kontinuität dieser Diskussion in Deutschland nachzuweisen. Der Zeitgeist führt uns gerade in Gebiete, von denen der NS-Staat nur träumen konnte. Die Bioethik-Konvention ist ein Beispiel dafür.

Ein anderes ist die moderne Datenerfassung der verschiedenen Institutionen wie z.B. durch das Pflegeversicherungsgesetz. Der behinderte Mensch wird hier zum gläsernen Menschen. In Magdeburg und in Mainz existieren Register, in denen „geschädigte“ Neugeborene registriert werden. Der Mensch wird durch die Vernetzung zum Objekt der Machthabenden. In diesem Jahr wurde sogar der Euthanasie-Propagandist Peter Singer von der „Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie“ (IGST) nach Heidelberg zu deren Internationalen Kongreß als Referent eingeladen. Gegen diese Entwicklung wehre ich mich als behinderter Mensch und möchte diesen Protest auch öffentlich machen.

Singer ist Philosophie-Professor und Direktor des australischen „Centre for Human Bioethics“. 1984 hat er in der BRD sein Buch „Praktische Ethik“ veröffentlicht. Mehrere seitdem in Deutschland geplante Vorträge von ihm, zum Beispiel zum Thema „Haben schwerstbehinderte neugeborene Kinder ein Recht auf Leben?“, mußten wegen bundesweiten Protestes u.a. der Krüppel- und Behinderten-Initiativen abgesagt werden. In verschiedenen Zeitungen taucht immer wieder das Argument auf, daß es unlauter sei, „diesen Wissenschaftler, der viele Angehörige im Konzentrationslager verloren hat, mit den Euthanasie-Verbrechen der NS-Zeit in einen Topf zu werfen.“ Hier werden also sogar Gegner der behindertenfeindlichen Thesen von Singer fälschlicherweise zu Antisemiten (Singer ist Jude) deklariert.

Was den oben erwähnten IGST-Kongreß betrifft: Ernst Klee, der auch eingeladen war, hat dem Veranstalter Täuschung vorgeworfen und ihm untersagt, seinen Namen weiterhin im Programm zu führen. Dieser Kongreß, so Klee, stelle das Leben behinderter Menschen in Frage und sei somit auch ihr potentieller Mörder.

Berthold Pleiß, Berlin

 

aus ICH 2/ 96