von Heike S. Buhl
Um es gleich vorauszuschicken: Dies ist kein Bericht einer „legendären Heilung“. Es ist ein kurzer Abriß der gemeinsamen Arbeit meines Patienten Jürgen und mir über dreieinhalb Jahre. Während dieser Zeit hat Jürgen viele äußere Umstände in seinem Leben verändert. Er hat Zugang zu seinen Gefühlen bekommen und gelernt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Seine Erkrankungen, wegen derer er zu mir kam, sind weiter vorhanden.
Ich möchte diesen Bericht trotzdem veröffentlichen, da in ihm unter anderem die Diagnose „HIV – positiv“ eine Rolle spielt. Ohne an dieser Stelle eine abschließende persönliche Stellungnahme zur sogenannten „AIDS – Diskussion“ vornehmen zu wollen, mehren sich die Zweifel an der kausal-linearen Auslösung der Krankheitssymptome, die unter dem Begriff „AIDS“ zusammengefaßt werden, durch ein sogenanntes „HI-Virus (Human Immunodeficiency Virus)“. Es wird diskutiert, ob es dieses Virus überhaupt gibt, und wenn ja, ob es – direkt oder indirekt – an der Zerstörung weißer Blutkörperchen beteiligt ist, oder ob es als solches ungefährlich ist und es zum Auftreten der „Aids – Symptome“ nur auf Grund anderer Risikofaktoren kommt (Drogemmißbrauch, Medikamente, Kontakt mit Fremdeiweiß, Geschlechtskrankheiten). Lebensstil, vorbestehende somatische Erkrankungen und psycho-soziale Faktoren könnten demnach zu einer erworbenen Immunschwäche führen (von Wilhelm Reich „Biophatie“ genannt), die – mit oder ohne HIV? – den Nährboden für seltene und lebensgefährliche Erkrankungen, in der Schulmedizin unter dem Namen „AIDS – Syndrom“ zusammengefaßt, bilden.
Dieser Artikel ist ein Versuch, an Hand einer Fallschilderung charakteristische psycho-soziale und bio-energetische Bedingungen aufzuzeigen, die mit dem Ausbruch dieser Erkrankungen in Verbindung stehen könnten, indem sie eine Schwächung der vegetativen Reaktionsbereitschaft des Körpers in Form einer Biopathie begünstigen.
Aus einem einzelnen Fall lassen sich natürlich keine Verallgemeinerungen ableiten. Dieser Artikel soll vielmehr ein Anstoß für andere Therapeuten sein, über dieses Thema in Austausch zu treten und Gemeinsamkeiten oder Differenzen in unseren Erfahrungen herauszufinden. Dieses würde die bisherige Diskussion durch konstruktive Arbeit an der Erforschung grundlegenderer Mechanismen als der der Virusinfektion ergänzen.
Wie es anfing – Vorgespräch
Ende Februar 1990 kommt ein junger Mann zu mir in die Praxis. Er ist 23 Jahre alt und weiß seit neun Monaten, daß er HIV – positiv diagnostiziert ist und daß die Gefahr besteht, an den unter der Bezeichnung „AIDS“ zusammengefaßten Symptomen zu erkranken. Dies ist nur eines seiner Anliegen, denn dieser Befund scheint für ihn nicht im Mittelpunkt zu stehen. Er leidet aktuell mehr unter zunehmenden manisch- depressiven Zuständen von jeweils mehrwöchiger Dauer, zudem hat er seit dem Alter von 8 Jahren wiederholt epileptische Anfälle, die aber seit drei Jahren nicht mehr aufgetreten sind. Medikamente gegen Epilepsie hat er kürzlich abgesetzt. Körperlich schwach fühle er sich, seit er 10 Jahre alt war. Seit zwei Jahren bemerke er ein Zunehmen von Grippe-Infekten. Er trägt eine Brille wegen leichter Kurzsichtigkeit (0.75 und 1 Dpt.) und Astigmatismus.
Jürgen sieht blaß aus. Während er zögernd zu mir spricht, schaut er auf den Teppich vor sich und malt mit dem Finger Striche auf den Boden. Er wirkt völlig in sich versunken und nimmt keinen Augenkontakt auf. Er erzählt von seiner Familie, dem stillen Vater, der starken Mutter, seiner Haßliebe zu ihr und wie er sich nur gegen ihren Widerstand vor zweieinhalb Jahren von ihr lösen konnte, indem er von seiner Heimatstadt in Bayern nach Berlin zog.
Jürgen arbeitet zu der Zeit als Erzieher in einem Schülerladen. Glücklich sei er nicht in seinem Beruf, oft fühle er sich überfordert in der Situation als Puffer und Vermittler zwischen Eltern und Kindern. Unterstützung erhalte er von seiner Kollegin, die „die Dinge in der Hand“ habe.- Privat lebt er mit seinem festen Freund Hans zusammen in einer kleinen Wohnung. Darüber ist Jürgen froh, meinte aber, der Freund sei wohl manchmal überfordert, ihn „immer aufzubauen“.
Sein Körper habe ihm noch nie Freude bereitet, berichtet Jürgen. Früher sei er sehr dick gewesen und die anderen Kinder haben ihn oft deswegen gehänselt. Von Kindheit an sei er oft krank gewesen und habe oft Antibiotika nehmen müssen. Er empfinde sich sehr kopfbestimmt, seine Gefühle müßten oft zurückstehen. Er leide unter dem Gefühl, „mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen“, manchmal sei es „wie in einem Glaskasten“. Von der Therapie erhoffe er sich, daß seine Depressionen aufhören, daß er wieder etwas mehr Lebensfreude empfinden könne und daß Gefühle und Denken mehr „im Gleichklang“ seien.
Dreieinhalb Jahre Therapie
In der ersten Therapiestunde versuche ich, die Verspannungen in Jürgens Körper ausfindig zu machen. Die Augen wirken leblos, das Kinn stark verspannt, so daß er davon schon einen Druck auf den Ohren spürt. Nacken und Schultern sind ebenfalls hart, der Rücken „breche zwischen den Schulterblättern durch“, dort spüre er eine „große Last“. Der Brustkorb bewegt sich beim Atmen nicht, sondern bleibt in Mittelstellung, Jürgen atmet nur mit Bauchatmung. Auch die Muskeln entlang der Wirbelsäule und im Beckenbereich sind sehr gespannt.
Jürgen wirkt insgesamt sehr „geladen“ bei einem harmonischen Körperbau. Er verspürt in der Therapiestunde den Wunsch, sich zu bewegen, aber gleichzeitig spürt er seine Ängste, die zunächst noch stärker sind.
In den folgenden Stunden ergründet Jürgen seine Anspannung, die Angst bindet und Sicherheit bietet. Er lernt aus der körperlichen Starre in Bewegungen zu gehen, durch die er sich lebendiger fühlt. Er berichtet, daß seine Mutter den Körperkontakt zu ihm im Alter von 5 Jahren jäh unterband. Sein Freund sei sehr zärtlich zu ihm, aber sexuell wünsche er sich von diesem mehr Aktivität. Schon seit drei Monaten sei es zu keinem sexuellen Kontakt mehr gekommen, was Jürgen sehr belastet.
Mit der Mobilisierung der Augen und des ganzen Körpers kommt Jürgen in Kontakt mit Gefühlen von Ärger und Traurigkeit. Statt ärgerlich zu werden, verfällt er aber gerne in Selbstmitleid und wird das „Opfer“ äußerer Umstände. In manchen Stunden geht der Kontakt zu ihm plötzlich völlig verloren: gerade an den Stellen, an denen ich eine ärgerliche oder laute, auf jeden Fall nach außen gerichtete Reaktion erwarte, sinkt Jürgen wie in sich zusammen und wird ganz still – oder schläft sogar ein. Es ist, als ob jemand „den Stecker rauszieht“, ein energetisches Absterben, wie eine Implosion an Stelle einer Explosion. Jürgen kann diesen Mechanismus auch wahrnehmen, zunächst projiziert er seine Wut aber noch nach außen: er spürt „gefährliche Kräfte in Räumen, die ihn lähmen Kannen“.
Im Laufe der Mobilisierung des Augensegmentes kommen wir auch auf den zeitlichen Beginn der Kurzsichtigkeit zu sprechen: dies war im Alter von 10 oder 11 Jahren, als Jürgen klar wurde, daß er sich zu Männern mehr als zu Frauen hingezogen fühlt. Dies brachte ihn in tiefe Konflikte mit seiner kirchlichen (katholischen) Orientierung. Auch von den Eltern zog er sich auf Grund seines Schwulseins zurück, andere Ansprechpartner gab es nicht. Erst mit 17 Jahren besprach er dieses Thema mit einem Lehrer und mit 19 Jahren hatte er seinen ersten Freund.
Nach einem halben Jahr unserer gemeinsamen Arbeit treten die körperlichen Symptome mehr in den Vordergrund. Jürgen fühlt sich schwach und depressiv, die Anzahl der roten Blutkörperchen ist gesunken, er nimmt Eisenpräparate ein. Während einer Stunde bricht er in tiefes Schluchzen aus und empfindet dann großen Ärger über sein Dasein. In dieser Stunde wird deutlich, daß Jürgen die Gefahr, an „AIDS-Symptomen“ zu erkranken, auch als Chance sieht, diese Welt bald wieder zu verlassen. Vor Jahren hatte er ein sogenanntes Nahtod- Erlebnis nach einem Fahrradunfall. Er erzählt, daß dieses sehr schön für ihn war und er sich seitdem in der Tiefe nach dem Tod sehnt. Er hat konkrete Suizidgedanken, aber auch hier kommt er wieder in Konflikte mit seiner religiösen Erziehung: Freitod ist ihm verboten. Wir besprechen dieses zentrale Thema immer wieder zu verschiedenen Zeitpunkten der Therapie: muß er wirklich Ja-Sagen zum Leben auf der Erde oder kann er schnell wieder verschwinden? Kann er auf der Erde bleiben und vielleicht sogar seinen Körper zurückerobern ohne allzuviel Leiden? Muß er sich „inkarnieren“ – im wahrsten Sinne des Wortes – oder gibt es einen unkörperlichen, spirituellen „short cut“ zur Seligkeit?
Am Tiefpunkt seiner Depression kommt es nach dreieinhalb Jahren Anfallsfreiheit zu einem erneuten epileptischen Anfall. Nach einem halben Jahr Medikamentenabstinenz muß er nun wieder Tabletten nehmen. Zeitlich fällt die anfallsfreie Zeit mit einer Zeit sexueller Aktivität zusammen. Zwar habe er beim Verkehr mit Männern meist keinen Orgasmus, dennoch scheint er dadurch tiefere Entladungen zu erleben als bei der Masturbation.
Im Lauf der Therapie treten insgesamt noch drei weitere epileptische Anfälle, vor allem nach Schlafentzug und in Zeiten starker emotionaler Belastung, auf. Jürgen erkennt ein Muster: die Anfälle kommen, wenn er „völlig überdreht“ im Bett liegt und nicht Einschlafen kann. Er kann mit der Zeit die Anfälle frühzeitig kommen spüren und sie zum Teil sogar durch eine veränderte Atmung noch abfangen. Er atmet dazu tief und ruhig in Brust und Bauch, versucht, die Atmung ungehindert „fließen zu lassen“ und bei geöffneten Augen stellt er sich vor, mit dem Ausatmen „Energie nach außen zu geben“. Jürgen versucht dann, den Körper wieder zu erden, um dem epileptischen „Abheben“ entgegenzuwirken: er streichelt Gesicht und Körper und vermeidet jede hastige Bewegung, bis die innere Unruhe aufhört. – Jürgen wird sich mit der Zeit bewußter, wann er sich überfordert und dadurch in Gefahr ist, einen Anfall zu bekommen.
Unsere gemeinsame Arbeit dreht sich im Wesentlichen weiter darum, Jürgen neue Möglichkeiten zu vermitteln, Energie zu entladen bzw. sich so zu verhalten, daß sich „nicht soviel in ihm anstaut“. Dabei geht es immer wieder um die Themen Grenzen ziehen und aggressives Verhalten. Jürgens verinnerlichtes Ideal sind Schneeweißchen und Rosenrot, die ihre Prüfungen nur bestanden, weil sie so lieb waren. Der Wolf in ihm ist zwar auch – grade noch – lebendig, aber nicht besonders präsent und durch die starken kirchlichen Verbote in Zaum gehalten. Vertiefte Atmung, Augenmobilisation, Öffnen der Kehle durch Auslösen des Würgreflexes und Töne, Mobilisierung der Arme durch Schlagebewegungen führen ihn langsam dahin, sich mit den aggressiven Anteilen in ihm vertraut zu machen. Starke Wut und Absterben lösen sich dabei immer wieder ab. Er erinnert sich, daß gegenüber der Mutter früher das „Absterben“ und „Dichtmachen“ der einzige Schutz waren, um nicht verschlungen zu werden. Daraus resultiert eine große Angst vor Nähe: bei einer Nähe-Distanz-Übung fühlt er sich schon bedroht, wenn ich näher als vier Meter an ihn herankomme.
Während dieser Arbeit wird Jürgen insgesamt klarer in seinen Empfindungen und seiner Ausdrucksweise. Schon seit längerer Zeit sitzt er zu Beginn der Stunde nicht mehr versunken vor mir, sondern erzählt gerne und offen. Je mehr er seinem unterdrückten Ärger Luft machen kann, desto mehr Kraft verspürt er in seinem Alltag. Er versteht jetzt, warum den Kindern in seinem Schülerladen das Balgen Spaß zu machen scheint. Die Augen sind immer wieder das entscheidende Ventil, sie reagieren stark auf die Körperarbeit: nach einem starken Wutausbruch kann er die Rillen in der vier Meter entfernten Fußleiste sehen! Andererseits sind die Augen auch immer die beste Möglichkeit, „dicht zu machen“, wenn die Wut ihm unheimlich wird.
Nach einem Jahr Therapie berichtet Jürgen, daß es ihm jetzt leichter fällt, sich Raum zu schaffen und seine Grenzen zu ziehen. Er wird insgesamt unbequemer für seine Mitmenschen, denn er äußert öfter seine Meinung und seine Bedürfnisse und reagiert auch mal ärgerlich. Dabei eckt er bei seinem Freund und seiner Arbeitskollegin öfter an. In einer Stunde, in der er seine „Wut im Bauch“ spürt, führen wir einen Kissenkampf durch. Dabei taucht die Phantasie auf, mich zu erwürgen. Die Wut ist wie ein „Teufelchen im Kasten“, das noch nicht ganz raus darf – zum Glück für mich!
Im Mai 1991 nimmt Jürgen sexuelle Kontakte außerhalb seiner Beziehung auf mit Billigung seines Partners. Sein Körpergefühl wird zunehmend besser, er genießt seine Sexualität, und die Phasen von Depression und manischem „Abheben“ verlaufen wesentlich gedämpfter. Seit seinem Urlaub im April trägt er keine Brille mehr, da er seine Kurzsichtigkeit als klar streßabhängig beobachtet.
Gerade jetzt rückt das Thema Immunschwäche wieder mehr in den Vordergrund: die Zahl seiner Helferzellen ist auf 320 abgesunken, sein Hausarzt hat ihm dringend geraten, das Medikament AZT zu nehmen. Jürgen ist völlig deprimiert. Wir besprechen wie bereits schon zuvor die Fraglichkeit der gesamten klinischen AIDS-Hypothese sowie mögliche Alternativen zur schulmedizinischen Behandlungsweise. Schließlich entschließt er sich, kein AZT zu nehmen. Er ändert nach und nach seinen ungesunden Ernährungsstil von viel Süßigkeiten zu ausgewogener, rohkostreicher Kost und hört auf zu rauchen. Außerdem bestellt er sich einen Orgonakkumulator, den er zunächst 20 – 30 Minuten am Tag benutzt ( Mai 1991).Angesichts seines insgesamt ja viel besseren psychischen und physischen Allgemeinbefindens machen ihn die Laborbefunde besonders zu schaffen: gerade weil er sich jetzt lebendiger fühlt, ist der Gedanke, daß er vielleicht doch an einer tödlichen Erkrankung leidet, für ihn viel schwerer zu ertragen! Im Gegensatz zur anfänglichen Todessehnsucht machen sich jetzt mehr lebensbejahende Impulse bemerkbar: Er fühlt sich „wie ein Schmetterling in einem Kokon“ und freut sich, „daß der Schmetterling noch lebt“.
Ende 1991 kommt es wieder zu einer längeren Krankheitsphase mit Stirnhöhlenvereiterung. Zu der Zeit beginnt Jürgen, seine Beziehung zu seinem Freund Hans in Frage zu stellen. In der Therapie kann er seine Wut inzwischen gut ausdrücken. Auf seiner Arbeitsstelle schreckt vor klärenden Gesprächen nicht mehr zurück. Anfang 1992 verläßt seine Kollegin den Schülerladen und er muß diesen vorübergehend alleine führen. Nach anfänglichen Ängsten gelingt ihm das überraschend gut und er bekommt mehr Vertrauen in seine Fähigkeiten – parallel dazu aber auch mehr Gefühl für seine Grenzen und für sein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung.
Im Januar 1992 beginnen wir mit energetischer Hochladungsarbeit. Dabei wird der Körper bei tiefer Atmung vorzugsweise in sog. Streßpositionen energetisch aufgeladen. Der Energiefluß kann im Körper gelenkt werden und gerichtete körperliche Entladungskanäle werden etabliert. Bei Jürgen arbeiten wir vor allem daran, die Energie, die er manchmal wie einen Ball oder Druck, aber auch als Kraft im Bauch spürt, mehr in die Peripherie, das heißt Arme, Beine und Kopf, zu leiten.
Ende Februar bekommt Jürgen wieder eine schwere Darmgrippe und ist mehrere Wochen krankgeschrieben. Im März bekommt er für einen Tag Fieber, was seit Jahren nicht der Fall war. Aus naturheilkundlicher Sicht ist das Fieber durchaus positiv zu bewerten: der Körper aktiviert wieder natürliche Abwehrechanismen, die zuvor „eingeschlafen“ waren. Jürgen verspürt ein Vibrieren im Bauch, das sich nach der energetischen Arbeit jeweils für eine Weile legt. Nach einer dieser Stunden fühlt er sich sehr kraftvoll und gleichzeitig eine große Ruhe im Bauch. Er schaut mich an und sagt: „Das ist ja schöner als Totsein“. Ich bin sehr berührt.
Im April 92 benutzt er den Orgonakkumulator jeden Tag zwischen 45 und 90 Minuten. Die Zahl seiner T4-Helferzellen ist von vorübergehend 260 wieder auf 400 angestiegen. Wir machen eine Phantasiereise durch den Körper. Jürgen schaut sich alle inneren Organe genau an und kommt zu dem Schluß: „50 % des Körpers sind noch ganz o.k.! Er ist zwar nicht grade ein Porsche, eher ein alter Trabbi, aber ein paar Jahre kann er noch halten“.
In den nächsten Monaten thematisiert Jürgen seine Unzufriedenheit mit seiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit. Er überlegt, welchen Beruf er wirklich gerne ausüben würde – Gärtner? Florist? – und welche Möglichkeiten zum Berufswechsel es geben könnte. Auch das geht nicht ohne gelegentliche Rückfälle in Kraft- und Hilflosigkeit ab, letztlich entschließt er sich aber zur Kündigung.
Anfang 1993 verläßt Jürgen den Schülerladen, zunächst ohne eine klare Vorstellung von seiner weiteren beruflichen Tätigkeit. Er möchte sich Zeit geben, in verschiedene Bereiche reinzuschnuppern. Jürgen beginnt einen Job in einer Sauna und arbeitet teilweise in einem Blumenladen mit. Dabei hat er viel zu tun und verdient wenig, trotzdem scheint es ihm damit psychisch und physisch besser zu gehen. Seine vielen Krankheiten lassen in diesem Jahr nach. Auch in seinem Privatleben gibt es Veränderungen: Jürgen trennt sich schließlich von seinem Freund Hans und sucht eine eigene Wohnung, da er auch vor dem alleine Wohnen nicht mehr solche Angst hat. Er macht neue Möglichkeiten ausfindig, seine Sexualität lustvoll und ganzkörperlich auszuleben.
Die Therapiestunden können allerdings wegen Geldmangel zunächst nur noch 14tägig stattfinden. Ende Juli beenden wir die Therapie, da die Krankenkasse eine Kostenübernahme ablehnt. Dies bedauern wir beide, aber die Tatsache, daß Jürgen jetzt auch ohne wöchentliche Unterstützung auskommt, ist andererseits auch Ausdruck seiner zunehmenden Selbständigkeit und Eigenverantwortung. Schließlich ist das letzte Ziel der Therapie ja, sich selber überflüssig zu machen!
In einem Brief mit „Abschließenden Therapiegedanken“ schreibt mir Jürgen, daß er durch unsere gemeinsame Arbeit Zugang zu seinem Körper gefunden habe. Ich sei die „Fahrlehrerin“ für sein Gefährt gewesen, fahren müsse er jetzt alleine. Er vertraue seinen Gefühlen und fühle sich klarer im Umgang mit seinen Mitmenschen. Den Orgonakkumulator benutzt er weiter täglich als „Kraft-Tankstelle“ oder „Ladegerät für sein Schutzschild“ und bemerkt oft eine Stimmungsaufhellung, während er ihn benutzt.
Resümee
Wie bereits am Anfang gesagt: Dies ist keine Geschichte einer Wunderheilung. Sie kann aber vielleicht einen Eindruck vermitteln in die vielen kleinen Schritte, die in einer Therapie passieren. Jürgen und ich sind ein Stück Weg gemeinsam gegangen und Jürgen hat inzwischen eigene Fähigkeiten entwickelt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Er hatte den Mut, sein Leben noch einmal von Grund auf zu überdenken. Er hat seine Arbeitsstelle, seine Beziehung, seine Sexualität und seine Wohnsituation verändert. Jürgen fühlt sich klarer in Auseinandersetzungen und freier im Umgang mit seinen Mitmenschen. Aus destruktiver unterdrückter Wut ist konstruktive Aggression geworden. Ob die Therapie die Gefahren seines geschwächten Immunsystems und damit des Auftretens lebensgefährlicher sogenannter „AIDS-Symptome“ langfristig gebannt hat, läßt sich nicht sagen. Sie hat aber sicher dazu beigetragen, daß Jürgen sich entschloß, die ihm „hier unten“ zur Verfügung stehende Zeit so gut wie möglich zu nutzen und das Beste draus zu machen, statt still und blaß auf die Erlösung durch den Tod zu warten.
Als ich ihn anläßlich dieses Berichtes nach dem aktuellen Stand der T4-Helferzellen fragte, sagte er: „Tut mir leid, weiß ich nicht. Das ist inzwischen so unwesentlich für mich geworden, daß ich nicht mal weiß, wo ich den Untersuchungsbefund abgelegt habe.“
In seinem abschließenden Brief hatte er geschrieben: „Zukunft hat ihr furchtbares Schreckensbild verloren und kleidet sich in allen Farben, die sich zu immer neuen Möglichkeiten des Seins verschmelzen.“
aus ICH 2/ 95