Die nächste Revolution

von Donella Meadows, Dennis Meadows und Jorgen Randers

Seit zwei Jahrzehnten läßt uns persönlich die Aufgabe der Nachhaltigkeit nicht mehr los. Wir reden, schreiben und forschen darüber. Wir kennen viele Tausende von Menschen in allen Teilen der Welt, die auf ihre Weise mit ihren Fähigkeiten und in ihren Kulturen demselben Ziel zuarbeiten. Wenn wir in offiziellem Auftrag für etablierte Institutionen tätig sind und die Politiker sprechen hören, fühlen wir uns oft frustriert. Aber die Arbeit mit den Menschen außerhalb der Institutionen ermutigt uns dann wieder.

Überall finden sich Menschen, die sich über den Zustand dieses Planeten, über das Los anderer Menschen und über die Zukunft ihrer Kinder und Enkel Sorgen machen. Sie nehmen die mißliche Lage der Menschheit und die Zerfallserscheinungen der Umwelt wahr und halten es für fraglich, ob die in den gegenwärtigen Strukturen verankerten Wachstumstrends die Lage jemals bessern können. Sie wären willens, zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen, wenn es nur Anzeichen dafür gäbe, daß ihre Bemühungen überhaupt irgend etwas verändern können. Was sollen wir denn tun? fragen sie. Was können Regierungen tun? Und Großfirmen? Welche Beiträge könnten die Schulen leisten, die Religionen und die öffentlichen Medien? Und die Bürger: die Produzenten, die Verbraucher und die Eltern?

Wir glauben, daß durch solche Fragen geleitetes ernsthaftes Experimentieren wichtiger ist als spezifische Antworten – obwohl die natürlich wohlfeil sind, etwa die „50 Tips zur Rettung unserer Erde“. Hier einige davon: Kaufe nur ein Auto mit sehr geringem Kraftstoffverbrauch. Sorge für die Wiederverwertung deiner Trinkbecher, der Konserven- und Getränkedosen und votiere bei politischen Wahlen bewußt – sofern du zu den privilegierten Menschen gehörst, die über Autos, Pfandflaschen, Konservendosen und Wahlrecht verfügen. Man kann noch einiges mehr tun, was nicht so ganz einfach ist: Versuche einen genügsameren Lebensstil; zeuge nicht mehr als zwei Kinder in deinem Leben; bemühe dich, irgendeiner verarmten Familie zu helfen, aus ihrer verzweifelten Lage herauszukommen; verdiene deinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise; übernimm die Verantwortung über irgendein Stück Land, zum Beispiel deinen Garten, daß er in umweltverträglicher Form gedeiht; vermeide es soweit wie irgend möglich, Kräfte zu unterstützen, die Menschen unterjochen oder an der Umwelt Raubbau treiben.

All dies ist nützlich, ja dringend, aber natürlich auch viel zuwenig. Denn hier geht es um eine Umwälzung, nicht um eine politischer Art wie etwa die Französische Revolution. Es geht um einen sehr viel tiefer greifenden Wandlungsprozeß wie die Agrarische und die Industrielle Revolution. Das Sammeln alter Flaschen und Bierdosen für das Recycling ist eine nützliche Sache, kann aber natürlich solch einen grundsätzlichen Wandlungsprozeß nicht auslösen.

Was aber dann? Um hierauf befriedigende Antworten zu finden, ist es wohl erforderlich, diese beiden großen Menschheitsrevolutionen zu verstehen, deren Ursachen und Verlauf von den Historikern heute recht gut überblickt werden.

Die beiden Menschheitsrevolutionen: Landwirtschaft und Industrie

Nach fast unermeßlichen Zeiträumen langsamsten Bevölkerungswachstums hatte die Menschheit vor etwa achttausend Jahren die Größe von zehn Millionen erreicht. Für die damaligen Verhältnisse waren es bereits zu viele Menschen. Denn sie waren Nomaden, die vom Jagen und Sammeln, also von genießbaren Pflanzen und von Wildbeständen lebten. Die hatte es fast überall im Überfluß gegeben, doch nun wurden die Reviere allmählich knapp. Die Menschen spürten dies und reagierten unterschiedlich. Manche Gruppen verstärkten ihre Wanderungsbewegungen auf der Suche nach Nahrung, verließen ihre angestammten Zentralgebiete in Afrika und im Nahen Osten und stießen in andere, noch wildreiche Regionen vor.

Andere Gruppen begannen, Tiere zu domestizieren (also eigenes „Wild“ zu halten), und bauten genießbare Pflanzen an. Das hatte eine gravierende Folge: Sie mußten dort bleiben, wo sie gesät hatten: Sie wurden seßhaft. Das war damals für die Menschen etwas völlig Neuartiges. Indem sie ganz einfach an Ort und Stelle blieben, begannen die Vorläufer unserer Landwirte zwangsläufig, die Oberfläche der Erde zu verändern. Auch die Gedankenwelt der Menschen wandelte sich damit in einer Weise, die zuvor völlig unvorstellbar gewesen war.

So wurde es jetzt zum erstenmal sinnvoll, überhaupt Landflächen, Boden, zu besitzen. Die Menschen, die all ihr Hab und Gut nicht mehr in Ledersäcken auf dem Rücken durch die Landschaft schleppen mußten, konnten auch Besitz ansammeln. Manchen gelang das besser als anderen. Jetzt entwickelten sich die Vorstellungen über Besitz, den man vererben konnte, über Formen des Handels, über Geld und auch über Macht. Es wurde möglich, daß einzelne Menschen vom Nahrungsüberschuß leben konnten, den andere erwirtschafteten. Sie spezialisierten sich; sie produzierten Töpfe und Handwerkszeug im Ganztagsjob. Spezialisten entstanden, auch solche für das Lesen und Schreiben, als Musiker und Priester, als Soldaten und Herrscher. Die ersten Städte entwickelten sich mit Berufshandwerkern, Kaufleuten, Unterhaltungskünstlern, Armeen und Bürokratien.

Wir sind heute die geistigen Erben dieser Menschen und betrachten die Landwirtschaftliche Revolution als einen großen Schritt nach vorn. Für die damals lebenden Menschen jedoch war es ein sehr zweischneidiger „Fortschritt“. Viele Anthropologen vertreten heute die Ansicht, daß die Landwirtschaft keineswegs ein besseres Leben bescherte, sondern kurzerhand erzwungen war, weil man sich dem Bevölkerungswachstum anpassen mußte. Seßhafte Bauern konnten von einem Hektar Land viel mehr Nahrungsmittel gewinnen, als Jäger und Sammler einzubringen vermochten. Aber die Pflanzennahrung hatte einen geringeren Nährstoffgehalt und war viel eintöniger; ihre Beschaffung war sehr viel mühsamer als das Jagen und Sammeln. Außerdem waren die Bauernkulturen viel empfindlicher gegen Störungen von außen als die Lebensformen der Nomaden; man war abhängig vom Wetter, gefährdet durch Seuchen (die sich in einer geschlossenen Siedlung weit schneller ausbreiten als in der freien Wildbahn), durch feindliche Gruppen (die Nomaden wichen einfach aus) und wurde unterdrückt von Machtgruppierungen, die sich in der eigenen Gemeinschaft bildeten. Seßhafte Leute können sich auch nicht weit von ihren eigenen Abfällen absetzen: Die ersten lokalen Umweltverschmutzungen entstanden.

Dennoch, die Landwirtschaft hat sich als erfolgreiche Reaktion auf die Mangelerscheinungen in der freien Wildbahn erwiesen. Sie machte beständiges langsames Bevölkerungswachstum möglich. Über die Jahrhunderte jedoch war der Zuwachs riesig: von den anfänglich zehn Millionen auf rund 800 Millionen um 1750 n. Chr. Um diese Zeit etwa prägten sich aber erneut Mangelerscheinungen durch das Bevölkerungswachstum aus; wiederum waren Grenzen des Wachstums erreicht. Knapp wurden besonders die bebaubaren Landflächen und die Energie. Eine weitere tiefgreifende Revolution der Menschheit war fällig.

In England begann man erstmals, die reichlich vorhandene Kohle anstelle des knapp gewordenen Brennholzes zu verwenden. Damit kann man heute den Beginn der Industriellen Revolution markieren. Sofort aber entstanden auch Probleme: Zur Gewinnung der Kohle mußten große Erdmengen bewegt und Minen unter den Erdboden getrieben werden; man mußte Wasser abpumpen, Kohle transportieren, Kanäle bauen und Verfahren zum gesicherten Rauchabzug entwickeln. Dazu mußten Arbeitskräfte um die Bergwerke herum angesiedelt werden. Man brauchte Wissenschaft, technische Kreativität und Innovationen. Sie erhielten die höchsten Ränge im kulturellen Wertesystem.

Wiederum veränderte sich alles, auch gedanklich, in einer zuvor unvorstellbaren Weise. Die Verwendung der Kohle führte fast unmittelbar zur Entwicklung der Dampfmaschine. Nicht mehr die Landflächen, die Maschinen erwiesen sich jetzt als die wichtigsten Produktionsmittel. Der Feudalismus wich dem Kapitalismus. Überall wurden Straßen, Eisenbahnen und Fabriken mit riesigen Schornsteinen errichtet; die Städte dehnten sich aus. Für die Menschen war es wieder eine Segnung höchst zweischneidiger Art. Die Fabrikarbeit war viel mühevoller und entwürdigender als Feldarbeit. Im weiten Umkreis um die Fabriken häuften sich Dreck, Schrott und Abfälle. Der Lebensstandard der in der damaligen Industrie beschäftigten Menschen lag weit unter dem eines freien Bauern. Doch Fabrikarbeit war immer noch besser als ständiger Hunger in überschuldeten Bauernkaten.

Es ist gewiß recht schwer, heute nachzuempfinden, wie umfassend die Industrielle Revolution die Gedankenwelt der Menschen verändert hat. Denn in dieser industriellen Gedankenwelt leben wir noch immer. Der Historiker Donald Worster hat die grundsätzliche Wirkung der Industrialisierung vielleicht analytischer beschrieben, als es die meisten Erben und Nutznießer dieser Entwicklung vermögen:

„Die Kapitalisten … versprachen, daß sie durch die technische Macht über die Erde und ihre Schätze jedermann ein gerechteres, nützlicheres und produktives Leben bieten könnten … Ihre Methode war recht einfach: Sie lösten den einzelnen aus allen traditionellen Fesseln der Hierarchie und der Gemeinschaft, gleichgültig, ob das nun Fesseln waren, die Menschen angelegt hatten, oder Fesseln der Natur und der Erde … Dazu mußte jedem beigebracht werden, der Erde und seinen Mitmenschen mit einem gesunden Selbstbewußtsein zu begegnen. Die Menschen müssen nun … beständig überlegen, wie man zu Geld kommt. Sie müssen ihre ganze Umgebung – das Land, die natürlichen Ressourcen, auch ihre eigene Arbeitskraft – als Waren betrachten, aus denen man auf dem Markt Profite ziehen kann. Sie müssen das Recht einfordern, ohne Beschränkung und Regelung von außen Güter zu produzieren, zu verkaufen und einzukaufen … Als dann die Begehrlichkeit immer stärker, die Märkte immer größer und umfassender wurden, reduzierten sich auch die Bande zwischen den Menschen und der Natur bis zum nackten Instrumentalismus.“

Diese Betrachtung der ganzen Welt als wirtschaftliches Instrument hat zu unglaublichem materiellen Erfolg geführt und zu einem System, das nun immerhin einen großen Teil der Weltbevölkerung von über fünf Milliarden versorgt. Die sich ausbreitenden Märkte haben die Ausbeutung der Umwelt von den Polen bis in die Tropen zur Folge, von den höchsten Kämmen der Gebirgsketten bis in die Tiefen der Ozeane.

Der Erfolg der Industriellen Revolution hat, nicht anders als die Wirkung der Agrarischen Revolution, wiederum zu Mangelerscheinungen geführt. Aber nun mangelt es nicht mehr nur an Wild, an bebaubarem Land, nicht nur an Brennstoffen und Metallen, sondern in erster Linie an der Kapazität der Umwelt, noch mehr Schadstoffe aufzunehmen und umzusetzen.

Damit ist nur wiederum eine umfassende Wandlungsperiode fällig geworden: die Dritte Revolution.

Die nächste Revolution: Zur nachhaltigen Gesellschaft

Keiner der ersten Ackerbauern mit geschliffenen Steinwerkzeugen aus dem Jahre 6.000 v. Chr. hätte sich vorstellen können, wie heute in Iowa gesät und geerntet wird, und kein englischer Bergarbeiter hätte sich 1750 ein Bild von der Produktionslinie in den Toyota-Werken machen können. Genauso unmöglich ist es für jeden von uns zu beschreiben, wie die Welt in einer nachhaltigen Gesellschaft aussehen wird. Vorhersagen läßt sich lediglich, daß auch die Revolution zur Nachhaltigkeit eine enorme Bereicherung bringen, aber auch zu Verlusten gegenüber dem vorhergehenden Zustand führen wird. Auch sie wird das Gesicht der Erde und Fundamente menschlicher Selbsterkennung, Institutionen und Kulturen verändern. Und es werden, wie auch bei den beiden schon geschichtlichen Revolutionen, Jahrhunderte vergehen, bis sie sich voll entwickelt hat. Tatsächlich ist sie, soweit sich das beurteilen läßt, längst in Gang gekommen. Ihre nächsten Entwicklungsschritte müssen sich aber dringend anschließen, damit es eine Revolution bleibt, eine Wandlungsperiode – und nicht in den Zusammenbruch umschlägt.

Niemand kann uns lehren, wie man eine Revolution der Erhaltbarkeit dirigieren und durchführen soll. Es liegt keine Checkliste vor, auf der man die erforderlichen nächsten zwanzig Maßnahmen abhaken kann. Auch diese Revolution läßt sich, wie ihre Vorgängerinnen, nicht vorausplanen und schon gar nicht diktieren. Ihr Ablauf folgt nicht einer Wunschliste von Regierungen oder von Computer-Modellbauern. Auch die Nachhaltigkeits-Revolution entwickelt sich als ein organischer und evolutionärer Prozeß. Er ersteht aus Visionen, Einsichten, Empfindungen, Versuchen und Aktionen von Milliarden Menschen. Keine Einzelperson und keine Menschengruppe ist verantwortlich dafür, daß sie entsteht und wie sie abläuft. Niemand wird sich in dieser Hinsicht ein Verdienst zuschreiben können, doch jedermann kann zu ihr beitragen. Unsere Kenntnisse und Erfahrungen als Systemforscher weisen uns auf zwei Eigenschaften komplexer Systeme hin, die für diese Art von grundlegenden Revolutionen von besonderer Bedeutung sind.

Zum einen: Der Schlüssel für jede Art von Systemwandel heißt Information. Damit ist nicht unbedingt bessere Information gemeint, also ausführlichere Statistiken und größere Datenbanken, sondern neuartige Informationswege, neue Informationsempfänger, neue Informationsinhalte und neuartig übermittelte Regeln und Zielinhalte (Regeln und Ziele stellen selbst Informationen dar). Mit anderen Informationsstrukturen ausgestattete Systeme verhalten sich auch anders. Für die ehemalige Sowjetunion war zum Beispiel die Politik der Glasnost ein gänzlich neuartiges Informationssystem. Es öffnete ungewohnte Informationskanäle und führte zu raschesten Veränderungen in Osteuropa. Und das alles lief ab ohne eigentliche Lenkung. Streng kontrolliert und gelenkt war dagegen das alte Informationssystem, das dementsprechend Informationskanäle verschloß. Die Abschaffung dieser Kontrolle setzte unvermeidbar eine Umstrukturierung des gesamten Systems in Gang, die zunächst naturnotwendig turbulent und unberechenbar abläuft, bis sich ein neuartiges System gebildet hat, das mit den neuartigen Informationen verträglich ist.

Zum anderen: Alle Systeme setzen Veränderungen der Informationsflüsse erheblichen Widerstand entgegen, besonders wenn sie geltenden Regeln und Zielvorstellungen widersprechen. Daran können Versuche einzelner Menschen, die anders vorgehen und andere Ziele erreichen wollen, als die Systemregeln vorschreiben, restlos scheitern. Deshalb arbeiten wir aber persönlich auch lieber mit Menschen als mit Institutionen. Dennoch können nur einzelne Menschen System-Umstrukturierungen einleiten, wenn sie erkennen, daß neue Informationen und Zielvorstellungen erforderlich sind, und darüber öffentlich reden.

Wir haben des öfteren am eigenen Leibe erfahren, wie schwierig es ist, ein materiell gemäßigtes Leben zu führen, wenn das Sozialsystem den Verbrauch hoch einschätzt, ihn von jedermann erwartet und belohnt. Dennoch kann der einzelne in dieser Richtung sehr weit gehen. In einem Wirtschaftssystem, das vor allem Produkte mit schlechtem Energiewirkungsgrad bietet, bereitet es große Schwierigkeiten, die Energie effizient zu nutzen. Trotzdem kann man unter den Produkten entsprechend auswählen und, falls notwendig und möglich, eigene Wege einer effektiveren Energienutzung finden. Wenn man neuartige Informationen durchsetzen will, stößt man auf erheblichen Widerstand in einer Umgebung, die nur die gewohnten Arten von Informationen vernehmen und entsprechend handeln will.

Wenn Sie selbst erfahren wollen, was wir hiermit meinen, so versuchen Sie doch einfach mal in öffentlicher Diskussion, den Wert materiellen Wachstums in Frage zu stellen. Es genügt schon, wenn Sie den Unterschied zwischen Wachstum und Entwicklung betonen. Man braucht etwas Mut und muß sich eindeutig ausdrücken, wenn man Informationen verbreiten will, die das etablierte System und seine Struktur herausfordern. Scheinbar passiert nichts, aber jede kleine Aktion kann doch den Samen für einen Wandel legen.

Wir haben vielerlei Mittel erprobt bei unserer Suche nach Wegen, eine friedliche Umstrukturierung dieses Systems zu fördern, das, wie alle Systeme, gegen Transformationen Widerstand mobilisiert. Die uns wichtigsten Mittel finden sich in diesem Buch: rationale Analyse der Lage, Datenkenntnis, Denken in Systemzusammenhängen und Strategieversuche mit Computermodellen. Solche Mittel stehen allen offen, die Kenntnisse in Wirtschaft und Wissenschaft besitzen. Sie sind, vergleichbar etwa dem Recycling, nützlich, notwendig – und ungenügend. Aber was nun wirklich genügend wäre, wissen wir nicht.

Zum Abschluß möchten wir immerhin fünf andere „Instrumente“ aufführen, die uns als äußerst nützlich erscheinen. Wir zögern aber ein wenig, sie zu nennen, denn wir sind keine Experten für ihren Einsatz und müssen Worte gebrauchen, die Wissenschaftler nicht allzu gerne artikulieren oder in ihre Schreibautomaten tippen. Sie werden in der zynischen Arena der Öffentlichkeit vielfach als zu unscharf und zu unpräzise belächelt. Es handelt sich um: Visionen, um Zusammenarbeit, um Wahrheitsliebe, um Lust am Lernen und um brüderlichen Umgang miteinander.

Wenn man sich diese Begriffe zu eigen macht – ohne die Empfindung, sich etwas dabei zu vergeben – kann auch dies für den Übergang in eine nachhaltige Gesellschaft von erheblichem Belang sein.

Visionen

Visionen zu haben bedeutet, sich vorstellen zu können, was man eigentlich haben will und sehen möchte; nicht das, was uns herkömmlich als begehrenswert gelehrt worden ist, und auch nicht das, was man nach gemachten Erfahrungen nunmehr vernünftigerweise haben will. Echte Visionen sind frei von Überlegungen, ob das auch „machbar“ ist, frei von Unglauben und erfahrenen Enttäuschungen. Die Vorstellungskraft bewegt sich ungehemmt durch den Raum der Träume.

Besonders jungen Menschen gelingt dies oft spielend und überzeugend. Manche Leute empfinden dagegen Visionen oft als schmerzlich, denn die Vorstellung, was sein könnte, kann das, was nun mal ist, noch unerträglicher machen. Viele werden niemals zugeben, daß sie Visionen und Vorstellungen haben, weil sie befürchten, daß sie dann als unrealistisch gelten. Sie werden wohl auch diesen Abschnitt nur widerwillig zur Kenntnis nehmen, sofern sie ihn überhaupt lesen. Außerdem sind viele Menschen durch ihre Lebenserfahrungen innerlich so ernüchtert, daß sie Visionen einfach für unmöglich halten. Und das ist in Ordnung: Solche Menschen braucht man auch. Visionen benötigen als Gegengewicht die Skepsis.

Ganz im Sinne der Skeptiker müssen wir einräumen, daß es für die Weltgemeinschaft nicht möglich ist, den Weg zu einer aufrechterhaltbaren Gesellschaftsstruktur visionär zu erkennen. Visionen ohne Handeln sind nutzlos. Aber das Handeln ohne Visionen hat kein faßbares Ziel. Visionen sind absolut erforderlich zur Motivierung und Lenkung des Handelns. Visionen, die von vielen Menschen gleichartig empfunden und als Ziel anerkannt werden, sind in der Lage, neue Systeme zu schaffen.

Visionäre menschliche Beweggründe können zu neuartigen Informationen, neuen Rückkopplungen, neuen Verhaltensweisen, neuartigen Erkenntnissen und neuen Technologien führen. Sie fördern auch die Schaffung neuartiger Sozialleistungen, neuer materieller Strukturen und Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Dies hat schon vor 150 Jahren Ralph Waldo Emerson erkannt: 

„Jede Nation und jeder Einzelne schafft spontan um sich eine materielle Sphäre, welche ihre innere Moral und ihre Gedankenwelt widerspiegelt. Man beobachte nur, wie jede geltende Wahrheit und auch jeglicher Irrtum – alles Ergebnisse von Gedanken – sich mit wissenschaftlichen Gesellschaften, Gebäuden, Städten, Sprachen, festlichen Gebräuchen oder Tageszeitungen bekleiden. Man erkennt dann, wie die heute vorherrschenden Ideen als Abstraktionen im Apparat der Gemeinschaft eingebettet sind und wie Bauholz, Ziegel, Kalk und behauener Stein sich zu konventionellen Formen fügen und die gemeinsamen Ideen in den Köpfen der Menschen zum Ausdruck bringen. Daraus folgt natürlich, … daß auch kleine Änderungen der Vorstellungen die äußeren Umstände ändern. Die geringste Ausweitung der Ideenwelt, die kleinste Änderung der Empfindungen gegenüber den Mitmenschen kann erstaunliche Wandlungen der äußeren Dinge und Menschen zur Folge haben.“

Eine neue Gesellschaft kann niemals zustande kommen, wenn sie nicht visionär vorgezeichnet wird. Diese Vision baut sich aus den Beiträgen sehr vieler Menschen auf, bis sie dann einigermaßen zusammenschließt und überzeugend wirkt. Wir halten jetzt einige visionäre Ideen fest, die unseren Vorstellungen von einer nachhaltigen Gesellschaft entsprechen, in der wir gerne leben wollten. Diese Liste steht hier nur als Einladung, sie weiterzuentwickeln.

Nachhaltigkeit, Effizienz, ausreichende Ausstattung, Gerechtigkeit, gleiche Rechte und Gemeinschaftssinn gelten als hohe soziale Werte. Entscheidungsträger verdienen sich hohen Respekt und sind mehr daran interessiert, ihre Aufgaben vorzüglich zu erledigen, als ihre Jobs zu behalten. (Wir erinnern daran, daß es sich hier um Visionen handelt, nicht um das, woran wir uns gewöhnt haben.)

Materielle Versorgung und Sicherheit gelten für alle. Deshalb sind als gesellschaftliche Normen geringe Sterbe- und niedrige Geburtsraten bei stabiler Bevölkerungszahl wünschenswert.

Arbeit belohnt die Menschen und demütigt sie nicht. Ein Lohnsystem, das Initiativen freisetzt, stets das Beste für die Gesellschaft zu leisten, sichert den Menschen die Versorgung mit den wesentlichen materiellen Gütern.

Die Wirtschaft ist ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich. Sie dient dem Wohlergehen der Menschen sowie auch der Umwelt, nicht umgekehrt.

Effiziente, sich erneuernde Energiequellen und wirksame Recycling-Systeme genießen Vorrang.

Technische Systeme reduzieren Schadstoffemissionen und Abfallmengen auf ein Minimum. Es herrscht der Konsens, nicht mehr Schadstoffe und Abfälle entstehen zu lassen, als die Natur verarbeiten kann.

Regenerative Landwirtschaft verbessert die Böden und nutzt natürliche Prozesse, um Nährstoffe entstehen zu lassen, Pflanzenkrankheiten einzudämmen und in reichlichen Mengen giftfreie Lebensmittel zu produzieren.

Das Ökosystem wird in seiner Vielfalt erhalten; die Kulturen harmonieren mit ihm; deshalb wird auch auf kulturelle Vielfalt geachtet. Es herrscht Toleranz.

Flexibilität und soziale wie technische Innovationen genießen hohe Geltung. Die Wissenschaften werden zum Blühen gebracht

Eindringendes Verständnis für das Verhalten von Systemen ist auch ein Ziel des Schulwesens.

Man legt Wert auf Dezentralisierung der wirtschaftlichen Mächtegruppierungen, der politischen Einflußnahme und des wissenschaftlichen Sachverstands.

Die politischen Strukturen lassen die Balance zwischen kurz- und langfristigen Zielen zu. Die Belange der Enkel gelten als wichtig.

Bürger wie auch Regierungen erwerben zunehmend Fähigkeiten zur gewaltfreien Konfliktlösung.

Die Medien zeigen die Komplexität der Welt und versuchen gleichzeitig, zwischen den verschiedenen Kulturen durch unvoreingenommene Berichterstattung zu vermitteln.

Lebensziele und Wertvorstellungen privilegieren nicht die Anhäufung materieller Güter.

Netzwerk-Strukturen

Ohne Netzwerk-Strukturen, die uns informieren und unterstützen, könnten wir unsere Aufgaben nicht erfüllen. Die meisten Netzwerke, Gruppierungen, denen wir angehören, sind ganz unspektakulärer Art. Sie treten nach außen oft kaum in Erscheinung, doch ihre Wirkungen sind keineswegs zu unterschätzen. Solche Gruppen verbreiten Informationen in gleicher Weise wie offizielle Institutionen, oftmals aber intensiver. Sie sind vielfach Geburtsstätten neuer Informationen, aus denen wiederum neue Strukturen entstehen können.

Viele informelle Gruppierungen haben als Nachrichtennetze nur lokale Bedeutung; andere wirken international. Es sind schlicht und einfach Gruppen von Menschen, die miteinander in Kontakt stehen, Daten, Ratschläge und Ideen austauschen und vor allem Anregungen vermitteln. Besonders wichtig ist es, daß sie ihren Mitgliedern das Gefühl vermitteln, mit ihren Vorstellungen und Interessen nicht allein zu sein. Eine solche informelle Gruppe, die sich spontan gebildet hat, ist von Natur aus nicht hierarchisch, sondern stellt ein Maschenwerk von Beziehungen zwischen Gleichen dar. Keine Verpflichtung und kein materieller Anreiz hält solche Gruppen zusammen, sondern gegenseitiges Verständnis, der Konsens über gemeinsame Werte sowie das Gefühl, gemeinsam mehr erreichen zu können als allein.

Wir kennen – beispielsweise – informelle Gruppen von Farmern, die neue organische Anbaumethoden erproben und ihre Erfahrungen austauschen. Es gibt derartige Netzwerke unter Journalisten mit ökologischem Interesse; unter „grünen“ Unternehmern; unter Teams, die Computermodelle schreiben und erproben und Computerspiele zusammenstellen; nicht zu vergessen sind die Verbraucherverbände. Es gibt sie in tausenderlei Variationen. Sie bilden sich, wenn Menschen mit ähnlichen Interessen miteinander in Kontakt geraten und die Verbindung wahren wollen. Manche solcher Gruppen können so anwachsen und so aktiv werden, daß sie schließlich zu offiziellen Organisationen mit Büros und Budgets mutieren. Die meisten aber entstehen und vergehen dann wieder, je nach lokalem Bedarf.

Gruppen, die sich mit aufrechterhaltbaren Gesellschaftsformen befassen, scheinen ihre Aktivitäten in der Regel auf lokaler Ebene zu entwickeln, breiten sich aber manchmal auch weltweit aus. Sie sind von besonderer Bedeutung, weil sie – als Beitrag zu einer aufrechterhaltbaren Gesellschaft – das jeweilige lokale Ökosystem in Einklang mit seinen Begrenzungen zu halten suchen. Sie tragen dazu bei, das Empfinden von Gemeinschaft und Gemeinsinn wieder zu verbreiten, das im Verlauf der Industriellen Revolution zum guten Teil verlorengegangen ist.

Den Gruppen, die sich auf lokaler Ebene bilden, wäre zu empfehlen, nach Möglichkeit weltweite Kontakte aufzunehmen, denn das befähigt sie, sich an den internationalen Informationsströmen zu beteiligen, die über die Erde leider so ungleich verteilt sind wie die Produktionsmittel. Allein in Tokio soll es mehr Telefonanschlüsse geben als in ganz Afrika. Entsprechendes gilt natürlich auch für Computer und Telefax-Geräte, für die Dichte der Flugverbindungen, für Kontakte und Treffen auf internationaler Ebene.

Nun kann man natürlich einwenden, daß Afrika, ebenso wie andere unterrepräsentierte Regionen, viel Wichtigeres zu tun habe, als Telefone zu installieren und Briefe zu faxen. Aber gerade ihre Probleme können die Unterrepräsentierten ohne Nachrichten-Netzwerke nicht angemessen formulieren. Und umgekehrt kann die Welt auch von den Leistungen der Unterrepräsentierten nichts profitieren, wenn ihre Stimmen nicht zu hören sind. Die Entwicklung der elektronischen Kommunikationsmittel war einer der wichtigsten Schritte zu höherem Wirkungsgrad von Materialmengen und Energie. In den Grenzen des künftig zulässigen materiellen Durchsatzes sollte es für alle Menschen möglich werden, sich an den lokalen und globalen Nachrichtennetzen zu beteiligen. 

Wahrhaftigkeit

Ein System wird funktionsunfähig, wenn seine Informationsströme deformiert und verzerrt sind. Es gehört zu den wichtigsten Inhalten der Systemtheorie, daß Informationen im System nicht verzögert, verfälscht oder unterdrückt werden dürfen.

Fast alltäglich erkennen wir Unwahrheiten im Gespräch (auch gelegentlich aus dem eigenen Mund), besonders aber in Äußerungen von Werbeleuten und Politikern. Vielfach werden sie vorsätzlich geäußert; die Redner sind sich dessen bewußt, manchmal auch die Zuhörer. Man will auf diese Weise Fakten manipulieren, verharmlosen, ablenken, Aktionen verzögern, sich rechtfertigen, Macht gewinnen oder unangenehme Wahrheiten verstecken. „Die ganze Menschheit ist letztlich in Gefahr“, meinte Buckminster Fuller, „wenn jeder von uns es nicht mehr wagt, sich wahrhaftig zu äußern.“

Jedes Aufdecken einer Lüge in der Öffentlichkeit auf jeder Ebene, jedes Aussprechen einer Wahrheit – so gut man sie versteht – kann da helfen. Es hilft, wenn man sagt – selbst wenn es nur ganz leise ist -, daß zum Beispiel Besitz nicht glücklich macht; daß Wachstum für die Reichen den Armen nicht hilft; daß es kein „weg“ gibt, wohin man Abfall werfen kann; und daß man Dinge nicht deshalb tun sollte, nur weil sie „wirtschaftlich“ sind. Worte mögen uns als ein schwaches Werkzeug erscheinen, besonders in einer Welt, die aus guten Gründen nicht zuhören will. Tatsache ist aber, daß immer wieder wiederholte Worte, die schließlich ihr Echo in den Köpfen von Menschen fanden, jede Revolution hervorgebracht haben.

Wir haben hier – als Beispiel – die Vorurteile und Worthülsen einmal zusammengestellt, auf die wir bei Gesprächen über die Grenzen des Wachstums immer wieder gestoßen sind. Unsere Antworten sind jeweils dazugesetzt:

Behauptung: Eine Warnung vor zukünftigen Ereignissen ist immer eine Vorhersage des Unheils.

Antwort: Solch eine Warnung ist eine Empfehlung, es anders zu machen als bislang.

Behauptung: Das Gerede über die Umwelt ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.

Antwort: Die Umwelt ist die Grundlage alles Lebens und auch der Wirtschaft.

Behauptung: Ein Ende des Wachstums verewigt die Armut der Armen.

Antwort: Die gegenwärtigen Formen des Wachstums haben den Armen nichts genutzt. Sie brauchen ein Wachstum, das speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist.

Behauptung: Alle Erdbewohner sollten den Wohlstand der reichsten Nationen erlangen.

Antwort: Alle materiellen Bedürfnisse müssen materiell, alle nichtmateriellen auf nichtmaterielle Art gedeckt werden.

Behauptung: Wachstum ist immer gut oder: Jegliches Wachstum ist schlecht.

Antwort: Wir brauchen Entwicklung, nicht grundsätzlich Wachstum. Wo immer zur Weiterentwicklung materielle Expansion erforderlich sein sollte, muß das angemessen und in aufrechterhaltbarem Rahmen erfolgen. 

Behauptung: Die Technik löst alle Probleme oder: Die Technik schafft nur Probleme.

Antwort: Es kommt darauf an: Welche Techniken reduzieren den Durchsatz, erhöhen den Wirkungsgrad, erweitern die Rohstoffquellen, machen die Umweltsignale verständlicher und bekämpfen die Armut? Wie können sie sozial gefördert werden? Und was können wir dazu beitragen?

Behauptung: Das Marktsystem bringt schon automatisch die Zukunft zustande, die wir brauchen.

Antwort: Wir relativieren das: Wie nutzen wir das Marktsystem und verwandte Einrichtungen, um die von uns gewünschte Zukunft zustande zu bringen?

Behauptung: Die Industrie ist die Ursache allen Übels oder: Die Industrie löst alle Probleme oder: Regierungen verursachen die Probleme.

Antwort: Alle Menschen und ihre Institutionen üben ihre Funktionen im Rahmen eines umfassenden Systems aus. Wenn das auf Grenzüberziehung strukturiert ist, tragen alle Mitspieler im System gewollt oder ungewollt zum Überziehen von Grenzen bei. In einem auf Nachhaltigkeit strukturierten System tragen sie aber zur Nachhaltigkeit bei – auch Ökonomen werden da ihre Rolle spielen.

Behauptung: Nichts berechtigt zu Optimismus oder: Es gibt nur Grund für Optimismus.

Antwort: Die Vorzüge und Fehlentwicklung des gegenwärtigen Zustands müssen entschlossen erkannt und artikuliert werden, ebenso wie die Chancen künftiger Entwicklungen und die zu erwartenden Schwierigkeiten. Besonders wichtig ist aber der Mut, die Lasten der Gegenwart mit zu tragen, ohne dabei die Perspektiven für eine besser gestaltete Zukunft aus den Augen zu verlieren.

Behauptung: Das Weltmodell World 3 ist gut oder: Es ist schlecht.

Antwort: Alle Modelle, auch die in unseren Köpfen, sind in einem gewissen Maße richtig, jedoch viel zu einfach und dadurch auch falsch. Wichtig ist, wie wir vorgehen, um zu erkennen, inwieweit die Modelle hilfreich sind und inwieweit nicht.

Dies führt uns zu den Problemen des Lernverhaltens.

Lernverhalten

Alle Visionen und Kommunikation sind nutzlos, wenn sie nicht zu Handlungen führen. Und die Schaffung eines nachhaltigen Zustands erfordert nun einmal Handlungsbereitschaft. Neue landwirtschaftliche Anbaumethoden müssen entwickelt, neue Formen des Geschäftslebens gefunden und die alten modifiziert werden. Landflächen müssen wiederhergestellt, Naturparks wirksam geschützt, Energiesysteme umgewandelt und internationale Abkommen geschaffen werden. Neue gesetzliche Regelungen sind auszuarbeiten, viele alte sind abzuschaffen. Kinder müssen geschult werden – viele Erwachsene auch.

Jeder Mensch muß in diesem Wandlungsprozeß seine eigene Handlungsposition finden. Wir können sie für ihn nicht bestimmen. Aber wir möchten doch einen Vorschlag machen, wie man seine Aufgaben erledigen sollte: bescheiden. Nicht mit unumstößlichem Plan, sondern als Experiment: das eigene Handeln zum Lernen benutzen. Die Abgründe menschlicher Unwissenheit sind tief. Gerade in einer Epoche, in der die Menschheit stärker als jemals zuvor gegen die dynamischen Begrenzungen dieses Planeten vorstößt, kann niemand, auch kein Entscheidungsträger, die Situation einigermaßen durchschauen. Und es gibt noch keine verbindlich anerkannte Politik, um die Lage zu meistern.

Lernen schließt die Bereitschaft ein, behutsam vorzugehen, zu experimentieren und Informationen über die Wirkung von Handlungen einzuholen, einschließlich der sehr unliebsamen Erkenntnis, daß Handlungen und Vorgehensweisen auch scheitern können. Es gibt keinen Lernprozeß, ohne daß man Fehler begeht, sie sich eingesteht, von ihnen lernt und weitermacht. Lernen bedeutet, entschlossen neue Wege zu gehen, aber gleichzeitig offen zu sein für die Vorgehensweisen anderer Menschen und deren Erfahrungen. Man muß bereit sein, auch seine eigenen Wege zu ändern, wenn es sich zeigt, daß andere Vorgehensweisen besser zum Ziel führen könnten.

Heute wissen die Entscheidungsträger im Grunde nicht besser als andere Menschen, wie man eine nachhaltige Gesellschaft zustande bringen kann; die meisten von ihnen sind sich nicht einmal bewußt, daß dies erforderlich ist. Der Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft bringt es also mit sich, daß sich jeder als ein lernender Entscheidungsträger verhält – auf den verschiedensten Ebenen, von der Familie bis zur Nation. Und die Entscheidungsträger müssen ermutigt werden in ihrem Lernprozeß; man muß ihnen zubilligen, auch Fehler zu machen und einzugestehen. Niemand ist lernfähig, wenn man ihm nicht geduldig und mit Nachsicht entgegenkommt. In einer Periode der Grenzüberziehung und angesichts eines möglichen Zusammenbruchs bleibt freilich nicht mehr viel Zeit für Geduld und Nachsicht. Man fordert entschlossenes und zuverlässiges Handeln. Der Ausgleich zwischen solch widersprüchlichen Erfordernissen verlangt klares Denken, Menschlichkeit und Ehrlichkeit.

Zuneigung und Solidarität

Wann immer jemand die menschliche Fähigkeit anspricht, anderen mit schwesterlicher oder brüderlicher Zuneigung entgegenzukommen, läuft er Gefahr, Hohn zu ernten. Den Hauptunterschied zwischen Optimisten und Pessimisten macht es letztlich aus, ob die jeweiligen Menschen glauben, daß man auf einer Basis der Zuneigung zusammenarbeiten könne oder nicht. Pessimisten sind immer dann in der Vorhand, wenn eine Gesellschaft dazu erzieht, Egoismus oder Zynismus zu züchten.

Pessimismus ist nach unserer Auffassung ein problematischer Faktor in unserem Sozialsystem und eine bestimmende Ursache seiner Instabilität. Eine Kultur, die nicht in der Lage ist, die besten menschlichen Qualitäten zu entwickeln und sie auch nicht zu artikulieren bereit ist, leidet an einer tragischen Verzerrung ihrer inneren Informationen. „Welche Qualität einer Gesellschaft läßt die menschliche Beschaffenheit zu?“ fragte der Psychologe Abraham Maslow und fügte hinzu: „Welche menschliche Qualität läßt die Gesellschaft zu?“

Die Revolution der Nachhaltigkeit sollte auch eine Wandlungsperiode werden, die die besten Seiten der menschlichen Natur freisetzt und fördert. Der große Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes schrieb 1932 beispielsweise:

Das Problem der Ansprüche und der Armut sowie der wirtschaftliche Kampf zwischen den Klassen und Nationen ist letztlich nichts als eine erschreckende, vorübergehende und unnütze Verwirrung. Denn die westliche Welt besitzt längst die erforderlichen Ressourcen und technischen Mittel, um die ökonomischen Probleme zu mildern und sie zu einer zweitrangigen Sorge zu machen – wenn diese westliche Welt nur fähig wäre, ihre Kräfte entsprechend zu organisieren … So könnte der Tag nicht mehr allzu fern sein, an dem die ökonomischen Probleme auf den Rücksitz unseres Fahrzeugs verbannt werden, wohin sie auch gehören, damit Herz und Verstand sich unserer wirklichen Probleme annehmen können: den Problemen des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Kreativität und der Religionen.“

Und der große italienische Industrielle Aurelio Peccei befaßte sich zwar ständig mit Wachstum und Grenzen, Wirtschaft und Umwelt, Ressourcen und Regierungen – vergaß aber niemals den Hinweis, daß die Lösung der globalen Probleme mit einem „neuen Humanismus“ zu beginnen habe:

„Der Humanismus in unserer Epoche muß Prinzipien und Normen ändern, die bislang als unverletzlich galten, aber nicht mehr unseren Zielen gerecht werden; er muß die Entstehung eines neuen Wertesystems fördern, das den inneren Ausgleich wiederherstellt und zu neuen geistigen, ethischen, philosophischen, sozialen, politischen, ästhetischen und künstlerischen Motivationen anregt, um die innere Leere unseres Lebens auszufüllen; er muß in uns Liebe, Freundschaft, Verständnis, Solidarität und Opferwillen neu wecken und uns verständlich machen, daß wir desto größeren Gewinn haben, je enger diese menschlichen Qualitäten auch andere Lebensformen und unsere Schwestern und Brüder überall umfassen.“

In einer Gesellschaft, deren Vorzeichen in andere Richtungen deuten, ist es sehr schwierig, von Werten wie Liebe, Freundschaft, Großzügigkeit, Verständnis und Solidarität zu reden. Wir wagen es dennoch und appellieren an unsere Leser, nachsichtig mit sich selbst und mit anderen zu sein, wenn sie mit den Schwierigkeiten einer sich ändernden Welt konfrontiert werden. Registrieren wir den Zynismus in unserer Umgebung, bedauern wir ihn – aber teilen wir ihn nicht.

Der Versuch, diese Welt in dem Bereich der Umweltgrenzen zu halten, hat nur im Geiste globaler Partnerschaft Aussicht auf Erfolg. Der Zusammenbruch läßt sich nur vermeiden, wenn die Menschen lernen, sich und andere mit Nachsicht zu beurteilen. Liegt aber solch ein umfassender Wandel – von der gesteigerten Effizienz der Ressourcen bis zu menschlicher Zuneigung und Solidarität – wirklich im Bereich des Realen? Kann man die Welt tatsächlich zurückschrauben hinter die Umweltgrenzen und damit den Zusammenbruch vermeiden? Haben wir noch genügend Zeit? Lassen sich in globalem Rahmen genug Geld, Technologie, Freiheit, Visionskraft, Solidarität, Verantwortlichkeit, Voraussicht, Disziplin und Zuneigung mobilisieren?

Dies sind naturgemäß diejenigen Fragen, die von allen in diesem Buch behandelten Fragenkomplexen am schwierigsten zu beantworten sind. Die herkömmliche Sorglosigkeit vieler schlecht informierter Menschen, besonders mancher Entscheidungsträger, führt dazu, daß sie solchen Fragen ausweichen. Viele um das Schicksal dieser Welt besorgte Menschen sind angesteckt vom Zynismus ihrer Umgebung. Man tendiert dann zu der Auffassung, daß wir vor schweren Problemen stehen, daß noch schwerere folgen werden und daß es wohl keine echten Chancen mehr gibt, sie zu lösen.

Wir haben jetzt wiederholt betont, daß die Welt nicht vor einer vorausbestimmten Zukunft steht, sondern daß sich mehrere Möglichkeiten ergeben. Man kann wählen: ein Gedankenmodell lautet, daß diese begrenzte Welt de facto doch keine Grenzen habe. Wenn man sich für dieses Modell entscheidet, führt das noch weiter über die Grenzen hinaus und, nach unserer Ansicht, zum Zusammenbruch.

Die Grenzen sind real und eng, so sagt das zweite Gedankenmodell. Es ist nicht mehr genügend Zeit vorhanden; die Menschen können sich nicht bescheiden und nicht verantwortlich handeln. Wenn sich die Menschheit für diesen Gedankengang entscheidet, dann kommt es auch so – bis zum Zusammenbruch.

Nach dem dritten Gedankenmodell sind die Grenzen ebenfalls real und eng, aber noch ist Zeit, wenn auch keine mehr zu verlieren. Es gibt genug Energie, Ressourcen, Geld, Umweltkapazität und menschliche Fähigkeiten, um einen Wandel einzuleiten, die dritte große Revolution der Menschheit: die Umwelt-Revolution.

Auch dieses Modell kann falsch sein. Alle Anzeichen jedoch, alle globalen Daten und auch unser Computermodell machen es wahrscheinlich, daß dieses Gedankenmodell im wesentlichen richtig ist. Wenn wir auch nicht sicher sein können, so wollen wir doch versuchen, in diesem Sinne zu handeln.

 

 

Den obigen Beitrag entnamen wir mit freundlicher Genehmigung dem Buch “ Die neuen Grenzen des Wachstums“ von Donella Meadows, Dennis Meadows und Jorgen Randers, erschienen iin der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart 1992.

 

aus ICH 2/ 95