Was würdest Du/ würden Sie tun, wenn in diesem Land eine faschistische Regierung an die Macht käme?

Eine Frage an die ICH-Leserinnen und -Leser (1994)

***

Adolf Hitler war sicher kein Durchschnittstyp. Aber er war auch nachweislich weder so sexy noch so klug, daß ihm das deutsche Volk nahezu geschlossen zu Füßen liegen mußte (ob nun mit vor Rührung feuchten Augen oder dezent geballten Fäusten).

Schirinowski[1] macht’s möglich: Wir brauchen nicht mehr dabei stehenzubleiben, Erstaunen bis Abscheu über die massenhafte Anpassung unserer (Groß)Eltern zu formulieren.

Nachdem sich – ausgerechnet in einem angeblich traditionell antifaschistischen Land – der Mechanismus von Hitlers demokratischer Machtergreifung nahezu wiederholt hat (im Juli 1932 stimmten 37 % für die NSDAP, im März 1933 44 %), können wir auch auf die Jetzt-Zeit die Frage übertragen:

,,Wieviel Prozent der Deutschen würden sich gegen eine faschistische Regierung auflehnen?“ 

Ich versuch’s mal etwas konkreter:

 

Was würdest Du/ würden Sie tun, wenn in diesem Land eine faschistische Regierung an die Macht käme?

Bitte ankreuzen:

O emigrieren

O in offenen Widerstand gehen, auch bei Gefährdung

O des eigenen Lebensniveaus

O der beruflichen Stellung

O der eigenen Freiheit

O des eigenen Lebens

O heimlich Widerstand leisten

O gemeinsam mit anderen

O allein

O in Stammtischgesprächen

O mich anpassen und sehen, daß ich’s überlebe

O eine bessere Chance sehen, mich beruflich und persönlich zu verwirklichen

O weiß ich nicht

 

Ich müßte das letzte Kästchen ankreuzen. 

Andreas Peglau

PS.: Schreibt doch bitte, wenn Ihr zu wissen glaubt, warum es nicht so weit kommen wird oder was vorher dagegen getan werden kann. 

 

Aus Briefen

Lieber Andreas,

ich versuche hiermit, Deiner Aufforderung nachzukommen und zu Deiner Frage aus ICH Nr. 1/ 94 Stellung zu nehmen. Entschuldige, daß ich bei diesem Versuch persönlich werde, aber anders kann ich an diese Frage nicht herangehen.

Ich denke, daß ich ähnlich wie Du zunehmend die Ratlosigkeit der Menschen wahrnehme, die in ihrer Hilflosigkeit Lösungen in der Vergangenheit suchen, und dafür bieten sich zunächst mal einfache Lösungen mit klaren Feindbildern am ehesten an. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern fast überall in Ost- und Westeuropa. Alle wissen, daß sich gesellschaftlich etwas ändern muß, es darf nur nicht der persönliche Alltag sein und so wachsen Aggressionen, Angst und Gewalt.

Ich denke, daß in Deutschland der Hang zu faschistischen Lösungen nicht größer ist, als die Angst davor. Die Schlange Faschismus wird meiner Meinung nach weder durch Verdrängung noch durch Beschwörung gezähmt. Ich denke, wir haben im Westen und Osten unterschiedliche Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus, wobei auf beiden Seiten Fehler gemacht wurden, aber nicht nur. Mir ist also klar, daß mein Versuch der Auseinandersetzung nicht ohne weiteres in den Osten zu übertragen ist, auch was die Alltagserfahrungen angeht.

Ich lebe im Wedding, dem Berliner Stadtbezirk mit dem höchsten Anteil von Rep-Wählern, mit einem der höchsten Anteile türkischer Staatsangehöriger, gleichzeitig mit überdurchschnittlich vielen Sozialhilfe-EmpfängerInnen und Arbeitslosen, zu denen ich selbst zähle. Trotzdem nicht zu vergleichen mit dem sozialen Umbruch im Osten der Stadt, von dem hier kaum jemand etwas wissen will.

Und dieses Nicht-Wissen-Wollen scheint mir ein Punkt von Faschismus zu sein, ein übersteigerter Egozentrismus, der aus irrationalen Ängsten seine Lebendigkeit nur in Destruktivität ausdrücken kann. Ich bin davon überzeugt, daß auch keine Rep-Regierung ihr faschistisches Programm durchsetzen kann, genausowenig wie die SED ihr Programm trotz ihrer Verfügung über alle Machtmittel wie Medien, Betriebe, Mauer und Stasi wirklich in den Menschen verinnerlichen konnte. Die Existenz des internationalen Mediennetzes, der Verkehrsverbindungen und Kapitaltransfers helfen mit, daß sich ein Diktator a la Hitler, Mussolini, Franco oder selbst Schirinowski in Rußland nicht etablieren kann. Eher kann es zu einem alles zerstörenden Bürgerkrieg kommen. Gesetze sind das eine, wie sie gelebt werden, ist das andere.

Wir haben im Wedding Reps in der Bezirks-Verordneten-Versammlung und sogar als Stadtrat. Im Parlament erscheinen sie mir aber weniger gefährlich als im Alltag auf der Straße, besonders wenn sie besoffen sind. Wie ich da reagiere, kommt auf meine eigene Verfassung und Einschätzung der Situation an. Ich setze mehr auf meine Spontanität und Phantasie, als daß ich mich auf eventuelle Situationen vorbereite, weil sich meine Wirklichkeitswahrnehmung noch nie nach meinen Vorstellungen gerichtet hat. Wenn mich wirklich jemand ermorden will, kann ich das auch mit allen Sicherheitsmitteln nicht verhindern. Ich kann auch alltäglich verunglücken. Diese Art der Verdrängung gehört für mich zur Überlebensstrategie.

Nach meinen Erfahrungen wiederholt sich die Geschichte oder ein Ereignis nie auf die gleiche Art und Weise. Deshalb fällt mir die Beantwortung der Eingangsfrage auch so schwer, weil ich keine persönliche Erfahrungen mit Diktaturen habe. Ich sehe eher so etwas wie den 30jährigen Krieg auf Europa zukommen, als ein zweites l0ü0jähriges Reich.

Ich bin aber nicht nur pessimistisch. Ich treffe jeden Tag Leute, die heulen, lachen, lieben können, darüber hinaus Ideen, Phantasie und Humor haben. Sie wirken auf mich ansteckend. Ich halte es für den besten Antifaschismus, eine eigene Kultur mit eigenen und fremden Mitteln zu entwickeln – sei es schreiben, musizieren, tanzen, bauen, handwerkern – und außerdem statt Angst Neugier zu kultivieren und sich nicht gleich den eigenen Bauchnabel, so schön er auch immer sein mag, zum Mittelpunkt für die gesamte Welt zu machen.

Im Übrigen halte ich es mit Hans-Joachim Maaz: Zumindest die Deutschen haben die Regierung, die sie verdienen. Das heißt, Helmut Kohl verkörpert den Deutschen auch geistig zur Zeit am besten. Wenn wir, ich zähle mich mit dazu, eine faschistische Regierung verdienen, kriegen wir auch eine. Ich bin aber insoweit optimistisch, daß selbst in Deutschland keine Diktatur Bestand haben wird. Ihr Ossis habt uns doch vorgemacht, wie eine autoritäre Regierung gestürzt wird. Ich bin so optimistisch, daß ich uns Wessis auch spätestens unter bestimmten Umständen noch für lernfähig halte.

Lösungen sehe ich aber eher in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Am Experimentieren und an persönlichen Veränderungen kommen wir nicht vorbei, so oder so. Bei solchen Veränderungen gibt es keine Bestandsschutzversicherungen.

Mit freundlichen Grüßen: Friedhelm Sroke

PS.: Ich halte es gerade heute für wichtig, sich mit Unbekannten einzulassen, weil man dabei Fähigkeiten in sich entdeckt, die man sich selbst nicht zugetraut hat. Damit habe ich gerade in den letzten Jahren gute Erfahrungen gemacht. Sie haben auch mein Selbstvertrauen gesteigert, das auf eigenen Fähigkeiten basiert und nicht auf Abgrenzung zu anderen. Damit kann ich auch anderen begegnen, auch Nazis. Ich laß sie nicht nur reden, sondern hinterfrage sie, ohne sie anzugreifen und schon gar nicht moralisierend. Ich denke, bei Nazis kann man nur etwas bewegen, wenn man versucht, ihnen ihre irrationalen Ängste zu nehmen, und ihnen Raum gibt, sich zu bewegen und zu äußern und sie als Mensch ernst nimmt. Mit Dämonisierungen, so richtig sie auch sein mögen, bestätigt man sie nur noch mehr. Diese Arbeit können natürlich nicht ihre Opfer leisten, derer man sich genauso annehmen muß. Ich denke, daß gerade heute glaubwürdige Vermittler für Erwachsene-Kinder, Alte-Junge, Deutsche-Ausländer, Ossi-Wessi usw. wichtiger sind denn je. Diese Mittler bewegen sich selbst auf unbekanntem Terrain und müssen ihre Klienten dazu ermutigen, es ebenso zu tun und mit eigener Verantwortung.

 

Tag, Andreas!

Die Antworten auf die Frage ,,wir im Faschismus“ sind ganz einfach (,,ich weiß nicht“ trifft sogar ziemlich den Kern): jedeR würde das tun, was er/ sie gerade jetzt auch tut. Ich kann diese Gesellschaft schwerlich anders empfinden als als Fortsetzung des Faschismus mit anderen Mitteln. (Oder halt den Faschismus als Fortsetzung der ,,Demokratie“ mit anderen Mitteln). Zumindest gegenüber Kindern ist der Faschismus jetzt nach wie vor offensichtlich. Ebenso gehen wir faschistisch mit der Natur, vor allem mit Pflanzen um.

Worin unterscheidet sich das Leben des Bürgers in unterschiedlich regierten Gesellschaften? Doch gerade mal im angebotenen Tagesmenü der Möglichkeiten. Über das entscheidet er hier wie da nicht und an den Grundfragen: -Staat über den Bürgern, Bürger fürs Kapital, Kapital überhaupt, Staat überhaupt, bedingungslose Unbewußtheit usw. – ändert sich nichts, die tauchen so gut wie nirgendwo auf. Diese Gesellschaftsform richtet auch nur einen ganzen Planeten zugrunde + Menschen. Wer geht in den Widerstand? Wer emigriert? Dein Fragemenü im Editorial wird doch da nur zum Witz und der ist nicht mal zum Lachen. Mensch, Faschismus, den müssen wir verhindern! Das (ja was eigentlich!) darf nie wieder passieren! – Hahaha, aussichtslos! Wir sind mittendrin – die Entrüstung ist ein dünnes Mäntelchen im Kasperletheater.

Naja, in der Demokratie darf ja jeder sagen (und schreiben) was sie denkt. So long!

Roland Gorsleben, Zarneckla

 

Wenn dieses P.S. nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht noch über das Editorial gelächelt, oder mich über Dich, Andreas, sehr gewundert, denn diese Kästchen, echt, … kein Kommentar. Doch dann dieses P. S.: „… warum es nicht so weit kommen wird…“.

Wir haben eine faschistoide Regierung in Deutschland. Jetzt, heute und hier! Es ist also nicht die Frage, was ich tue, wenn in diesem Land eine faschistische Regierung an die Macht käme, sondern, was ich jetzt tue, um diese bestehenden Verhältnisse zu ändern.

Das heißt, ich müßte ein Kreuz dorthin machen, wo Du, Andreas, einfach vergessen hast, eins vorzusehen – nämlich bei ,,NICHTS“. Oder einfach zu wenig. Ich gehe seit 10 Jahren in den gleichen Betrieb (noch) zur Arbeit, mit eingehaltenen Arbeitszeiten von täglich 8 Stunden und keinem Wessi unter den gleichen Kollegen wie seit Jahren, erhalte dafür ein für Ostverhältnisse gutes Gehalt, habe seit einem Jahr lange Haare, seit 2 Jahren keinen Fernseher mehr, ein 18 Jahre altes Auto, fotografiere intensiv und habe meine linke Einstellung bewahrt.. Kurz, ich werde von meinen Kollegen so akzeptiert, wie ich bin, wobei ich hin und wieder stark bedrängt werde – insbesondere wegen des Bewußtseins (aber auch des fehlenden Fernsehers oder alten Autos).

Im Laufe der Jahre ,,lernte“ ich mich mit relativ einfachen Mitteln dagegen zu wehren … Aber heute schweige ich fast immer, wenn über die Menschen 2 Kilometer hinter der Neißegrenze gesprochen wird, wenn man am liebsten den polnischen, vietnamesischen Zigarettenhändler erschießen will und sich riesig freut, wenn die beim Kiffen erwischten katholischen Schwesternschülerinnen vielleicht für 10 Jahre nicht im Gesundheitswesen arbeiten dürfen.

Ich habe erkannt, daß es keine Änderung des politischen Systems geben kann, da dessen Grundlage das Ökonomische ist (Scheiß Marx). Ja, und dies zu ändern … würde bedeuten, daß man die Arbeit eines jeden Menschen auf der Welt so achten müßte, wie wir es mit unserer tun.

Nur ein Beispiel dafür: Welcher deutsche Mann weiß schon, daß die Nelke, die er seiner Liebsten bringt, eventuell aus Ekuador oder Kenia stammt und zum Beispiel aus Quito mit einem finanziellen ,,Aufwand“ von 0,07 DM (einschließlich Flug !) importiert wird? Der deutsche Gärtner braucht für die Aufzucht einer Nelke immerhin ca. 0,70 DM.

Ich habe heute keine Lust mehr, und auch nicht die Kraft, für Gerechtigkeit auf dieser Welt zu streiten.

Was also tun, wenn es zur offenen faschistischen Diktatur kommen würde? – so könnte man Deine Frage vielleicht auslegen. Die einfachste Lösung ist die feigste von allen, man verläßt das Land – schließlich will man ja weiterleben. Für offenen oder heimlichen Widerstand fühle ich mich jetzt nicht geeignet. Anpassen wäre möglicherweise schlecht machbar, da mein Maul dazu viel zu gerade gewachsen ist.

Heiko Kußmann, Dresden

 

… daß es ,,so weit“ kommen wird und nichts dagegen getan werden kann, dafür sorgt schon die Schule, die in allererster Linie einer Aufgabe dient: Herstellen, Aufrechterhalten und Reproduzieren leistungsorientierter Spannungsverhältnisse im Schüler.

Unter den gegebenen Umständen ist die Schule DER Diskriminierungsfaktor in der Gesellschaft. Sie erzeugt schwerste, in den seltensten Fällen reparierbare Befindlichkeitsstörungen. An erster Stelle steht ARBEITSKRANK: der Versuch, mit Fleiß und Ausdauer erlittene Erniedrigungen auszugleichen.

An zweiter Stelle steht Genußsucht, hervorgerufen durch ,,Du willst doch auch mal .. .haben/ …sein!“. Später bekommt und hat man sie dann auch, die ,,Genüsse des Lebens“, so wie jeder Erwachsene sie hat.

Verursacht durch die in der Schule erlittenen Diskriminierungen versucht der Deutsche, wie kein anderer, in kleingärtnerischer Flachkultur und Reisen, Arbeitskrankheit und Genußsucht zu kompensieren. Wie kein anderer verschlechtert der Deutsche dadurch seine territorialen Bedingungen im Lande, zerstört naturgesetzmäßig notwendige Freiräume – in der Natur und der Gesellschaft. Lebensrechte – und wieder insbesondere der Kinder – werden regelrecht hinter Zäunen und Schildern abgeschmettert. In diesem Sinne machen Rasenmäher die Städte ,,schön“, ,,pflegen“ Kettensägen die Wälder steril. Auch das ist GEWALT gegen die Natürlichkeit der Jugendlichen und Kinder, die diese AGGRESSIV gegen die Richtungen werden lassen, aus der Störungen ihres Wohlbefindens kommen.

Die Stärke der Aggressivität ist der erlittenen Erniedrigung identisch. Sie kann sich gegen sich selbst, nach außen, oder, was die Probleme grundsätzlich regeln würde, gegen die Verursacher richten.

Solange jedenfalls Besitz- und Machtgierige die Prämissen in den Orientierungen von Gesellschaften setzen, wird sich NICHTS und NIRGENDWO etwas ändern.

Karin und Rolf Siegel, Altenburg

 

Ich freue mich immer, wenn ,,ICH“ kommt und wenn ich mit gleich- oder ähnlichgesinnten Menschen zusammenkomme. Das macht immer wieder Mut und gibt mir Sicherheit, daß es vielleicht doch nicht ganz so absurd ist, was ich tue: mit anderen eine freie Schule gründen in der Nähe von Prenzlau (siehe Beitrag S. …, A. P.). Und vielleicht sind es doch ganz schön viele, die nicht mitmachen beim Faschismus, jedenfalls nicht so direkt.

Viele Grüße!

Thomas Schuberth, Augustfelde

 

 

Frühere Veröffentlichungen in ICH- die Psychozeitung 1/94 und 2/ 94 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

 

 

[1] Bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 1993 hatte die von Schirinowski geführte chauvinistisch-nationalistische, deutlich faschistoide Züge aufweisende Liberaldemokratische Partei Russlands 23 Prozent der Stimmen erhalten.