Warum sieht er mich so an? Eine Beobachtung

 von Sabine Zelazo

Weihnachtsgeschenke muß ich einkaufen. Es wird Zeit. Nicht mehr lange, und die Familie versammelt sich unterm Weihnachtsbaum. Wir schenken uns nur Kleinigkeiten. Natürlich. Das sagen wir uns jedes Jahr. Ich schlendere ideenlos durch die Kaufhäuser, lasse mich anrempeln und schubsen, bin es eigentlich leid. Alles um mich herum ist so furchtbar laut. In jeder Abteilung beschallen mich andere Werbeslogans und Musik. Ich merke, wie ich unruhig und gereizt werde. Raus. Erst mal Luft schnappen.

An einem Imbißstand kaufe ich mir einen heißen Tee mit Zitrone. Es dämmert bereits, Lichterketten verströmen etwas Wärme und Festlichkeit. Die Menschen scheinen es nicht wahrzunehmen. Sie hasten an mir vorbei. Ich stehe im Weg, suche mir einen ruhigeren Platz. Eine Bank. Da setze ich mich kurz hin, dann werde ich nach Hause fahren.

Warum nur sieht mich dieser Junge dort unverwandt an? Es ist ein niedlicher kleiner Junge, fünf oder sechs Jahre alt. Aber er hat ja gar keinen Schal umgebunden und keine Mütze über den Ohren. Wer macht denn so etwas? Es weht ein ziemlich frischer Wind. Seine Jacke scheint mir auch nicht gerade die wärmste zu sein. Überhaupt: Er sieht so ernst aus. Große Augen, den Mund leicht geöffnet. Ob er vielleicht seine Eltern sucht? Neben ihm auf dem Boden steht eine große Tasche. Merkwürdig, wie er mich ansieht. So traurig, so allein.

Was mich treibt, weiß ich nicht, ich gehe zu ihm, gebe ihm von meinem Tee zu trinken. Ein kleines Leuchten kommt in seine Augen. Er friert. Warum nur steht er hier in der Kälte, ohne Schal und Mütze? Warum so allein? Er gibt mir den Becher zurück, bedankt sich schüchtern. Sein Blick klebt noch immer an meinem Gesicht. Ob er mir seinen Namen sagt, frage ich ihn. Er heißt Jonas. Seine Stimme ist so zart. Ich sage ihm, wie ich heiße. Für wenige Sekunden strahlt sein Gesicht. Dann nehme ich meinen Schal und wickel ihn um seinen schmalen Hals, erkläre ihm, daß ich schon groß bin und nicht so doll friere. Nun ist mir wohler und Jonas wärmer. Er taut sichtlich auf schaut mich fragend an.

Die Frage, die ich ihm nun stelle, ist offenbar die letzte, die er hören, geschweige denn beantworten will. Seine Miene verdunkelt sich sofort, er dreht sich weg. Das will ich nicht. Mir wäre lieber, er würde mit mir reden. Mein Blick fällt auf Jonas‘ Schuhe, ein Schnürsenkel ist nicht zugebunden. Ich beuge mich hinab, binde ihm eine Schleife und sehe seine Tränen. Leise weint er vor sich hin. Plötzlich schlingt er seine Arme um mich und weint und weint. Ich bin ratlos. Welchen Kummer mag dieser Junge haben? Die Menschen hasten an uns vorbei, nehmen keine Notiz. Es ist schließlich bald Weihnachten, jeder ist mit sich und den Seinen beschäftigt. Wen interessiert schon ein einsames Kinderherz, das mit seinen Sorgen allein ist? Sicher wäre auch ich vorbeigelaufen, wäre nicht der Appetit auf einen Tee über mich gekommen.

Was sich nun abspielt, ist kaum zu beschreiben und übersteigt mein Fassungsvermögen. Ein adrett gekleidetes junges Pärchen stürzt auf Jonas und mich zu. Wir werden unsanft getrennt, dem Jungen wird der Schal vom Hals gerissen. Ich möchte erklären, werde aber nur angefaucht, was ich von ihrem Sohn wolle. Jonas muß einen Schwall böser Worte über sich ergehen lassen. Er scheint daran gewöhnt zu sein. Die Starre in seinem Gesicht läßt das vermuten. Mich packt ein ungutes Gefühl. Warum Jonas hier vor dem Kaufhaus sich so selbst überlassen stand, weiß ich nicht. Den Beschimpfungen seiner Eltern kann ich nur entnehmen, daß er es nicht wert ist, gesucht zu werden. Sie zerren ihn und die Tasche mit sich fort, weiter auf ihn herabschimpfend. Er sieht mich an. Ich stehe da, mit dem Schal in der Hand und kann nun begreifen, weshalb er meine Frage nach seinen Eltern nicht beantworten wollte.

Noch immer herrscht emsiges Treiben. Das Gedränge hat sich weiter verschärft. Ich frage mich, ob noch jemand diese traurigen Kinderaugen gesehen hat, mitten im vorweihnachtlichen Einkaufsgewühl.

Benommen gehe ich zur S-Bahn und weiß:

Niemand hat auf Jonas geachtet.

 

aus Ich 4/ 94