Stasi-Liebe. Eine Kurzgeschichte

von Friedhelm Sroke

Herr. E. wurde 1952 in einem kleinbürgerlichen Elternhaus in Halle geboren. Sein Vater, das uneingeschränkt regierende Familienoberhaupt, hatte bereits 1946 die neuen Zeichen der Zeit erkannt. Er bekannte sich zu seinen Irrtümern der Vergangenheit und seiner Schuld und trat 1947 der neuen SED bei, mit der Begründung, seine Schuld als NSDAP-Mitglied gegenüber den Naziopfern so am besten abtragen zu können.

In Wirklichkeit lag eher Opportunismus als ein Gesinnungswechsel vor. Aufgrund der drei unterschiedlichen Besatzungsmächte war ihm die Zukunft im Westen höchst ungewiß, zumal er dort niemand kannte. Seine Heimat dagegen war ihm vertraut. Die Sowjets nahmen keineswegs an den Deutschen so eine Rache wie nach den Völkermorden und Zerstörungen in der SU zu befürchten gewesen war. Darum paßte er sich schnell an die neue herrschende Ideologie an und machte so trotz kleinbürgerlicher Herkunft und Nazivergangenheit im neuen Arbeiter- und Bauernstaat berufliche und Parteikarriere, was sich in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren auch materiell positiv auswirkte.

1949 heirateten E.s Eltern und zogen in ein eigenes Haus in Berlin. Freilich litt das Familienleben unter der starken Beanspruchung durch Partei und Gewerkschaft. E.s Mutter war glücklich, sich aus ihrem reaktionären Elternhaus gelöst zu haben und nun nach den harten Jahren als Trümmerfrau eine gutbezahlte Stellung im SED-Parteibüro zu haben. Ihren Sohn E. wußte sie gut in der Kinderkrippe aufgehoben. Von den Vorzügen des realexistierenden Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus war sie daher überzeugt.

E.s Eltern fühlten sich glücklich mit ihrem Leben und konnten nicht verstehen, daß ihr Sohn E. auf einmal gegen sie rebellierte. Er bekam doch alles was er wollte. Sie hätten noch nicht einmal davon geträumt, was für ihn selbstverständlich war: eine sichere Ausbildung, eine in ihren Augen sinnvolle Freizeitgestaltung in der FDJ, Reisemöglichkeiten in alle RGW-Staaten, ein eigenes reichausgestattetes Zimmer usw. Seine Altersgenossen im Westen hätten ihn darum beneidet, glaubten sie. Nach ihrer Meinung ließ sich E. zu sehr von der doch nur oberflächlichen westlichen Eleganz blenden, die westliche BesucherInnen in der Hauptstadt vorführten. Warum er nicht in den Westen durfte? Sie hatten keine Sehnsucht nach Rauschgift, Kriminalität, Drogen, Arbeits- und Obdachlosigkeit usw. und fanden gut, daß ihr Staat sie davor beschützte.

E. dagegen vermißte seine Eltern. Dauernd waren sie auf irgendwelchen Partei- und anderen Versammlungen. Nie konnte er sich mit ihnen offen aussprechen. Wenn er sich mit ihnen unterhielt, hatte er immer das Gefühl, gegen eine Phrasenmauer zu rennen. Die Mauer zum Westen hatten sie verinnerlicht. Leben war für ihn mehr als die alltäglichen Phrasen und Parolen wie z. B. ,,Mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz für den Frieden“ in allen Medien. Mit Hilfe seines Vaters hatte E. zwar Karriere gemacht, die aber nichts mit seinen Träumen zu tun hatte. So flüchtete er nach seiner Armeezeit, wie viele in seinem Alter, in die Ehe. Auch seine Frau flüchtete aus ihrem verlogenem Elternhaus. 1975 brachte sie N. zur Welt. So kamen sie relativ schnell an eine Neubauwohnung in Marzahn.

Der Bruch mit dem Elternhaus bedeutete für E. keineswegs den Bruch mit der Partei. Weniger überzeugt als sein Vater, aber noch pragmatischer, führte er, wie viele in seinem Alter, ein Doppelleben. Das gesellschaftliche Leben war ihm egal. Den Aufträgen durch Partei und Staat kam er bedenkenlos nach. So nahm er auch eines Tages einen Schnüffelauftrag über seine Nachbarfamilie an und entledigte sich so der lästigen Nachfragen nach seinem mangelnden gesellschaftlichen Engagement.

Seine NachbarInnen kannte er ohnehin nicht leiden. Diese hatten Westverwandte und protzten dauernd mit ihren Geschenken, mit denen sie das Ansehen in der ganzen Hausgemeinschaft gewannen. E. und seine Frau schmeichelten sich bei ihnen ein. Im Auftrag der Stasi sollte E. deren Ehe zerstören und sie von der übrigen Hausgemeinschaft isolieren, was ihm auch nach einiger Zeit mit Hilfe des Westbuches ,,Wie verführe ich meine Nachbarin“ gelang. Der Nachbar zog aus. Frau F. blieb E.s Nachbarin. E. brachte der erfüllte Stasiauftrag partei- und beruflich nach oben. Dafür wuchsen die Konflikte mit dem eigenen Sohn N.

Familie E. wurde ziemlich unvorbereitet von der Wende erwischt. Zwar erkannten sie auch in den 80er Jahren die ständig wachsende Diskrepanz zwischen der Theorie in den Medien und der Praxis in der Wirklichkeit, aber auf so einen schnellen Wandel waren selbst E.s nicht eingestellt. So wendig wie sein Vater trat er nun aus der SED aus und in die CDU ein, weil er so seine berufliche Stellung am sichersten glaubte. Nach dem 18.3.1990 brach er auch seine Zusammenarbeit mit seinem Stasi-Führungsoffizier ab. Seine eigenen Unterlagen, insbesondere seine Berichte über seine Nachbarn, konnten nicht mehr vernichtet werden. Aufgrund seiner im Auftrag der Stasi und seiner Fähigkeiten geglückten Annäherungsversuche an seine Nachbarin F. hatte sich seine Frau von ihm getrennt. Sein Sohn zog in die Mainzer Straße um. E.s Eltern resignierten. Seine Zukunft war höchst ungewiß, obwohl seine neue Partei am 3.12.1990 die Wahlen eindeutig gewonnen hatte. Seine ehemaligen KollegInnen, NachbarInnen und FreundInnen wendeten sich von ihm ab. Er erhielt sogar Morddrohungen.

Er sah sich selbst als Stasiopfer. Seine eigene Arbeit für die Stasi hatte er verdrängt. Nachdem feststand, daß Stasiopfer ab Januar1992 Akteneinsicht nehmen dürften, beantragte er diese auch für sich. Seine plötzliche Isolation mußte doch Gründe haben.

Im Sommer 1992 nahm E. Einblick in seine Vergangenheit- und war empört. In immerhin 10 Ordnern á 50 Blatt fand er sein öffentliches und privates Leben exakt festgehalten wieder. Sowohl von seiner Frau wie von F. war er als Opportunist charakterisiert worden. Das schlimmste für ihn war, daß die detaillierten Berichte über sein Privatleben keineswegs erfunden waren.

Wütend klingelte E. nach dieser unerfreulichen Lektüre bei F., um sie zur Rede zu stellen. Dabei vergaß er ganz, daß er durch seine eigene Stasiarbeit ihre Ehe kaputt und sie von der Nachbarschaft isoliert hatte.

Aber das wäre für ihn sowieso etwas ganz anderes, nicht vergleichbares gewesen. Solche intimen Berichte hatte er verdrängt. F. lud ihn tatsächlich zur Aussprache ein. Nach lautstarken verbalen Attacken gingen beide zu Handgreiflichkeiten über. Beide schlugen sich ihre seit Jahren angestaute Wut aus ihren Körpern und verloren dabei alle Ängste und Hemmungen. Die Wohnungseinrichtung wurde in Brennholz verwandelt. F. riß E. büschelweise die Haare vom Kopf. Sie kratzte und biß ihm fast überall tiefblutende Wunden. Ihr blaues Auge, ihre blutende Nase, die zwei verlorenen Schneidezähne und die blauen Flecke an Armen und Körper spürte sie gar nicht mehr in ihrer Wut. Beide waren außer sich.

Nach einiger Zeit ließen bei beiden die Kräfte nach. Die wüste Schlägerei verwandelte sich in eine Balgerei. Auf einmal nahmen beide den gegenseitigen Rhythmus ihrer tiefen Atemzüge und ihrer Körper wahr. Bei beiden verwandelte sich Haß und Wut in sexuelle Lust. Den Rhythmus ihrer Körper und den Atemrhythmus behielten sie bei. Doch ihre Körper öffneten sich jetzt zueinander und paßten sich in ihren Bewegungen gegenseitig an. So einen tiefen Orgasmus erlebten sie das erste Mai in ihrem Leben. Danach streichelten sie sich zärtlich über ihre frischgeschlagenen Wunden und siehe da – seine blutenden Wunden verwandelten sich in kleine, kaum noch sichtbare Schrammen. Die ausgerissenen Haare wuchsen sichtbar wieder nach. Aus ihrem Körper verschwanden die Schmerzen und die blauen Flecken. Augenbraue, Nase und Mund nahmen wieder die gewohnten Formen an. Nur die Zahnlücke erinnerte an die wüste Schlägerei. Zur Erinnerung an diese denkwürdige Prügelei befestigten sie sich beide je einen Zahn an ihren Halsketten. Sie fühlten sich beide gemeinsam frei und wie neugeboren.

Beide hielt es nun nicht mehr in ihrem bürgerlichen Milieu. Sie zogen in eine Landkommune in der Nähe Berlins. Dort traf E. überraschend seinen Sohn N. wieder. Ihre Beziehung verwandelte sich aus einer hierarchischen Vater-Sohn-Beziehung in eine gleichberechtigte Freundschaft. Auch zu F. entwickelte N. eine tiefe Zuneigung, an der auch die von F. eingestandenen Berichte über N. an die Stasi nichts änderten. N. spürte wie alle, daß ihre jugendlichen, wachsenden Kräfte über die erbärmlichen Kreaturen, die sich hinter Macht und Geld versteckten, siegen würden. Ihre Konflikte lösten sie wesentlich friedlicher am Konsensprinzip orientiert statt mit Gewalt, z.B. durch vertauschte Rollenspiele. E. und F. entdeckten in der neuen Umgebung bisher ungekannte kreative Potentiale. Freilich fiel ihnen der neue kommunikativere Lebensstil am Anfang nicht leicht. Beide hatten selbständiges und kollektives Leben bis jetzt nicht gekannt. Schmerzhaft mußte vor allem E. feststellen, wie weit ihm sein eigener Sohn voraus war, der so unbeschwert lebte wie er es früher nur geträumt hatte. F. hatte weniger Schwierigkeiten mit dem neuen Lebensstil. Sie war praktischer veranlagt und froh, sich aus der finanziellen Abhängigkeit ihrer arroganten Westverwandten gelöst zu haben. Statt Haß, Neid, Gewalt und Angst bestimmte nun Liebe, Vertrauen, Kreativität, Phantasie und gegenseitige Hilfe ihr Leben.

 

aus ICH 3/ 94

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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