Zu meinem 40.

von Hanka Rieschel

Du hattest gerade deinen …Geburtstag, und tatest dich doch recht schwer damit, so schien es mir. Ich schenkte dir unter anderem ein Buch: “Die Wechseljahre des Mannes“ und hoffte, dir so mit einem Augenzwinkern auf die Sprünge zu helfen. Allerdings las ich es vorher schnell noch … naja, ein westdeutscher Autor für westdeutsche Männer, und doch … Ich tue mich mit dem 40., dem Älterwerden, dem „Wechsel“ in der Mitte des Lebens nicht so schwer wie du.

Heute (danach …) dachte ich darüber nach, ob irgendwas hätte anders laufen sollen in meinem Leben, als es gelaufen ist. Jetzt, wo meine ersten 40 Jahre rum sind, ziehe ich für mich Zwischenbilanz. Nichts hätte anders laufen sollen. So war´s richtig. Besonders die Psychotherapie vor 8 Jahren, die mein Leben sehr stark beeinflußt hat. Mein Rückblick ruft die Erinnerung an viel Leid, Krankheit und Verzweiflung wach. Du bist nicht der einzige, der an den Eltern, den Umständen, den Krankheiten … an Dir selbst … gelitten hat oder noch leidet. Nee, nee. Ich kann dir ein Lied singen z. B. von Migräneanfällen in der Kindheit, die ich nur im abgedunkelten Zimmer im Bett sitzend und heulend bis zur Bewußtlosigkeit überstanden habe. Oder die schweren, immer wiederkehrenden Nierenbeckenentzündungen mit monatelangen Krankenhausaufenthalten, in denen ich von meinen Eltern isoliert war. (Im Nachhinein: Vielleicht war das die wirksamste Medizin). Auch die ständigen Nasennebenhöhlenentzündungen mit Operation der Kieferhöhlen waren sehr lästig über die Jahre (wovon hatte ich wohl die Nase voll? Heute weiß ich´s). Magenschmerzen, immerzu Durchfall und Blutungen. Am meisten litt ich unter den ständigen Krämpfen in Waden und Füßen (hatte ich den Bodenkontakt verloren? Ja, fast.) Usw. bis zum Selbstmordversuch. Lauter „schicke Krankheiten“, hab ich eine vergessen, die dich nun annehmen läßt, bei dir wäre alles ganz anders? Nun stehe ich wieder mit beiden Beinen fest im Leben (oder auf dem Boden der Tatsachen, die zu erkennen mitunter sehr mühsam ist), bin gerne Frau und Mutter, hab mir Busen wachsen lassen, nicht mehr die Nase voll, und mir dreht sich auch nicht mehr der Magen um, weil ich gelernt habe zu erkennen, auszusprechen, zu ändern oder zu vermeiden, was mich krank macht. Manchmal kriege ich eine Bindehautentzündung, wenn ich mal wieder was nicht sehen will, oder mir wächst ein sehr schmerzhaftes Bläschen auf der Zungenspitze (wenn habe ich verletzt mit meiner spitzen Zunge?) Aber sonst …

Und was war der Preis? Die Traute, mich auf eine Psychotherapie einzulassen und nach der ersten Woche völlig zerstört im eigenen Selbstverständnis zu sein. „Du sahst aus, als kämst du nie wieder aus der Klapper“, sagte mein Mann später über mich. Und ich war auch total am Boden, ein Opfer meiner Geschichte und so auch voller Schuld. Ich mußte bei Null wieder anfangen. Und nie mehr damit aufhören. Es stellte sich heraus, daß es nicht möglich ist, bei Null anzufangen.

Ich schleppe mein Paket mit mir rum, aber ich kenne weitestgehend seinen Inhalt. Reagiere ich überzogen, so kann ich es dir sagen, daß ich gerade unangemessen reagiere, und ich sag dir auch gleich noch warum. Dann kannst du dich zwar immer noch ärgern, aber du hast die Wahl, Verständnis für mich zu haben. Tja, der Preis, weiter im Text: Der Bruch mit meiner Mutter, die ein halbes Jahr darauf starb … Kein Weiterführen von Familienveranstaltungen. Viel mehr Zoff mit meiner Schwester, die mir trotzdem sehr nahe steht. Sehr viel weniger Freunde („Freunde“?). Und ein ziemlich hartes Jahr nach der Therapie, was meine Kinder betrifft. Die drehten nämlich, nachdem ich mich sehr zurücknahm, den Spieß erstmal um. So saß ich dann oft weinend in der Ecke und mußte es ertragen, bis sie die neue Freiheit mit mir und nicht gegen mich leben konnten.

Ist das nicht `ne tolle Sache nach erst 40 Jahren? Stellt sich die Frage nach den nächsten 50, denn 90 will ich schon noch werden. Mal sehen. Morgen ist Montag …

 

aus ICH 2/ 94