Selbsterkenntnis oder „Flucht nach innen“?

Eine Frage, im Sommer 1990 aus aktuellem Anlass an Rudolf Bahro gestellt.

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In der gegenwärtigen Situation der DDR scheint alles Mögliche wichtiger zu sein als eine Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte oder den eigenen unbewußten Motiven. Welche Bedeutung würdest du trotzdem in dieser Zeit und in diesem Land Fragen der Selbsterkenntnis und -verwirklichung beimessen? Was hätten wir dadurch zu gewinnen? Und: Wie groß ist dabei deiner Meinung nach die Gefahr, daß es nur zu einer ,,Flucht nach innen“, einem bloßen Abwenden von der Realität kommt?

Andreas Peglau

 

Wieso trotzdem? Was es da jetzt alles zu tun gibt, um den Anschluß nicht zu verpassen, nimmt sich sowieso blindlings sein Recht. Es geht natürlich gerade um den Überschuß an Energie, der nicht von der zunächst vielleicht verschärften Sorge um den Alltag aufgefressen wird. Diejenige existentielle Sorge, die uns hauptsächlich erfüllen müßte – um die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch unseren alltäglichen Existenzkampf -, kann sich gar nicht hinreichend geltend machen ohne „Aufklärung nach innen“. Die Panzerungen, Spannungen, Neurosen, Ressentiments, Blockaden etc. sind ebenso viele Beeinträchtigungen unseres Welterkennens, sind die Ursache dafür, daß wir meist bloß „Betroffene“ und insoweit überhaupt nicht wahrheitsfähig sind.

In der DDR bieten wohl die Werke von Wilhelm Reich und Erich Fromm den besten Zugang, aber es geht eigentlich um ein noch viel weiteres Feld als Psychoanalyse.

Mir scheint, als habe das Abendland mit Sigmund Freud auf seine spezifisch materialistische Weise die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gelenkt, den etwa Laudse und Buddha schon vor über 2.000 Jahren für existenzentscheidend hielten. Wir sind geneigt, uns mit der Frage zu begnügen, warum der Mensch sich so unglücklich in der Welt einrichtet. Und dann möchten wir – wofür es tatsächlich gute Gründe gibt – die Umstände so einrichten, daß sich unser Potential voll entfalten kann. Aber ist nicht der Menschengeist die Ursache aller Umstände, die seine Entfaltung hindern? Geht nicht, daß wir Kultur schaffen, allem Unbehagen in der Kultur voraus? Zumindest die Disposition für die moderne Psychokatastrophe muß schon immer dagewesen sein. Es liegt – gewissermaßen – in Wirklichkeit „nichts an den Eltern“. Warum zerstört der menschliche Geist die Erde, warum stört er das natürliche Gleichgewicht? Ist es „unnormal“, ist es nicht „naturwüchsig“ hergegangen bei der Überlagerung des „biologischen Kerns“? Vielleicht ist Selbstbeschränkung doch wichtiger als Selbstverwirklichung – die zumindest im Westen meist platt egozentrisch betrieben wird.

Aktivisten müssen niemals vor der „Flucht nach innen“, sie müssen vor der Flucht nach außen gewarnt werden. Nach einem der ältesten Weisheitsbücher, das in der DDR wunderbar übersetzt bei Reclam vorliegt, nach Laudses Dau De Dschin (die meisten werden Brechts Legende von der Entstehung des Tao Te King kennen) wird jeder Mensch, der handelt, ohne mit dem Sinn und Wesen des Ganzen eins zu sein, die ohnehin gestörte Harmonie nur noch mehr stören. Meist ist ja die Art und Weise, wie wir Ordnung schaffen und halten, selbst schon störend. Sinnvolle Weltveränderung fängt mit der Selbstveränderung an. Deshalb hat Václav Havel neulich nach Menschen gefragt, die beides verbinden: sich selbst und die Welt verbessern. In der Regel machen sogar diejenigen einen Fortschritt, die dann zum Weltverbessern eine Weile nicht mehr kommen, wenn sie erst einmal den schwankenden Boden ihrer selbst wahrgenommen haben.

Wahrscheinlich wird das bei uns für weniger Leute so auseinanderfallen wie im Westen. Für mich ist es geradezu der notwendige Durchgang zu einer Regeneration meines politischen Engagements gewesen, mich auf den Weg nach innen einzulassen.

Rudolf Bahro

 

Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 1/90 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.