Weltall, Erde, Ich. Über sinnvolles Handeln innerhalb einer widersprüchlichen Einheit (2000)

von Andreas Peglau

Das ausgehende 20. Jahrhundert hat Entwicklungen mit sich gebracht, die vor wenigen Jahrzehnten kaum zu erahnen waren. Der Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems, die wirtschaftliche Öffnung Chinas, „Globalisierung“, Internet- und Computerboom, Bio- und Gentechnologie und eine weltweite ökologische Krise sollen als Stichworte genügen. Unsere Welt ist dabei, sich in mancher Hinsicht radikaler zu verändern, als je zuvor seit Menschengedenken. Die alte Frage, wie wir am sinnvollsten leben und handeln können, steht wieder einmal neu.

Ich möchte im Folgenden einige Überlegungen vorstellen, die sich für mich ergeben haben, nachdem ich die Prinzipien der „Selbstorganisation“ und der „Verbundenheit“ in meine Suche nach Antworten mit einbezogen habe. Und, um es vorwegzunehmen: Ich bin der Meinung (und werde versuchen, diese zu belegen), daß alle Antworten zu kurz greifen, die nicht sowohl psychische als auch soziale, politische, ökologische, globale und wahrscheinlich sogar kosmische Aspekte berücksichtigen.

Doch beginnen wir bei der „Verbundenheit“. Ist es tatsächlich ein Merkmal des Lebens, verbunden zu sein? Wie intensiv sind die Zusammenhänge zwischen einem einzelnen Menschen und der Welt?

Verbundenheit 

Damit wir existieren können, damit unsere wichtigsten Bedürfnisse befriedigt werden, brauchen wir andere Menschen – von unserer Zeugung an. Bevor wir geboren werden, haben wir bereits neun Monate nicht nur im Kontakt mit unserer Mutter gelebt,1 sondern auch von ihr. Ein „asozialer“ Fötus ist nicht denkbar. Ein Säugling, der nicht nur durch Nahrungsaufnahme, sondern auch durch Lautäußerungen, Körper- und Blickkontakt mit den Menschen seiner näheren Umgebung in Beziehung treten kann, verkümmert oder stirbt.

Je erwachsener wir werden, desto intensiver binden uns Normen, Werte, Geld- und Warenkreislauf,2 bislang3 auch die arbeitsteilige Produktion an die Gesellschaft. Traditionen schlagen Brücken zu unseren Vorfahren, die von C. G. Jung beschriebenen Archetypen, das „kollektive Unbewußte“ scheinbar sogar zu den ersten Menschen.

Darüber hinaus sind wir von Anfang an auch mit unserer nichtmenschlichen Umwelt verbundene, ökologische Wesen. Kaum zur Welt gekommen, beginnen wir, „Pflanzenatem“ in unsere Lungen zu saugen – und uns umgehend mit Kohlendioxid bei unseren grünen Lebensgefährten zu revanchieren. Im weiteren Verlauf unseres Lebens ernähren wir uns, indem wir ehemalige Bestandteile anderer Lebewesen – ob Obst, Gemüse oder Fleisch – zu einem Teil unseres eigenen Körpers umbauen. Durch Biophotonen kommunizieren unsere Zellen nicht nur miteinander, sondern auch mit der Außenwelt.4 „Morphogenetische Felder“5 scheinen uns mit allen Lebewesen zu verbinden, unsere Gedanken, Gefühle, Ideen zu beeinflussen. Das Lebensenergiefeld unseres Planeten steht in ständiger Wechselwirkung mit unserem eigenen, die Art dieser Wechselwirkung entscheidet ebenso mit über unser individuelles wie über unser kollektives Befinden und Verhalten.6 Die Anziehungskraft des Mondes, die ganze Weltmeere in Bewegung setzt, beeinflußt mit Sicherheit auch unsere, vorwiegend aus Wasser bestehenden Körper. Die Wärme der Sonne durchdringt uns, ihre Strahlen machen unsere Knochen erst fest genug zum Laufen, ihre Energie ist die Voraussetzung für das gesamte irdische Leben.

Wir sind also auf das Intensivste mit unserer Umwelt verknüpft. Aber damit nicht genug: Die Übergänge zwischen ihr und uns sind fließend! Ab wann ist denn die Luft in meinen Lungen und in meinem Blutkreislauf, die Nahrung in meinem Magen-Darm-System schon „ich“? Und bis zu welchem Zeitpunkt? Ist derjenige, den ich im Spiegel sehe, nicht eine – teilweise unauflösbare – Symbiose aus einem Menschen und unzähligen (durchschnittlich 70 Billionen im Darm, 300 Millionen auf der Haut, 100 Millionen im Mund)7 Bakterien? Inwieweit sind die Pflanzen in meinem Zimmer, die sich ihre Zellen nicht zuletzt aus meiner Atemluft gebaut haben, ein Teil von mir – und umgekehrt: Inwieweit bin ich, der ich mir fortwährend den von ihnen ausgeschiedenen Sauerstoff einverleibe, ein Teil von ihnen?8

Haben sich nicht die Atome, aus denen wir zusammengesetzt sind, im Laufe der letzten paar Milliarden Jahre in allen möglichen belebten und unbelebten, irdischen und nichtirdischen Daseinsformen herumgetrieben? Nehmen wir darüber hinaus die Theorie des „Urknalls“ ernst (laut der am Anfang unserer Welt alles mit allem auf engstem Raum verschmolzen gewesen ist) wie auch die Behauptung der Quantenphysik, daß Teilchen, die irgendwann einmal zusammengehört haben, selbst dann noch aufeinander einwirken, wenn längst etliche Lichtjahre zwischen ihnen liegen9 – hieße das dann nicht sogar, daß wir wahrhaft kosmische Wesen sind, verknüpft mit der ganzen Welt seit ihrem Ursprung? Und dementsprechend wohl auch bis zu ihrem Ende, also über den individuellen Tod hinaus?

Einige neuere physikalische Theorien gehen allerdings davon aus, daß wir letztlich nicht aus kleinsten Materieteilchen bestehen, sondern daß diese Teilchen selbst nur herumwirbelnde Energie sind und daß daher alles, was existiert – uns eingeschlossen – ein schwingendes, tanzendes Gewebe ist aus ein und dem selben „Stoff“: pure Energie.10

Ob wir die letztgenannten Ansichten teilen oder nicht: Persönliche Probleme waren von denen, die der Rest der Welt hat, noch nie vollends zu trennen. Neu aber ist diese konkrete Ausprägung dieses Zusammenhangs: Eine menschengemachte weltweite ökologische Krise schlägt sich auch in lokalen Umwelt-Katastrophen nieder, die wiederum soziale Einbrüche nach sich ziehen – vor allem in der „Dritten Welt“. Je tiefer jene Völker ins Elend gestoßen werden, desto erpreßbarer werden sie, sich zu Minimalkosten als Arbeitskräfte einsetzen zu lassen – und liefern so zusätzliche Vorwände für den Sozialabbau in Westeuropa und anderswo. Die durch all das noch weiter an Einfluß gewinnenden destruktiven Ideologien – ob „rechts“, „fundamentalistisch“ oder sonstwie betitelt – machen erst recht nicht an Ländergrenzen halt. Und ihre fanatisierten Anhänger drehen auch hierzulande mit an der Gewaltspirale: um so erfolgreicher, je mehr Menschen Arbeit und Lebenssinn verlieren.

Mehr als jemals zuvor gilt daher heute: Wir helfen uns selbst, wenn wir positiven Einfluß nehmen auf die Situation anderer Menschen, auf Ökosysteme, auf unseren ganzen Planeten.

Aber wie soll das gehen? Welches soziale, politische und ökologische Handeln wäre am hilfreichsten in dieser verbundenen Welt? Das Prinzip der „Selbstorganisation“ kann uns helfen, diese Frage zu beantworten.

Selbstorganisation

Daß Leben keinen Stillstand duldet, ist klar. Daß Lebensvorgänge nicht linear verlaufen, daß z. B. unsere Körpergröße nicht lebenslang zunimmt, hat sich ebenfalls herumgesprochen. Aber (unser) Leben findet offenbar auch nicht, wie vielfach statt dessen angenommen, in Kreisläufen statt. Lebens“zyklen“ führen niemals exakt zu dem Punkt zurück, von dem sie ihren Anfang nahmen. Der konkrete Wassertropfen, der in den Himmel verdampft, kehrt nie wieder als Regentropfen auf die Erde zurück. Würden wir nach unserem Tod wiedergeboren, könnten wir doch niemals wieder dieselben Menschen werden – nicht nur, weil wir kaum erneut dieselben Erbanlagen haben dürften, sondern auch deswegen, weil die Erde sich inzwischen verändert hätte und daher anders auf uns einwirken würde. „Niemand steigt zweimal in den selben Fluß“, dieser Satz trifft den gleichen Sachverhalt.

Suchen wir nach einer Möglichkeit, Lebensvorgänge graphisch darzustellen, bietet sich deshalb statt des Kreises eher die Spirale an: Ein offenes System, das sich ständig verändert, weiterentwickelt, Neues schafft, an Punkte kommt, wo es nie zuvor war – und trotzdem auf dem davor Gewesenen aufbaut. Aber was treibt diese Spirale an?

Wird Wasser im Experiment kontinuierlich erwärmt, schlägt die zunächst unregelmäßige, chaotische Bewegung der erhitzten Wassermoleküle irgendwann in klare Strukturen um: Die Moleküle schließen sich zu unaufhörlich rotierenden „Walzen“ zusammen. Andere Flüssigkeiten bilden, wenn ihnen Energie zugeführt wird, Wabenstrukturen aus. 11

Was hier von außen, also künstlich herbeigeführt wird, läuft in der Natur scheinbar unaufhörlich „von allein“ ab.

Lebendige Systeme scheinen in sich nicht nur eine Tendenz zum letztendlichen Zerfall, zum Tod zu haben, sondern gleichzeitig eine Tendenz zu anwachsender Komplexität, zur „Selbstorganisation“.12

Nehmen wir uns Menschen. Mit Beginn unserer Existenz verfügen wir nicht nur über bestimmte – sowohl allgemeine als auch individuelle – Grundausstattungen, sondern auch über interne „Entwicklungsprogramme“ für die volle Entfaltung dieser Anlagen. Alles, was zu uns gehört, unsere sämtlichen Organe kooperieren genau zu diesem Zweck. Da diese Entfaltung außerdem auf sich ständig verändernde Bedingungen stößt, sind die jeweiligen Ergebnisse erst recht einzigartig. Selbst das, was sich diesem Prozeß zunächst scheinbar störend entgegenstellt, wird nach Möglichkeit zu einem Entwicklungsanreiz umfunktioniert.

Unsere Körperorgane beispielsweise verteilen Nährstoffe nicht nur – anlagegemäß – so, daß unser Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt optimal funktioniert, sondern sie variieren diese Verteilung auch in einer Weise, daß er wachsen, sich zu einem unverwechselbaren Individuum entwickeln kann. Außerdem sind sie in der Lage, veränderte Umweltbedingungen durch Kooperationsbeziehungen auszugleichen: Leber, Niere, Haut sorgen beispielsweise für unsere Entgiftung. Ist eins von ihnen vorübergehend geschwächt, arbeiten die anderen um so härter. Oder: Verstärkte Anforderungen an das Herz-Kreislauf-System können zu einem vergrößerten Herzmuskel führen – und damit zu erhöhter körperlicher Leistung. (Erst ein bestimmtes Übermaß dieser Anforderungen läßt dann diesen Prozeß in Herzschwäche umschlagen).

Wir haben also nicht nur eine Art Trieb zu Weiterentwicklung und Vervollkommnung in uns, sondern damit auch einen inneren Maßstab dafür, was gut für uns ist: alles, was dieser Vervollkommnung dient. Wir fühlen von Anfang an, was wir brauchen – körperlich, seelisch, sozial.13 Da wir diesen internen Kompaß haben, sind wir auch in der Lage, Umwege zu gehen, Kompromisse zu machen.

Organisieren sich Ökosysteme selbst?

Läßt sich das, was da im einzelnen Individuum abläuft, auch auf Gruppen von Lebewesen übertragen? Das wäre doch gut, denn dann könnten wir sagen: Ebenso, wie jeder und jede einzelne von uns eine Art gesunden inneren Kompaß hat, besitzt ihn auch jedes Kollektiv, jede Gesellschaft, jedes Ökosystem.

Beginnen wir bei den Ökosystemen. Steigt zum Beispiel durch veränderte Umweltbedingungen in einem Waldgebiet die Zahl der sterbenden Bäume, wächst in der Regel auch die Zahl derjenigen Insekten, die den abgestorbenen Baumbestand verwerten – dafür oft fälschlicherweise als „Schädlinge“ von uns bekämpft werden – und damit Platz für neue Pflanzen schaffen. Wenn ihre Aufgabe erfüllt ist, werden sie wieder weniger – auf Grund des sich wieder verringernden Nahrungsangebots und wegen ihrer natürlichen Feinde, die sich mit ihnen zusammen vermehrt hatten. Der Wald ist wieder „im Gleichgewicht“ – aber in einem anderen, als zuvor: Es können Bäume wachsen, die den veränderten Umweltbedingungen besser angepaßt sind.

Haben hier auch Entwicklungsprozesse stattgefunden? Eindeutig: Ja. Haben hier nicht auch Kooperationsbeziehungen das Problem gelöst? Ja – aber nur dann, wenn wir Fressen und Gefressenwerden ebenfalls als Zusammenarbeit gelten lassen, was zumindest ein deutlicher Unterschied zur friedlichen Kooperation unserer inneren Organe wäre.

Aber es gibt eine noch wesentlichere Frage: Halten wir die beschriebene Veränderung tatsächlich für „von langer Hand geplant“? Wollen wir wirklich annehmen, daß es auch für Ökosysteme eine Art internes Entwicklungsprogramm gibt, auf dem in groben Zügen vermerkt ist, in welche Richtung sich dieser Wald im Idealfall verändern sollte – so, wie bei jedem Individuum?

Ich halte das nicht für glaubhaft. (Nicht einmal dann, wenn ich die Möglichkeit der Existenz von Naturgeistern wie Elfen mit einbeziehen würde. Nehme ich die Geschichten über diese Wesen14 für bare Münze, dann sind sie dort, wo sie sich aufhalten, recht eigenständige, nicht unbedingt seßhafte Gäste, die sich auch nicht damit beschäftigen, das gegenseitige Fressen und Gefressenwerden anzukurbeln.)

Daher kann ich in einem Ökosystem auch keine „Selbstorganisation“ erkennen: Der Antrieb für die beschriebene Veränderung des Waldgebietes kam von außen, das Ökosystem hat nur reagiert. Der Impuls zur Neuorganisation wurde hineingetragen. Daß sich auch hier eine „Spiralbewegung“ ergeben hat, lag nicht an einer absichtsvollen Eigendynamik des Waldes, sondern nur an seinem Eingebundensein in weitere Zusammenhänge.

Anders formuliert: Jeder der beteiligten Bäume hat zwar ein lebendiges „Selbst“, das zur Organisation fähig ist – der Wald als Ganzes hat aber ebensowenig ein solches „Selbst“, wie durch das Zusammenleben von 20 Menschen in einem Haus eine „Kollektiv-Seele“ entsteht oder durch das Zusammenleben in Nationalstaaten eine „Volksseele“.

Natürlich kann es auch innerhalb einer Gruppe von Menschen zu hochdramatischen Handlungen kommen, nach denen „nichts mehr so ist, wie es war“. Nach einem verbindenden gemeinsamen Erlebnis können viele Einzelne „vervollkommneter“ sein als zuvor. Eine vorgegebene Entwicklungsrichtung für irgendeine konkrete menschliche Gemeinschaft oder gar Gesellschaft kann ich nicht annehmen. Bei der Selbstorganisation (jedenfalls so, wie ich sie verstanden habe)15, geht es eben gerade nicht um beliebige Eigendynamiken (irgend etwas schaukelt sich zu irgend etwas anderem auf), sondern um in einer bestimmten Richtung ablaufende Veränderungen.

Nun hat aber der Wald, von dem die Rede war, doch tatsächlich eine als positiv interpretierbare Weiterentwicklung erfahren: Etwas hat dafür gesorgt, daß er sich in einer Weise verändert, angepaßt hat, die sein Weiterleben im Ganzen möglich macht. „Der Wald“ selbst war es nicht – wer dann? Die einzelnen an der Umgestaltung beteiligten pflanzlichen und tierischen Individuen?

Absterbende Bäume können durch Geruchsstoffe Insekten anziehen, diese wiederum können ihre natürlichen Feinde beispielsweise durch die Farbe ihrer Flügel auf sich aufmerksam machen. Aber das für „Absicht“ zu halten, würde voraussetzen, daß all diesen Organismen ihre persönliche Existenz unwichtiger wäre als die des „großen Ganzen“: des Waldes. Tiere und Pflanzen kämpfen doch aber mit allen Mitteln um ihr Überleben! In Ausnahmefällen opfern sich Elterntiere zwar für den eigenen Nachwuchs – aber für den Erhalt eines Ökosystems? Kein mir bekannter Fakt spricht dafür.

(Außerdem: Sind nicht Ökosysteme tatsächlich, wie der Biologe Josef Reichholf16 betont, vorwiegend „reine Abstraktion“, im 20. Jahrhundert vorgenommene, mehr oder weniger willkürliche Abgrenzungen, die Erfaßbarkeit und Berechenbarkeit der Natur – deren Stoffumsätze u.ä. – vereinfachen sollten? Und oft genug sind sie durch Menschen angelegt oder zumindest mitgestaltet worden.)

Wer steckt hinter der Entfaltung des irdischen Lebens?

Aber betrachten wir eine noch viel grundlegendere ökologische Veränderung als die soeben beschriebene.

Vor etwa 4 Milliarden Jahren, im Erdzeitalter Hadäum, gab es zwar auch schon Wasser, die zukünftige Basis des Lebens. Aber dieses Wasser wurde durch chemische Reaktionen ständig zu gasförmigem Wasserstoff umgewandelt – der in den Weltraum entwich. Wäre das so weitergegangen, „wäre die Erde nach 2 Milliarden Jahren ausgetrocknet und böte jetzt das Bild eines toten Planeten wie Mars oder Venus.“17 Und nichts von dem, was wir heute „Naturgesetze“ nennen, hätte dem entgegengestanden. Im Gegenteil: Die physikalischen und chemischen Vorgänge, die zur Austrocknung geführt hätten, verliefen völlig „gesetzmäßig“; die Erde hätte sich eigentlich problemlos auf einen toten Gleichgewichtszustand einpegeln müssen.

Aber dann passierte etwas Erstaunliches: Bakterien entstanden und begannen, Wasserstoff in ihre Stoffwechselvorgänge einzubeziehen – und so auf der Erde zurückzuhalten. Ein Prozeß, der über eine Milliarde von Jahren anhielt und letztlich dafür sorgte, daß die Voraussetzungen für die Entfaltung des Lebens erhalten blieben und sich immer günstiger gestalteten.

Und damit nicht genug: Anschließend beschäftigten sich dieselben Bakterien zwei Milliarden Jahre lang damit, sich selbst wieder von der soeben eroberten Erdoberfläche zu vertreiben, indem sich einige von ihnen zunehmend auf die Produktion von Sauerstoff umstellten. Das war zwar pures Gift für die meisten dieser Mikroorganismen – aber neben Wasser die zweite notwendige Bedingung für die Entstehung des Lebens, wie wir es heute kennen. Alles Zufälle? Das halte ich für ausgeschlossen.

Doch wenn nicht, wer könnte dann solche umfassenden Veränderungen initiiert haben, wer könnte auch die Folgen der gigantischen Meteoriteneinschläge und anderer Katastrophen ausgeglichen haben, die immer wieder prägend waren für die Geschichte unseres Planeten? Wer ist in der Lage, seit vier Milliarden Jahren geologische, klimatische, biologische Prozesse, Entwicklungen in derart verschiedenen und ausgedehnten Ökosystemen wie Flüssen, Ozeanen, Regenwäldern so zu koordinieren, daß sich Leben nicht nur erhalten, sondern höherentwickelt hat? Wer hat den notwendigen Überblick, ist gleichzeitig mit allen dazugehörigen Lebensvorgängen verbunden? Wer hätte ein Interesse daran, verschiedene Individuen oder Gemeinschaften von Tieren und Pflanzen für Zusammenhänge zu instrumentieren, notfalls auch zu opfern, die weit über diese Tiere und Pflanzen hinausgehen? Wer könnte solche Prioritäten setzen: Im Zweifelsfall zugunsten der größeren Gesamtheit?

Doch wohl nur diese Gesamtheit selbst. „Gaia“ nennt sie der Geowissenschaftler James Lovelock18: Ein sich entwickelndes System, „bestehend aus allem Lebendigen und seiner Oberflächenumwelt, den Meeren, der Atmosphäre, dem Krustengestein“, das, „wie jeder biologische Organismus seinen Stoffwechsel und seine Temperatur selbst regelt, … Klima und chemische Zusammensetzung völlig selbsttätig“ reguliert.

Lovelock betont zwar (etwas ängstlich, wie mir scheint), daß sie keine Person sei, keine „vorausschauende und ein bestimmtes Ziel anstrebende Göttin“, aber er vergleicht sie immerhin mit einem Baum. (Ich denke allerdings: Nur ein Wesen, dessen Intelligenz unserer menschlichen unvorstellbar überlegen ist, kann die genannten kreativen Leistungen vollbringen.) Doch selbst ein Baum hat ja jenes interne Entwicklungsprogramm, jenen inneren Kompaß, jenen Drang zur Vervollkommnung – zur Selbstorganisation.

Aber erfüllt „Gaia“ jene Kriterien, die – außer selbstregulierten Stoff- und Energie“kreis“läufen – zumeist19 als unverzichtbar für Lebewesen angesehen werden: klare Abgrenzung nach Außen, zentrale Steuerinstanz, Fortpflanzung?

Die geforderte Abgrenzung ist eindeutig vorhanden, die Erde ist als Individuum erkennbar.

Was die zentrale Steuerungsinstanz betrifft, da kann ich nur den Umkehrschluß anbieten: Ist jenes hochkomplexe, langfristig abgestimmte Verhalten, welches ich beschrieben habe, ohne eine Instanz denkbar, die diese Abstimmung vornimmt? Zudem ist auch bei anderen Lebensformen strittig, daß diese Steuerung von einem ganz bestimmten Punkt, einer Zentrale, ausgeht. Wo sitzt sie in den Pflanzen? Selbst beim Menschen wird mittlerweile von Wissenschaftlern darüber gestritten, ob das Herz nicht mindestens genauso „steuernd“ eingreift wie das Hirn20 und ob es nicht auch aus neurobiologischer Sicht angebracht wäre, von einer auf alle Zellen und Organe im Körper verteilten „Körperintelligenz“ zu sprechen.21

Und was die Fortpflanzung betrifft, die ja auch bei den verschiedenen uns bislang bekannten Lebewesen auf ganz unterschiedliche Weise vonstatten geht: Ich denke, die sich abzeichnende Möglichkeit, das irdische Leben auf andere Planeten übersiedeln zu lassen,22 erfüllt diesen Tatbestand.

Kurzum: „Gaia“ ist offenbar ein sich selbst organisierendes Wesen. Daraus ergäbe sich, daß auch die Geschichte der Erde und des Lebens auf ihr keine zufällige, sondern eine ausgerichtete Entwicklung ist: ausgerichtet vielleicht darauf, das irdische Leben zu einer solchen Höherentwicklung anzutreiben, daß damit weitere Teile der Kosmos „befruchtet“ werden können.

Halten wir das Bild fest, das sich bis hierhin ergibt: Selbstorganisation scheint ein Grundzug aller Lebewesen zu sein. Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch und auch die Erde scheinen über diese Fähigkeit zu verfügen.

(Es finden sich sogar Theorien, die die Entwicklung des gesamten Kosmos als einen sich selbst organisierenden Prozeß auffassen.23 Die Frage nach einer „letzten Ursache“, nach dem Vorhandensein von etwas „Übergreifendem“ oder „Göttlichem“ ist jedoch auch damit keinesfalls erledigt – denn woher stammt das Prinzip Selbstorganisation, wer oder was hat dafür gesorgt, daß es in allen so unterschiedlichen Existenzformen enthalten ist, wie bzw. worin ist diese Information jeweils gespeichert? In den Genen? Planeten haben keine Gene. Und: Warum scheint die Selbstorganisation gerade auf das hinauszulaufen, was wir als Höherentwicklung bezeichnen – Spiralen können doch auch nach „unten“ streben?)

Störungen der Selbstorganisation

Offensichtlich handelt es sich bei der Selbstorganisation also um ein recht umfassendes Prinzip. Doch das Bild, welches unsere menschliche Kultur zur Zeit bietet, legt den Schluß nahe, daß wir den Kontakt dazu weitgehend verloren haben. Wodurch könnte das geschehen sein? Diese Frage führt uns wieder zum Thema „Verbundenheit“ zurück: Wenn auch jede(r) einzelne von uns gesunde Maßstäbe in sich trägt, kann er oder sie diese Maßstäbe doch nicht für sich allein verwirklichen.

In der Realität sind aber viele unserer „Beziehungen zur Welt“ in einem Maße gestört, daß diese Störung kaum noch als Anreiz für eine positive Entwicklung verwertet werden kann. Insbesondere in der sensiblen Anfangsphase unseres Lebens drohen uns bleibende Schädigungen durch Gift in Atemluft und Nahrung, Ozonloch, Elektrosmog oder atomare Strahlungsaustritte, durch lebensfeindliche Normen, nach denen wir erzogen werden, durch die aufgestauten negativen Gefühle unserer Kontaktpersonen. Die für eine funktionierende menschliche Selbstorganisation notwendige Kommunikation und Kooperation mit unserer Umwelt kommt vielfach nur unzureichend zustande.

Wir können daher unsere Anlagen und Talente nur sehr eingeschränkt entwickeln. Unsere Kreativität setzen wir weniger dafür ein, in uns und außerhalb von uns etwas Neues, Einmaliges zu schaffen, sondern vor allem, um uns an die einengenden Verhältnisse erfolgreich anzupassen.

Anders formuliert: Wir verlieren den Kontakt zu unseren gesunden inneren Maßstäben, orientieren uns auf neurotische Ersatzziele. Unsere Selbstorganisationsfähigkeit nimmt Schaden und wird ins Unbewußte verdrängt. Und mit jeder neuen, Verbundenheit und Selbstorganisation einschränkenden Situation, auf die wir nicht angemessen reagieren können oder dürfen, staut sich in uns Wut, Haß und Verzweiflung.24

Nehmen wir also an, Verbundenheit und Selbstorganisation bestimmen unser Leben: Alles entwickelt sich und alles ist miteinander verbunden. Lebewesen hätten, bewußt oder unbewußt, Kenntnis vom „rechten Weg“ und die Fähigkeit, diesen Weg zu gehen. (Vielleicht ist Liebe das Gefühl, das in dem Maß in uns entsteht, wie Verbundenheit und Selbstorganisation gleichermaßen funktionieren, wie wir über intakte Beziehungen verfügen, die es uns ermöglichen, unsere vielfältigen Bedürfnisse angemessen zu befriedigen. Vielleicht ist unser Wunsch nach einem solchen Zustand unser „guter Kern“?)

Machen wir uns von diesen Annahmen ausgehend an die Beantwortung der Anfangsfrage nach sinnvollem Handeln in der Welt.

Soziales Handeln

Welche zwischenmenschliche Hilfe ist am sinnvollsten? Offenbar jene Einwirkung auf andere, bei der sich die Helfenden mit der, wenn auch vielleicht verschütteten, Selbstorganisationsfähigkeit der Hilfsbedürftigen verbünden, mit deren Bestreben, sich selbst zu helfen, nach ihren eigenen gesunden Maßstäben zu leben. Sinnvoll ist also Hilfe zur Selbsthilfe.

Das setzt voraus, daß sich die Helfenden von der Idee verabschieden, sie könnten andere auf Dauer gegen deren Willen heilen oder retten. (Sicher kann ich einen potentiellen Selbstmörder einmal rechtzeitig aus dem Wasser ziehen. Wenn er anschließend die Probleme, die ihn zum Selbstmord getrieben haben, nicht lösen kann, wird er aber wahrscheinlich seinen Versuch irgendwann erfolgreich wiederholen.)

Damit untrennbar verknüpft ist, daß Helfende auf die Illusion verzichten, grundsätzlich über den anscheinend Hilflosen zu stehen, nur weil letztere sich zeitweilig und auch nur in Bezug auf ein bestimmtes Problem in einer instabileren Position befinden als diejenigen, die ihnen helfen.

Diese Haltung einzunehmen, dabei dürfte die Erkenntnis unserer gegenseitigen Verbundenheit nützlich sein: Auch die Helfenden sind ein Teil der Gesellschaft, die diejenigen mitgeformt hat, die heute als „Problemfall“ vor ihnen stehen, Teil der Umwelt, die jene krank oder unglücklich gemacht hat. Die Hilfesuchenden sind Symptomträger einer Störung, der zumeist auch die Helfenden ausgesetzt sind – Mangel an gesellschaftlicher Solidarität zum Beispiel. Wer heute hilft, kann daher schon morgen Hilfe brauchen.

Eine angebotene Hilfe wird deshalb auch um so sinnvoller sein, je mehr sich die Helfenden ihrer Mitverantwortung, ihrer eigenen Gestörtheit bewußt geworden sind und wenigstens angefangen haben, daran zu arbeiten. Nur dann, wenn sie selbst bereits in Kontakt zu ihren eigenen aufgestauten Gefühlen gekommen sind, werden sie auch die – jeder ernsthaften zwischenmenschlichen Annäherung in unserer Kultur unvermeidlich folgende – Konfrontation mit den aufgestauten Gefühlen der Anderen ertragen.

Eine Hilfe, bei der die Selbstorganisationsfähigkeit der Hilfsbedürftigen wieder erstarkt ist, müßte sich aber auch daran erkennen lassen, daß der erwünschte positive Effekt über die Dauer der Einflußnahme hinaus anhält.

Darüber hinaus sollte es eine gegenseitige Hilfe gewesen sein. So vielschichtig, wie wir miteinander verwoben sind, sollte im Falle einer erfolgreichen Hilfe irgendein positiver Effekt auf die Helfenden zurückwirken, ihr Leben oder Lebensgefühl bereichern, vielleicht ohne daß sie das (sofort) merken. Jeder andere Mensch, der an seiner Gesundung, an seinem Lebenssinn arbeitet, macht schließlich unsere (Um)Welt ein bißchen besser.

Aber selbstverständlich: Die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen oder selbst Hilfe zu bekommen, hängt auch von den gesellschaftlichen Umständen ab, unter denen wir leben – angefangen von Normen und Werten bis hin zu „Psychotherapie-Richtlinien“. Effektiv helfen zu wollen, schließt die Notwendigkeit politischen Engagements mit ein. Aber wofür soll ich mich zusammen mit wem engagieren, nach welchen Zielen könnte ich in Programmen von Bürgerbewegungen, Vereinen oder gar Parteien suchen? Läßt sich auch dazu etwas schlußfolgern aus unserer Verbundenheit und dem Wesen der Selbstorganisation?

Politisches Handeln 

Zunächst: Ebensowenig, wie ich Therapeuten, Ärzten oder Psychologen die Verantwortung für meine seelische und körperliche Gesundheit in die Schuhe schieben kann, kann ich von Politikern erwarten, daß sie mehr leisten, als bestenfalls günstigere Rahmenbedingungen für die Verbesserung meiner Lebenssituation zu schaffen. Nutzen kann ich diese Bedingungen nur in dem Maße, wie ich meine Selbstorganisationsfähigkeit erhalten oder wieder freigelegt habe, meine Störungen, meinen „Gefühlsstau“ abgetragen habe.

Da aber gerade das Macht-Haben besonders gut geeignet zu sein scheint, um sich von den eigenen Störungen abzulenken, werde ich bei Politikern kaum mit solidarischem Verständnis für meine Gesundungsbemühungen rechnen können. Eher mit ebenso irrealen wie arroganten Rettungs- und „Heilungs“versprechen.

Andererseits sind aber die Störungen meiner „Führer“ und „Führerinnen“ Symptome für die gesellschaftlichen Zustände, die ich im wörtlichen oder übertragenen Sinne gewählt habe und jeden Tag auf meine Weise mit gestalte.25 Auch hier ist es also konstruktiver, meinen eigenen Anteil an der Misere ins Visier zu nehmen, statt mit dem Verweis auf die Kaputten dort oben zu entschuldigen, daß ich nicht einmal in meinem persönlichen Umfeld etwas tue für ein sich stärker selbst organisierendes Leben mit intakteren Beziehungen: zum Beispiel, indem ich „fließende Autoritäten“26 in meiner Familie und meinem Arbeitskollektiv fördere – oder sinnvolle Therapieangebote in Anspruch nehme.

Wenn es allerdings stimmt, daß in Gruppen von Menschen keine Selbstorganisation im beschriebenen Sinne stattfindet, kann ich zwar erwarten, daß meine psychische Gesundung durch meine vielfältige Verbundenheit auch die Gesellschaft beeinflußt – aber ich kann mich nicht an einen ohnehin schon laufenden gesellschaftlichen Trend zum Besseren, zur gesellschaftlichen Höherentwicklung „ankoppeln“. Solche vorgegebenen Trends gibt es nicht innerhalb der Gesellschaft. (Wie wir noch sehen werden, findet sich möglicherweise aber doch noch etwas, was wir als Grundlage für eine angestrebte „Ankopplung“ nutzen können.)

Was heißt das? Offensichtlich, daß Alexander Neills Ausspruch „Freiheit heilt die meisten Übel“, der zwar für ein Kind in hohem Maße zutrifft, auf Gruppen von Menschen nicht automatisch übertragen werden kann. In Bezug auf menschliche Gemeinschaften können wir nicht sagen, daß gesunde soziale Maßstäbe sowieso vorhanden sind, denen wir einfach nur möglichst günstige Bedingungen verschaffen müssen, damit sie sich auswirken können. Oft ist das Gegenteil der Fall: Sind Menschen – wie die allermeisten von uns – erst einmal destruktiv gemacht worden, tragen wir auch dazu bei, destruktive Kollektive oder Kulturen aufzubauen oder zu erhalten.

Was heute zerstörerischen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegengesetzt werden kann, ist daher kein „freies Spiel der Kräfte“, keine „deregulierte“ Wirtschaft mit ihrem omnipotenten „Markt“, der schon alles richten wird – sondern das systematische Herstellen besserer Bedingungen für die Selbstorganisation in jedem und jeder Einzelnen (von der natürlicheren Geburt über die nichtrepressive Erziehung bis hin zu entsprechenden politischen Reformen).

Starre Hierarchien, die jede Selbstorganisation behindern und zum Aufstauen kollektiven Hasses geführt haben, sollten zwar abgebaut, die Unterdrückung von Völkern sollte aufgegeben werden – aber nicht durch Umschalten auf eine Art „soziale Deregulation“. Welcher Ausbruch von Haß, welche Bürgerkriege und Massaker einem plötzlichen Machtvakuum folgen, war in den letzten Jahren des öfteren – 1999 zum Beispiel in Indonesien – zu verfolgen. Statt dessen sollten die ehemaligen Unterdrücker einen Teil ihrer Schuld abtragen, indem sie sich zwar zügig aus ihren autoritären Machtpositionen zurückziehen – aber gleichzeitig gezielt günstigere Bedingungen schaffen für individuelle Selbstorganisation.

Blanke Utopie? Hat der politische Führer eines der größten Länder der Welt, Michail Gorbatschow, nicht erst vor kurzem etwas versucht, das durchaus auch so gewertet werden kann (ohne daß ich je gehört hätte, daß er von Selbstorganisation gesprochen hätte – aber doch zum Beispiel von mehr Eigenverantwortung und Kreativität).

Und ist nicht auch der Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems eindeutig ein Schritt zu mehr Selbstorganisations-Möglichkeiten geworden – auch für die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR? Daß viele von uns verdammt schlecht darauf vorbereitet waren, diese Möglichkeiten auch zu nutzen, daß das West-System gleichzeitig nicht in der Lage zu sein scheint, für unser – vielfach gestörtes – soziales, politisches und ökonomisches Verbundensein27 einen gesünderen Ersatz zu schaffen, das steht auf einem anderen Blatt.

Vielleicht läßt sich aber aus der zentralen Bedeutung der Selbstorganisation auch ein möglicher Ansatz für mehr Gemeinsamkeit, für sinnvolles politisches Engagement ableiten: mit jenen Menschen und Kräften in näheren Kontakt zu treten, für die Selbstorganisation (nicht unbedingt der Begriff an sich – aber dessen Inhalt) ein Ziel ist. Oder wenigstens ein Diskussionspunkt. Als Menschen haben wir die Chance, die nicht von vornherein vorhandenen Maßstäbe für unsere gemeinsame Zukunft miteinander zu erstreiten, einen Konsens über die erwünschte weitere Richtung unserer Entwicklung herzustellen. Der „Trend zur gesellschaftlichen Höherentwicklung“ muß von uns erarbeitet bzw. aufrechterhalten werden.

Aber wenn wir nicht bald die ökologische Krise in den Griff bekommen, brauchen wir uns keine Hoffnungen auf positive politische Veränderungen zu machen. Auf dauerhaft überschwemmtem oder ausgetrocknetem Land, unter krebserzeugenden Ozonlöchern und in vergifteter Luft gedeiht kein Utopia. Wie können wir also unsere bisherigen Erkenntnisse auf das Thema Ökologie anwenden?

Ökologisches Handeln

Auch in „Gaia“ staut sich seit Jahrhunderten etliches an. Ständig werden natürliche Fließprozesse von Wasser, Luft und Lebensenergie, werden Stoffwechselvorgänge zwischen den globalen Ökosystemen durch uns manipuliert oder blockiert. Auch hier gilt: Je länger und vergewaltigender wir diese Kräfte unterdrücken, um so furchtbarer werden die Rückschläge sein.

Wenn aber auch „Gaia“ ein lebender, sich selbst organisierender Organismus ist, haben wir Menschen weder die Chance, noch die Verantwortung, sie zu „heilen“ oder gar: sie zu retten. (Auch nicht mit Wilhelm Reichs „Cloudbuster“). Das kann sie nur selber tun, mit ihren eigenen Selbstheilungskräften. Wir können versuchen, diese Kräfte zu erkennen und möglichst gute Bedingungen dafür zu schaffen, daß sie sie einsetzen kann, ohne gigantische Zerstörungen hervorrufen zu müssen. Wir können beispielsweise „begradigten“ Flüssen wieder einen natürlicheren, geschwungeneren Verlauf ermöglichen und damit die Gefahr von Überschwemmungskatastrophen verringern. Und wir können vielleicht, nach gründlichstem Studium der gegenwärtigen Lebensphase und „Interessenlage“ von „Gaia“, dieselbe ganz vorsichtig dabei unterstützen, ihre Blockaden auf möglichst sanfte Weise zu lösen – offensichtlich auch mit einem „Cloudbuster“.28 Wir können „Gaia“ also helfen.

Aber ist das nicht völlig daneben: Wir als Helfer der Erde? Sind die Menschen nicht das größte Problem, das die Erde hat? Hätten wir nicht – sollten wir überhaupt in der Lage sein, uns zu bessern – genug damit zu tun, das Bestehende einfach nur zu bewahren?

Gegenfragen:

Sind wir nicht – siehe „Verbundenheit“ – selbst ein Teil von „Gaia“? Ist die Menschheit nicht als Element eines – damals vermutlich noch ziemlich intakten – sich selbst organisierenden globalen Lebenssystems entstanden? Heißt das nicht zugleich: Wir waren kein „Irrläufer der Evolution“, sondern eine Bereicherung? Und sind wir das nicht vermutlich immer noch, weil wir ansonsten schon längst als rein negativer Störfaktor „natürlich ausgelesen“ worden wären?

Was bedeutet es, wenn ein Viertel der tierischen „Biomasse“ unseres Planeten vom Menschen und vor allem von den von ihm gezüchteten Tieren auf die Waage gebracht wird29: Nur, daß wir Tiere schamlos für unsere Interessen ausbeuten oder nicht auch, daß wir auf diesem Planeten längst in enormen Maß lebensschöpfend tätig sind? Das Dasein von Schlachtrindern und -schweinen, von Legehennen und Stadtwohnungshunden lebenswerter zu gestalten, ist mit Sicherheit nötig, aber sollten wir uns nicht zudem klarmachen, daß es diese Tierrassen und die Billionen ihrer Vertreter (allein im Jahr 1999 waren es 20 Milliarden, drei Billionen Honigbienen nicht mitgerechnet)30 ohne uns nie gegeben hätte? Sollten wir uns, selbst dort, wo eine naturnahere Tierhaltung praktiziert wird, lieber wünschen, diese Lebewesen hätten nie existiert?

Wie ließe sich eine ausschließliche Lebensfeindlichkeit unserer Zivilisation damit ein Einklang bringen, daß „zwei Drittel aller überhaupt in Mitteleuropa vorkommenden Arten auch – und viele davon in beträchtlichen Beständen – in Großstädten leben“, daß „Berlin in seinem Stadtgebiet einen Artenreichtum bei allen daraufhin untersuchten Gruppen von Tieren und Pflanzen aufweist, der in die Qualitätsklasse hervorragender Naturschutzgebiete fällt“?31 Ist nicht überhaupt ein großer Teil dessen, was wir als „unbedingt erhaltenswerte Natur“ betrachten – mitteleuropäische Wälder und Feldfluren, ganze Küstenstriche der Nordsee, die Lausitzer Teichlandschaften, das Oderbruch zum Beispiel – längst auch ganz wesentlich mitgeformt oder sogar geschaffen durch uns Menschen?32

Ist nicht jeder Versuch des reinen Bewahrens angesichts eines sich selbst organisierenden – und das heißt, sich „gesetzmäßig“ ständig verändernden, weiterentwickelnden – Organismus Erde zum Scheitern verurteilt und sinnvollerweise zu ersetzen durch zunehmende Erkenntnis der Art und Richtung dieser Veränderung und unserer nicht-zufälligen Rolle dabei? (Vermitteln uns daher nicht auch Orientierungen auf Kreisläufe, inklusive Kreislaufwirtschaften u.ä., eine irreale Geborgenheit: „Alles im Lot, wir kehren ja nur immer wieder zu unserem Ursprung zurück“ – oder auch einen ebenso irrealen Fatalismus: „Es ändert sich eh nie was“?) Welchen vergangenen Zustand der Natur würden wir andernfalls als anstrebenswert, als „natürlich“ ansehen wollen: den vor der industriellen Revolution? Vor dem Patriarchat? Vor der Menschwerdung? Die Zeit, als die Erde vorwiegend von Bakterien bewohnt war? Den „Urknall“?

Hat die geo-bio-psycho-soziale Einheit Erde als Ganzes außer einer menschengemachten Belastung nicht auch eine menschengemachte Aufwertung erfahren durch den Bau Venedigs, durch Bachs Brandenburgische Konzerte, Goethes „Faust“, Van Goghs „Sternennacht“, Sigmund Freuds „Traumdeutung“, John Lennons „Imagine“, Stephen Spielbergs „Schindlers Liste“? Durch jedes Liebespaar, durch jedes Kind, das seine Welt staunend erkundet?

Und sind nicht auch in Zukunft Beiträge zur Entwicklung unseres Planeten vorstellbar, die nur von dessen menschlichen Bewohnern geleistet werden können? Vielleicht die Kommunikation mit außerirdischen Zivilisationen. Vielleicht, eine Abwehrmöglichkeit zu entwickeln für den nächsten großen Meteoriteneinschlag, der „Gaia“, alle Tiere, Pflanzen und uns vernichten könnte. Vielleicht … Doch halt: Soll das heißen, wir könnten die Erde doch retten?

Aber auch hier wieder nicht auf Dauer oder entgegen den größeren Zusammenhängen, in die sie als Himmelskörper einbezogen ist: Einem vereinzelten Meteor könnten wir möglicherweise etwas entgegensetzen, eine Ausnahmesituation „ausbügeln“; einer kosmischen Konstellation, die uns dauerhaft in einen ganzen Meteoritenschwarm hineinzieht, dürften wir kaum standhalten.

Und es lassen sich sogar Umstände denken, unter denen selbst eine solche Rettungsaktion ein Ausdruck von „Gaias“ Selbstheilungskräften wäre.

Gesellschaftlicher Fortschritt auf Initiative von „Gaia“?

Wenn „Gaia“ eine eigenständige Existenzform ist (die wir momentan vielleicht nicht besser erfassen können, als eine unserer Hirnzellen unsere Gesamtpersönlichkeit erfaßt – und die ich hier auch nur völlig unzureichend mit vermenschlichenden Attributen beschreiben kann), dürfte diese Existenzform – wie andere auch – an ihrem Dasein hängen und über spezielle Möglichkeiten verfügen, es zu erhalten – u.a. durch gezielte Einflußnahme auf all ihre „Bestandteile“, einschließlich der Menschen. (Auch der bereits zum Vergleich herangezogene Baum läßt weder seine Wurzeln noch seine Äste oder Blätter einfach machen, „was sie wollen“.)

Hätte die nachweislich mehrfache Erfahrung der erwähnten kosmischen Zusammenstöße33 für „Gaia“ dann nicht ein guter Grund gewesen sein können, uns früher als vielleicht ursprünglich beabsichtigt aus der (relativen) mütterlichen Geborgenheit der matriarchalen Epoche zu vertreiben, uns zu intensiverer Aktivität und Verantwortungsübernahme zu zwingen, sozusagen den wissenschaftlich-technischen Fortschritt „auszulösen“ – unter Zuhilfenahme jener von James DeMeo beschriebenen „Saharasia“-Verwüstung34, die anscheinend zum Patriarchat führte?

Wäre es nicht möglich, daß die erdverbundenere matriarchale Gesellschaft nicht oder zu spät zu jenem Entwicklungsstand gekommen wäre, den „Gaia“ schleunigst – was sind für die Erde schon 6.000 Jahre! – für nötig hielt? Daß jene Errungenschaften, die tolerante Feministinnen wie Sabine Lichtenfels35 dem Patriarchat zubilligen, wie „das objektive und historische Denken“, das Hineinbringen von „Analyse, Systematik und Ordnung in das Chaos der uns umgebenden Dinge“, aus Sicht von „Gaia“ für die Abwehr der nächsten dieser kosmischen Bedrohungen dringend erforderlich waren – so dringend, daß sie die ebenfalls abzusehenden negativen Auswirkungen „zähneknirschend“ mit in Kauf nahm? Daß sie, wie sonst auch, keine Chance hatte, es allen ihrer Bewohner recht zu machen, sondern sich zwischen zwei Übeln, zwei Gefährdungen ihres Daseins für die immer noch erträglichere Variante entscheiden mußte?

Und ist es völlig ausgeschlossen, daß wir mit der Abwehr eines solchen Meteoritentreffers einen noch umfassenderen Schaden verhindern würden? Nachdem wir uns mittels der Chaostheorie mit der Möglichkeit angefreundet haben, daß der Flügelschlag eines australischen Schmetterlings Wirbelstürme im Pazifik auslösen kann, ist erst recht nicht mehr undenkbar, daß das Auslöschen des Planeten Erde auch kosmische Konsequenzen nach sich ziehen könnte – über die Vernichtung einer vielleicht einzigartigen Spielart des Lebens hinaus. Wenn zumal das ganze Universum ebenfalls ein sich selbst organisierendes, verwobenes System wäre – also doch wohl ebenfalls ein Lebewesen (oder „Gott“?) -, könnte dann nicht sogar von diesem der Impuls für das gekommen sein, was uns in den letzten paar tausend Jahren widerfahren ist?

Aber noch einmal zurück auf die Erde, zu den speziellen Aufgaben, die „Gaia“ für uns Menschen parat haben könnte – auch außerhalb des Katastrophenfalls. Die Folgende wäre wohl die Wichtigste: das Ansiedeln des irdischen Lebens auf anderen Planeten. Spätestens wenn uns das gelingen sollte, hätten wir in „Gaias“ Lebenslauf eine entscheidende positive Rolle gespielt: als diejenigen, die ihre Fortpflanzung ermöglichten.

Bevor wir allerdings an die Erfüllung derartig „überirdischer“ Aufträge gehen könnten, müßten wir sicherlich unsere Forschungs- und Produktionspotentiale von deren Einsatz für militärische Stärke, Maximalprofit und Umweltzerstörung abziehen und zusammenfügen. Eine grundsätzlich umgestaltete menschliche Gesellschaft dürfte die Folge sein – und vielleicht eine globale Verfassung, in deren Paragraph 1 „Erdschutz“ und „kosmische Befruchtung“ als vorrangige Ziele definiert wären.

Sollten letztere Spekulationen nicht nur Ausdruck typisch menschlicher oder gar männlicher Selbstüberschätzung sein, hätte das noch eine weitere Bedeutung: Es finden doch soziale, gesellschaftliche Prozesse statt, für deren Ausrichtung „Vorgaben“ vorhanden sind – nicht an sich, sondern durch die Selbstorganisation „Gaias“. Anders gesagt: Wenn wir nach sich selbst organisierendem Fortschritt suchen, nach Sinn für manche äußerst widersprüchliche Veränderung auf unserem Planeten, nach Höherentwicklung, an die wir uns „ankoppeln“ können, werden wir vielleicht am ehesten fündig in – im Wortsinne – globalen „Trends“. (Auch bei diesem „Ankoppeln“ ginge es aber nicht um etwas völlig Neues, sondern um ein bewußteres, intensiveres Fortführen von Verhaltens- und Denkweisen, die wir seit langem üben. Beispielsweise, wenn sich unsere Landwirtschaft der Abfolge von Warm- und Kaltzeiten angepaßt hat. Oder wenn wir in unsere Zukunftsvisionen die Weiterentwicklung des Erdmantels, die „Kontinentaldrift“ mit einbeziehen oder den Zeitpunkt, zu dem die Sonne aufhören könnte, uns zu wärmen.)

In dem Maße, wie wir lernen, durch „Gaias“ Augen zu schauen, ihre Lebensrhythmen und ihre Eingebundenheit in noch größere, kosmische Zusammenhänge zu erfassen, können wir vielleicht verstehen, wohin die Reise geht – und was wir zu tun haben, um weiterhin mitreisen zu können.

Daß das keine Selbstverständlichkeit ist, ergibt sich schon aus Gaias Prioritäten: Für ihren Gesamterhalt opfert sie offenbar jederzeit einzelne Individuen oder ganze Arten, wenn diese ihren Zielen mehr im Wege stehen als sie zu fördern. Vermutlich würde sie das Verschwinden der Menschheit sehr bedauern – sie hatte schließlich Entscheidendes mit uns vor – und sich sofort daran machen, einen Ersatz für uns entstehen zu lassen.

Vielleicht käme dieser Ersatz allerdings zu spät. Mit anderen Worten: Vielleicht machen wir uns durch ein zu egoistisches Verhalten – das „Gaia“ dazu zwingen könnte, uns zu vernichten – nicht nur mitschuldig am Aussterben der Menschheit, sondern des irdischen Lebens überhaupt.36

Bewußte Kompromisse statt irrealer Sprüche 

Aber da wir gewollte und dringend benötigte Kinder der Erde zu sein scheinen, hat es andererseits auch keinen Sinn, uns künstlich klein und unwichtig zu machen – nach dem Motto „Wir brauchen die Natur, aber die Natur braucht uns nicht“. Würden wir diese Sprüche ernst nehmen und als Natur nur das ansehen, was nichtmenschlich ist, wäre die naturerhaltenste Verhaltensweise, die uns zu Gebote stünde, der unverzügliche kollektive Selbstmord.

Da wir aber selbst auch Teil der Natur sind, erscheint es mir sinnvoller – zusätzlich zu den weiterhin notwendigen Aktivitäten zum Schutz der nichtmenschlichen Natur – ohne lähmendes schlechtes Gewissen dazu zu stehen, daß wir uns als gleichwertigen und daher ebenfalls hilfswürdigen Bestandteil der Welt ernst nehmen.

Zum Beispiel so: Einerseits mindert der Schadstoffausstoß meines Autos die Lebensqualität des Alleebaumes, der dort angepflanzt wurde, wo ich zumeist parke. Andererseits hilft mir das Autofahren dabei, Zeit zu sparen und spontaner andere Menschen und Gegenden zu sehen – also meine Lebensqualität zu erhöhen. Statt, wie mittlerweile recht üblich, automatisch davon auszugehen, daß die Bedürfnisse des Baumes ökologisch, meine aber unökologisch sind, sollte ich die Tatsache akzeptieren, daß hier zwei verschiedenartige Geschöpfe mit in diesem Fall sich widersprechenden Bedürfnissen aufeinandertreffen. Wessen Wohlergehen für die Erde, geschweige denn für den Kosmos wichtiger ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber ich halte das Interesse an einer möglichst hohen Lebensqualität bei uns beiden für berechtigt. Es kann also nur darum gehen, bewußt abzuwägen, welches Interesse aus welchen Gründen in diesem konkreten Fall wichtiger ist oder ob ein Kompromiß (z. B. mehr Geld auszugeben für ein schadstoffärmeres Auto) möglich wäre – eine Aufgabe, die wohl eher ich zu übernehmen habe als der Baum.

Und mehr als ein Kompromiß ist und war ohnedies noch nie erreichbar. Auch beim Bau eines energieautarken Holzhauses werden unzählige im Boden befindliche Lebewesen vernichtet. (Manches spricht sogar dafür, daß es für die – nichtmenschliche – Natur am besten wäre, wenn alle Menschen in wenige Megacitys ziehen und dort in fünfziggeschossigen Betonhochhäusern wohnen würden: Zersiedlung, Verlegung tausende Kilometer langer Energieleitungen, Straßenbau und vieles mehr könnte so unterbleiben, riesige Freiräume für Pflanzen und Tiere geschaffen werden.)37 Bereits im Matriarchat bedeutete Besiedlung und Bekleidung auch Naturzerstörung. Der Stoffwechsel selbst eines vegetarischen Mönches beruht immer noch auf der Tötung pflanzlichen Lebens. Bei jedem Zähneputzen (ob mit oder ohne Zahnpasta) killen wir zuhauf Angehörige unserer Mundflora. Jeder Schritt, auch wenn ihn Angehörige einer Selbstversorger-Kommune auf biodynamisch bewirtschaftetem Boden machen, jeder Atemzug, auch wenn er einem „Om“ oder sonstigen Meditationssilben vorausgeht, kostet diverse Mikroorganismen die Existenz38 – und wenn wir gar alle Lebewesen als gleichberechtigt ansehen, machen auch Kleinheit und „niedriger“ Entwicklungsstand der Letzteren die Sache nicht besser.

Aber auch mit dieser Misere stehen wir nicht allein. Alle Tiere fressen Fleisch oder Pflanzen. Die Pflanzen verhindern dort, wo sie wachsen, das Erblühen konkurrierender Gewächse. Und „Mutter Natur“ selbst hat anscheinend Vernichtungen zu verantworten, deren Umfang weit über das hinaus geht, was der Mensch bislang angerichtet hat: Durch Meteoriteneinschläge, Klimawechsel, Vulkanausbrüche u.ä. sollen nicht nur vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgestorben sein (übrigens eine Katastrophe, die höchstwahrscheinlich erst die Entstehung des Menschen ermöglicht hat),39 sondern bereits im Erdzeitalter Trias 35 Prozent aller Tierfamilien hinweggerafft worden sein. Im Perm scheint dasselbe Schicksal 95 Prozent aller Wasserbewohner ereilt zu haben, im Devon 30 Prozent der Tierfamilien, im Ordovizium sogar 50 Prozent.40 Neunundneunzig Prozent aller Arten, die jemals die Erde bevölkert haben, sind nach gegenwärtigem Erkenntnisstand der Biologen nicht durch die Schuld des Menschen wieder verschwunden, sondern „einem natürlichen Aussterbeprozeß zum Opfer gefallen“.41

„Du sollst nicht töten“ ist also in dieser Pauschalität nicht nur eine unerfüllbare Forderung – sondern auch eine unnatürliche.42 Wie alle realitätsfernen Normen lenkt sie uns von der Einigung über das Machbare ab. Was wäre machbar? Vielleicht das: „Hilf Gaia, töte keinen Menschen und zerstöre auch ansonsten nicht mehr und nicht grausamer als unbedingt nötig“. Auch Urvölker haben nicht „besser“ gehandelt: Die spirituelle Verbundenheit mit dem Bären beispielsweise hat die Indianer nie daran gehindert, ihn – ob nun vor oder nach einem Dankritual – zu erlegen. Zu einer zeitgemäßen Variante davon könnte sich u.a. das Konzept der „nachhaltigen Nutzung“ der Natur entwickeln: eine Mischung aus Bewirtschaften und Schützen.43

„Der einzige Weg, der Natur beizustehen“, hat Max Horkheimer geschrieben, „liegt darin, ihr scheinbares Gegenteil zu entfesseln, das unabhängige Denken.“44

Wir haben schon immer auch auf Kosten anderer gelebt. Nur: Inzwischen sind diese Kosten so enorm gestiegen, daß wir schnellstens dazu übergehen müssen, sie radikal zu verringern, wenn wir überleben wollen. Wir sind dabei, „Gaia“ in Entscheidungsnotstand zu bringen. Genügend Wissen und Geld, ausgearbeitete Technologien, ethische Regeln, um statt dessen auch hier einen für uns vernünftigen Kompromiß herzustellen, sind längst vorhanden.45

Aber dieses Wissen wird nur unzureichend verbreitet, dieses Geld wird nach wie vor ungerecht verteilt, diese Technologien werden zu wenig gefördert, diese Regeln setzen sich nicht durch. Warum?

Nach meiner Überzeugung können wir heute keinem außermenschlichen Faktor mehr die Hauptverantwortung dafür zuschieben. „Politische Zwänge“ existieren oft ausschließlich in machtgeilen Politikerköpfen und freiheitsfürchtenden Untertanengeistern. Selbst ökonomische „Gesetze“ werden nur am Leben gehalten durch diejenigen, die diese Ökonomie betreiben, sind von deren Motivationen und Konsumtions-Gewohnheiten abhängig – und daher veränderbar. (Und nachdem ich während der DDR-„Wende“ hautnah miterlebt habe, wie schnell für „objektiv“ und „ewig“ erklärte „Wahrheiten“ mitsamt der auf ihnen basierenden Produktions- und Lebensweise sich in Luft auflösen können, bin ich sicher, daß auch in Zukunft kurzfristige grundlegende Veränderungen möglich sind.)

Was einer notwendigen Umgestaltung entgegensteht, findet in allererster Linie in uns und zwischen uns statt – es geht also vor allem um seelische und soziale Barrieren, die wir abbauen müssen, um unsere individuelle Selbstorganisation, die wir stärker in Gang setzen müssen; es geht darum, uns zunehmend in die Lage zu versetzen, die real vorhandenen Verbindungen zwischen uns und der Welt rational und emotional wahrzunehmen – und entsprechend zu handeln.

Wir, die wir uns momentan um das Erreichen solcher Ziele bemühen, stellen sicherlich eine „globale Minderheit“ dar. Aber lassen nicht zum Beispiel die Erfolge der Homöopathie darauf hoffen, daß auch in anderen Zusammenhängen relativ kleine „Heilmittel-Mengen“ helfende Wirkungen auf einen großen Gesamtorganismus haben können – nämlich dann, wenn sie über die „passende“, vom Organismus benötigte Information verfügen? Dürfte nicht innerhalb einer schon jetzt über sechs Milliarden zählenden Erdbevölkerung zu dieser „Minderheit“ doch eine sehr große Zahl von Menschen gehören? Bringen die positiven Aspekte der „Globalisierung“ nicht die Wahrscheinlichkeit mit sich, daß sich diese Zahl immer weiter erhöht? Sollten wir zusammen nicht einen zielgerichteteren Einfluß auf unseren Planeten nehmen können als ein Schmetterlingsflügel auf das Wetter? Bedeutet unsere vielfältige Verbundenheit nicht ohnehin, daß wir – selbst dann, wenn wir nicht in direkten Kontakt untereinander treten – eine gemeinsame Wirkung erzielen? Hätten wir nicht mit „Gaia“ eine wirklich mächtige Verbündete, die uns dabei helfen könnte, daraus eine neue gesellschaftliche, erdumspannende Qualität entstehen zu lassen? Und: Könnten wir Letzteres nicht wesentlich unterstützen, indem wir versuchen, eine Kommunikation zwischen „Gaia“ und uns zustande zu bringen und alle Fragen, die von gegenseitigem Interesse sind, auch gemeinsam zu „besprechen“? Intelligente Lebewesen sollten einen Weg finden, sich zu verständigen.

Ich denke also, wir können heute einiges dafür tun, daß die faszinierende Einheit Weltall, Erde, Ich nicht nur weiter besteht, sondern sich auch in Zukunft höherentwickelt.

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Anmerkungen

1) siehe in diesem Band (S. 119 ff) D. Chamberlain, „Das Ungeborene“

2) siehe „Zeitbomben auf dem Finanzsektor“ von A. Peglau in diesem Band, S. 368 ff

3) siehe „Globalisierung – eine Falle?“ von A. Peglau in diesem Band, S. 371 ff

4) siehe „Das Licht des Lebens“ von D. und I. Kerner, in diesem Band, S. 417 ff

5) siehe die Bücher von R. Sheldrake, u.a: „Die Wiedergeburt der Natur“, Scherz Verlag Berlin, München, Wien 1990 sowie „Wissen-schaft?“ von A. Peglau, in diesem Band, S. 406 f

6) siehe in diesem Band: B. Senf, „Himmelsakupunktur“ (S. 436 ff) und Braumann/ Peglau, „Von der Wüste ins Patriarchat – vom Patriarchat zur Weltverwüstung“ (S. 97 ff)

7) M. Gleich, D. Maxeiner, M. Miersch, F. Nicoley: „Life Counts. Eine globale Bilanz des Lebens“, Berlin Verlag 2000, S.28 f

8) siehe dazu auch J. Moewes: „Für 12 Mark 80 durch das Universum. Über Zeit, Raum und Liebe“, Zweitausendeins Verlag Frankfurt a. M. 1996

9) anschaulich erklärt bei F. Capra, „Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild“, Scherz Verlag Bern, München, Wien, 1990, S.85 ff

10) siehe D. Ash/ P. Hewitt: “Wissenschaft der Götter. Zur Physik des Übernatürlichen“, Zweitausendeins Verlag, Frankfurt a. M., 1998, vor allem die Seiten 21- 46. Aber bereits der allgemein anerkannte „Welle-Teilchen-Dualismus“ (oder auch Albert Einsteins Ausspruch, daß Materie gefrorene Energie sei) bedeutet doch wohl, daß wir uns – auch „schulphysikalisch“ – sowohl als materielle, wie auch als Energiewesen verstehen können.

11) siehe z. B. H. Haken: „Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken“, Rowohlt Verlag, Reinbek 1995, vor allem S. 49 – 94

12) John Erpenbeck verdanke ich, neben vielen weiteren hier verarbeiteten Denkanstößen, den Hinweis darauf, daß der ebenfalls gebräuchliche Begriff „Selbststeuerung“ eher einen relativ mechanischen, auf ein klares Ziel ausgerichteten Vorgang beschreibt (wie das Steuern eines Autos), während „Selbstorganisation“ stärker den nicht vorhersehbaren Charakter einer Entwicklung, z. B. das Umschlagen von einer Qualität in eine andere, betont – und letzterer insofern für Lebensprozesse der angemessenere Begriff sein dürfte (siehe z. B. J. Erpenbeck und V. Heyse „Die Kompetenzbiografie. Strategien der Kompetenzentwicklung durch selbstorganisiertes Lernen und multimedale Kommunikation“, Waxmann Verlag, Münster/ Berlin/ New York 1999). In diesem Sinn verstanden, deckt sich „Selbstorganisation“ meiner Auffassung nach auch mit dem von Wilhelm Reich geprägten Begriff „Selbstregulation“.

13) H.-J. Maaz in diesem Band (S. 34 ff) und in seinem Buch „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“, Argon Verlag Berlin 1990

14) wie sie z. B., in Anlehnung an Rudolf Steiner, von P. Tompkins erzählt werden in seinem Buch „Das geheime Leben der Natur“, Ansata Verlag 1998

15) Der Ansicht, daß in Laserstrahlen, Lebewesen, Demokratien und Wirtschaftssystemen gleichartige Selbstorganisationsprozesse ablaufen, wie sie S. Kauffmann vertritt in der „Der Öltropfen im Wasser. Chaos, Komplexität, Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft“, Piper Verlag München 1998 oder H. Haken in „Erfolgsgeheimnisse der Natur“ (s.o.) konnte ich mich nicht anschließen.

16) J. H. Reichholf, „Der blaue Planet. Einführung in die Ökologie“, dtv, München 1998, S. 61 ff

17) J. Lovelock: „Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen“, Scherz-Verlag Bern München Wien 1992, S.79. Auch die im Folgenden beschriebenen Prozesse der Erdentwicklung sind dort geschildert

18) ebenda, S. 11 bzw. in diesem Band, S. 430 ff

19) zum Beispiel von Reichholf (s.o.). Lovelock (in seinem o.g. Buch, S. 30) zählt die Zentralsteuerung nicht dazu.

20) siehe P. Pearsall, „Heilung aus dem Herzen. Die Körper-Seele-Energie und die Entdeckung der Lebensenergie“, Goldmann Verlag, München 1999

21) angesichts der Tatsache, daß in sämtlichen Organen und Zellen spezielle Rezeptoren für Neuropeptide (chemische Botenstoffe, die zuvor nur im Gehirn bekannt waren) entdeckt worden sind. So die Neurobiologin Candaze Pert, zitiert in Pearsall, „Heilung aus dem Herzen“ (s.o.), S. 369.

22) Für Erich Jantsch („Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist“, Hanser Verlag München, Wien 1992, S. 381) ist die Besiedlung des Kosmos einer von nur zwei möglichen Weiterführungen der irdischen Evolution und Selbstorganisation.

23) So der sich schon im Titel seines o.g. Buches ausdrückende Grundgedanke von E. Jantsch.

24) siehe u.a. „Sind wir alle potentielle Stalinisten?“ von H.-J. Maaz in diesem Band, S. 34 ff

25) siehe in diesem Band „Jeder hat den Partner den er verdient“ von H.-J. Maaz (S. 254 ff) und „Massenpsychologie des Faschismus“ von W. Reich (S. 70 ff)

26) siehe H.-J. Maaz „Das therapeutische Prinzip leben“ in diesem Band, S. 262 ff

27) Denn das „verbundenere“ System scheint mir der reale Sozialismus immer noch gewesen zu sein – bis dahin, daß selbst die Oppositionellen, wie H.-J. Maaz beschreibt (S. 34 ff in diesem Band) auf ihre Weise „integriert“ waren.

28) siehe in diesem Band „Himmelsakupunktur“ von B. Senf (S. 436 ff) und „Über den Förster und Erfinder Viktor Schauberger“ von A. Peglau, S. 425 f

29) J. Reichholf, „Der blaue Planet“ (s.o.), S. 46

30) Gleich u.a.: „Life Counts“ (s.o.), S. 272

31) J. Reichholf „Der blaue Planet“ (s.o.), S. 127 und S. 115

32) siehe H. Küster, „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart“, Beck-Verlag München, 1996

33) siehe u.a. E. Velikovsky, „Welten im Zusammenstoß“, Ullstein Verlag 1994

34) siehe Braumann/ Peglau, „Von der Wüste ins Patriarchat – vom Patriarchat zur Weltverwüstung“ in diesem Band, S. 97 ff

35) siehe A. Peglau, „Eine Einladung an die Männer“ in diesem Band, S. 232 f

36) Eine Möglichkeit, die mir erst durch die – per e-mail geführte – Diskussion meines Artikels mit Olf Dorlach (Zwickauer Mitglied des ich e.V.) bewußt geworden ist. Olf Dorlach, der seit etlichen Jahren intensiv über diese und andere Zusammenhänge nachdenkt, hat übrigens inzwischen angefangen, unter www.dorlach.de/zukunft seine Überlegungen im Internet zu veröffentlichen.

37) siehe dazu das reichlich provokante Interview „Raus aus der Natur!“ mit Peter Huber, in „Die Zeit“, 3.2.2000

38) siehe L. Nilsson, „Eine Reise in das Innere unseres Körpers. Das Abwehrsystem des menschlichen Organismus“, Rasch und Röhring Verlag Hamburg 1987, S. 112 ff

39) Erst nach dem Fall der bis dato anhaltenden Kriechtier-Vorherrschaft boomte die Entfaltung der zuvor kaum entwickelten Säugetiere. Siehe J. Reichholf, „Evolution – Fortschritt durch Katastrophen“, in Gleich u.a.: „Life Counts“, S.132 ff

40) ebenda, S. 24 f

41) ebenda, S. 132

42) siehe auch W. Wickler „Die Biologie der zehn Gebote. Warum die Natur für uns kein Vorbild ist“, Piper Verlag München 1991

43) siehe D. Maxeiner/ M. Miersch „Öko-Optimismus“, Rowohlt Verlag, Reinbeck 1999, S. 226 ff sowie der gesamte Abschnitt „Nutzen und Schützen“ in Gleich u.a.: „Life Counts“, S.164 ff

44) zitiert in Gleich u.a.: „Life Counts“, S.144

45) siehe in diesem Band u.a. „Die nächste Revolution“ von J. Randers, D. und D. Meadows (S. 395 ff), „Die Zukunft der Arbeit“ von J. Rifkin (S. 377), „Geistige Evolution und neue Kultur“ von D. Duhm (S. 409 ff), „Fließendes Geld und Heilung des sozialen Organismus“ von B. Senf (S. 427 ff), „Das Prinzip Verantwortung auf indianisch“ von A. Peglau (S. 414 f) sowie A. Hammonds Buch: „Projekt Erde. Szenarien für die Zukunft“, Gerling Akademie Verlag München 1998

 

(geschrieben in Weiterführung eines Beitrags aus ICH – Frühling 1997: „Ich … du … wir … alle … alles. Menschen- und Weltbilder als Voraussetzung zum Helfen“. Eine spätere Fassung erschien 2007 in Emotion. Beiträge zum Werk Wilhelm Reichs.)