Psychoanalyse und Marxismus

von Sigmund Freud

In der DDR war immer alles mögliche ,,marxistisch“: Staat, Partei, Jugendorganisation, Ideologie, Kultur. Aber wer von uns hat Karl Marx überhaupt gelesen (über die obligatorischen Lehrbuch-Zitate hinaus) – geschweige denn verstanden?

Bequemerweise ist das jetzt erst recht nicht mehr nötig: Was wir jahrzehntelang nur als Phrase vor uns hergetragen haben, können wir nun mit gutem Gewissen endgültig als ,,völlig überholt“ in die Ecke werfen – ohne es zu kennen. Schließlich versichern uns selbst anerkannte Marx-Experten wie der CDU-Politiker Norbert Blüm: ,,Marx ist tot.“

Auch Sigmund Freud war weit davon entfernt, ,,Marxist“ zu sein. Seine Kritik dieser Weltanschauung – mit der er 1932 die letzte seiner 35 ,,Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ abschloß – ist gerade deshalb interessant. Und sie ist äußerst anregend, was Ernsthaftigkeit, Konsequenz, Toleranz und Fairneß betrifft im Streit mit Andersdenkenden (wer auch immer das gerade ist).

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Ich vermute, Sie wissen von dieser Sache mehr als ich und Sie haben längst Stellung für oder gegen den Marxismus genommen. Die Untersuchungen von K. Marx über die ökonomische Struktur der Gesellschaft und den Einfluß der verschiedenen Wirtschaftsformen auf alle Gebiete des Menschenlebens haben in unserer Zeit eine unbestreitbare Autorität gewonnen. Inwieweit sie im einzelnen das Richtige treffen oder irregehen, kann ich natürlich nicht wissen. Ich höre, daß es auch anderen, besser Unterrichteten nicht leicht wird.

In der Marxschen Theorie haben mich Sätze befremdet wie, daß die Entwicklung der Gesellschaftsformen ein naturgeschichtlicher Prozeß sei, oder daß die Wandlungen in der sozialen Schichtung auf dem Weg eines dialektischen Prozesses auseinander hervorgehen. Ich bin gar nicht sicher, daß ich diese Behauptungen richtig verstehe, sie klingen auch nicht ,,materialistisch“, sondern eher wie ein Niederschlag jener dunklen Hegelschen Philosophie, durch deren Schule auch Marx gegangen ist. Ich weiß nicht, wie ich von meiner Laienmeinung frei werden kann, die gewohnt ist, die Klassenbildung in der Gesellschaft auf die Kämpfe zurückzuführen, die sich seit dem Beginn der Geschichte zwischen den um ein Geringes verschiedenen Menschenhorden abspielten. Die sozialen Unterschiede, meinte ich, waren ursprünglich Stammes- oder Rassenunterschiede. Psychologische Faktoren, wie das Ausmaß der konstitutionellen Aggressionslust, aber auch die Festigkeit der Organisation innerhalb der Horde, und materielle, wie der Besitz der besseren Waffen, entschieden den Sieg. Im Zusammenleben auf demselben Boden wurden die Sieger die Herren, die Besiegten die Sklaven. Dabei ist nichts von Naturgesetz oder Begriffswandlung zu entdecken, hingegen ist der Einfluß unverkennbar, den die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte auf die sozialen Beziehungen der Menschen übt, indem sie die neugewonnenen Machtmittel immer auch in den Dienst ihrer Aggression stellen und gegeneinander verwenden. Die Einführung des Metalls, der Bronze, des Eisens hat ganzen Kulturepochen und ihren sozialen Institutionen ein Ende gemacht. Ich glaube wirklich, daß das Schießpulver, die Feuerwaffe Rittertum und Adelsherrschaft aufgehoben hat und daß der russische Despotismus bereits vor dem verlorenen Krieg verurteilt war, da keine Inzucht innerhalb der Europa beherrschenden Familien ein Geschlecht von Zaren hätte erzeugen können, fähig, der Sprengkraft des Dynamits zu widerstehen.

Ja, vielleicht zahlen wir mit der gegenwärtigen, an den Weltkrieg anschließenden Wirtschaftskrise auch nur den Preis für den letzten großartigen Sieg über die Natur, die Eroberung des Luftraums. Das klingt nicht sehr einleuchtend, aber wenigstens die ersten Glieder des Zusammenhangs sind klar zu erkennen. Die Politik Englands fußte auf der Sicherheit, die ihm das seine Küsten umspülende Meer verbürgte. Im Moment, da Bleriot den Kanal im Aeroplan überflogen hatte, war diese schützende Isolierung durchbrochen, und in jener Nacht, als in Friedenszeiten und zu Übungszwecken ein deutscher Zeppelin über London kreiste, war wohl der Krieg gegen Deutschland beschlossene Sache. (So wurde mir im ersten Kriegsjahr von vertrauenswürdiger Seite mitgeteilt.). Auch die Drohung des Unterseeboots ist dabei nicht zu vergessen.

Ich schäme mich beinahe, ein Thema von solcher Wichtigkeit und Kompliziertheit vor Ihnen mit so wenigen unzureichenden Bemerkungen zu behandeln, weiß auch, daß ich Ihnen nichts gesagt habe, was Ihnen neu ist. Es liegt mir nur daran, Sie aufmerksam zu machen, daß das Verhältnis des Menschen zur Beherrschung der Natur, der er seine Waffen zum Kampf gegen seinesgleichen entnimmt, notwendigerweise auch seine ökonomischen Einrichtungen beeinflussen kann.

Wir scheinen uns weit von den Problemen der Weltanschauung entfernt zu haben, aber wir werden bald wieder zur Stelle sein.

Die Stärke des Marxismus liegt offenbar nicht in seiner Auffassung der Geschichte und der darauf begründeten Vorhersage der Zukunft, sondern in dem scharfsinnigen Nachweis des zwingenden Einflusses, den die ökonomischen Verhältnisse der Menschen auf ihre intellektuellen, ethischen und künstlerischen Einstellungen haben. Eine Reihe von Zusammenhängen und Abhängigkeiten wurden damit aufgedeckt, die bis dahin fast völlig verkannt worden waren. Aber man kann nicht annehmen, daß die ökonomischen Motive die einzigen sind, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. Schon die unzweifelhafte Tatsache, daß verschiedene Personen, Rassen, Völker unter den nämlichen Wirtschaftsbedingungen sich verschieden benehmen, schließt die Alleinherrschaft der ökonomischen Momente aus. Man versteht überhaupt nicht, wie man psychologische Faktoren übergehen kann, wo es sich um die Reaktionen lebender Menschenwesen handelt, denn nicht nur, daß solche bereits an der Herstellung jener ökonomischen Verhältnisse beteiligt waren, auch unter deren Herrschaft können Menschen nicht anders als ihre ursprünglichen Triebregungen ins Spiel bringen, ihren Selbsterhaltungstrieb, ihre Aggressionslust, ihr Liebesbedürfnis, ihren Drang nach Lusterwerb und Unlustvermeidung. In einer früheren Untersuchung haben wir auch den bedeutsamen Anspruch des Über-Ichs geltend gemacht, das Tradition und Idealbildungen der Vergangenheit vertritt und den Antrieben aus einer neuen ökonomischen Situation eine Zeitlang Widerstand leisten wird.

Endlich wollen wir nicht vergessen, daß über die Menschenmasse, die den ökonomischen Notwendigkeiten unterworfen ist, auch der Prozeß der Kulturentwicklung – Zivilisation sagen andere – abläuft, der gewiß von allen anderen Faktoren beeinflußt wird, aber sicherlich in seinem Ursprung von ihnen unabhängig ist, einem organischen Vorgang vergleichbar, und sehr wohl imstande, seinerseits auf die anderen Momente einzuwirken. Er verschiebt die Triebziele und macht, daß die Menschen sich gegen das sträuben, was ihnen bisher erträglich war; auch scheint die fortschreitende Erstarkung des wissenschaftlichen Geistes ein wesentliches Stück von ihm zu sein.

Wenn jemand imstande wäre, im einzelnen nachzuweisen, wie sich diese verschiedenen Momente, die allgemeine menschliche Triebanlage, ihre rassenhaften Variationen und ihre kulturellen Unbildungen unter den Bedingungen der sozialen Einordnung, der Berufstätigkeit und Erwerbsmöglichkeiten gebärden, einander hemmen und fördern, wenn jemand das leisten könnte, dann würde er die Ergänzung des Marxismus zu einer wirklichen Gesellschaftskunde gegeben haben. Denn auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie. Strenggenommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde.

Mit der neugewonnenen Einsicht in die weitreichende Bedeutung ökonomischer Verhältnisse ergab sich die Versuchung, deren Abänderung nicht der historischen Entwicklung zu überlassen, sondern sie durch revolutionären Eingriff selbst durchzusetzen. In seiner Verwirklichung im russischen Bolschewismus hat nun der theoretische Marxismus die Energie, Geschlossenheit und Ausschließlichkeit einer Weltanschauung gewonnen, gleichzeitig aber auch eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem, was er bekämpft. Ursprünglich selbst ein Stück Wissenschaft, in seiner Durchführung auf Wissenschaft und Technik aufgebaut, hat er doch ein Denkverbot geschaffen, das ebenso unerbittlich ist wie seinerzeit das der Religion. Eine kritische Untersuchung der marxistischen Theorie ist untersagt, Zweifel an ihrer Richtigkeit werden so geahndet wie einst die Ketzerei von der katholischen Kirche. Die Werke vom Marx haben als Quelle einer Offenbarung die Stelle der Bibel und des Korans eingenommen, obwohl sie nicht freier von Widersprüchen und Dunkelheiten sein sollen als diese älteren heiligen Bücher.

Und obwohl der praktische Marxismus mit allen idealistischen Systemen und Illusionen erbarmungslos aufgeräumt hat, hat er doch selbst Illusionen entwickelt, die nicht weniger fragwürdig und unbeweisbar sind als die früheren. Er hofft, im Laufe weniger Generationen die menschliche Natur so zu verändern, daß sich ein fast reibungsloses Zusammenleben der Menschen in der neuen Gesellschaftsordnung ergibt und daß sie die Aufgaben der Arbeit zwangsfrei auf sich nehmen. Unterdes verlegt er die in der Gesellschaft unerläßlichen Triebeinschränkungen an andere Stellen und lenkt die aggressiven Neigungen, die jede menschliche Gemeinschaft bedrohen, nach außen ab, stürzt sich auf die Feindseligkeit der Armen gegen die Reichen, der bisher Ohnmächtigen gegen die früheren Machthaber.

Aber eine solche Umwandlung der menschlichen Natur ist sehr unwahrscheinlich. Der Enthusiasmus, mit welchem die Menge gegenwärtig der bolschewistischen Anregung folgt, solange die neue Ordnung unfertig und von außen bedroht ist, gibt keine Sicherheit für eine Zukunft, in der sie ausgebaut und ungefährdet wäre. Ganz ähnlich wie die Religion muß auch der Bolschewismus seinen Gläubigen für die Leiden und Entbehrungen des gegenwärtigen Lebens durch das Versprechen eines besseren Jenseits entschädigen, in dem es kein unbefriedigtes Bedürfnis mehr geben wird. Dies Paradies soll allerdings ein diesseitiges sein, auf Erden eingerichtet und in absehbarer Zeit eröffnet.

Aber erinnern wir uns, auch die Juden, deren Religion nichts von einem jenseitigen Leben weiß, haben die Ankunft des Messias auf Erden erwartet, und das christliche Mittelalter hat wiederholt geglaubt, daß das Reich Gottes nahe bevorsteht

Es ist nicht zweifelhaft, wie die Antwort des Bolschewismus auf diese Vorbehalte lauten wird. Er wird sagen: Solange die Menschen in ihrer Natur noch nicht umgewandelt sind, muß man sich der Mittel bedienen, die heute auf sie wirken. Man kann den Zwang in ihrer Erziehung nicht entbehren, das Denkverbot, die Anwendung der Gewalt bis zum Blutvergießen, und wenn man nicht jene Illusionen in ihnen erweckte, würde man sie nicht dazu bringen, sich diesem Zwang zu fügen. Und er könnte höflich ersuchen, ihm doch zu sagen, wie man es anders machen könnte.

Damit wären wir geschlagen. Ich wüßte keinen Rat zu geben. Ich würde gestehen, daß die Bedingungen dieses Experiments mich und meinesgleichen abgehalten hätten, es zu unternehmen, aber wir sind nicht die einzigen, auf die es ankommt. Es gibt auch Männer der Tat, unerschütterlich in ihren Überzeugungen, unzugänglich dem Zweifel, unempfindlich für die Leiden Anderer, wenn sie ihren Absichten im Wege sind. Solchen Männern verdanken wir es, daß der großartige Versuch einer solchen Neuordnung jetzt in Rußland wirklich durchgeführt wird. In einer Zeit, da große Nationen verkünden, sie erwarten ihr Heil nur vom Festhalten an der christlichen Frömmigkeit, wirkt die Umwälzung in Rußland – trotz aller unerfreulichen Einzelzüge – doch wie die Botschaft einer besseren Zukunft.

Leider ergibt sich weder aus unserem Zweifel noch aus dem fanatischen Glauben der Anderen ein Wink, wie der Versuch ausgehen wird. Die Zukunft wird es lehren, vielleicht wird sie zeigen, daß der Versuch vorzeitig unternommen wurde, daß eine durchgreifende Änderung der sozialen Ordnung wenig Aussicht auf Erfolg hat, solange nicht neue Entdeckungen unsere Beherrschung der Naturkräfte gesteigert und damit die Befriedigung unserer Bedürfnisse erleichtert haben. Erst dann mag es möglich werden, daß eine neue Gesellschaftsordnung nicht nur die materielle Not der Massen verbannt, sondern auch die kulturellen Ansprüche des Einzelnen erhört. Mit den Schwierigkeiten, welche die Unbändigkeit der menschlichen Natur jeder Art von sozialer Gemeinschaft bereitet, werden wir freilich auch dann noch unabsehbar lange zu ringen haben.

 

 

Diesen Text übernehmen wir mit freundlicher Genehmigung aus den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge“, Sigmund Freud Studienausgabe Band 1, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1969.

 

aus ICH 2/ 90

 

Zusatz 2014:

Was die marxistische Lehre betrifft, sollte Freud seine Abgrenzung sogar noch deutlich relativieren. Am 10.9.1937 schrieb er in einem Brief:
»Ich weiß, meine Äußerungen über den Marxismus zeugen weder für gründliche Kenntnis noch für richtiges Verständnis der Schriften von Marx und Engels. Ich habe seither – im Grunde zu meiner Befriedigung – erfahren, daß beide den Einfluß von Ideen und Über-Ich-Faktoren keineswegs bestritten haben. Damit entfällt das Hauptstück des Gegensatzes zwischen Marxismus und Psychoanalyse, an den ich geglaubt habe« (Ernest Jones: Sigmund Freud. Leben und Werk, Band 3, S. 403).