Bernd Senf, Professor für Volkswirtschaftslehre, Wilhelm-Reich-Forscher und Therapeut im Gespräch mit Andreas Peglau über den tieferen (Un)Sinn kapitalistischer Ordnung und Globalisierung.
A.P.: Was wir jetzt in der Weltwirtschaft erleben, dürfte die meisten Betroffenen als Unglück empfinden. Führende Wirtschaftswissenschaftler und Politiker dagegen rühmen das selbe Geschehen als notwendigen Fortschritt. Wie kommt man denn zu einer solchen Sichtweise?
Senf: Dahinter steckt der sogenannte Neoliberalismus. Dessen Grundgedanken sind über 200 Jahre alt: Am besten, man überläßt das gesamte wirtschaftliche Geschehen den Märkten. Dann wird sich alles wie von selbst regeln durch Angebot und Nachfrage. Und dadurch werden sich auch die gesellschaftlichen Bedürfnisse am denkbar besten befriedigen lassen. Was das bedeutet, läßt sich u.a. am Lohn zeigen.
Der Neoliberalismus besagt: Das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskraft ergibt von ganz allein den „Gleichgewichts-Lohn“. Würde der Lohn durch äußere Einflüsse angehoben – zum Beispiel durch den Kampf der Gewerkschaften – dann wäre ein „Ungleichgewicht“ am Arbeitsmarkt die Folge: Für die Unternehmen würde es zu teuer, sie würden Arbeiter entlassen. Arbeitslosigkeit entsteht also angeblich durch zu hohen Lohn.
Würde man den Arbeitsmarkt sich selbst überlassen, „deregulieren“, dann würde über sinkende Löhne die Arbeitslosigkeit sich von selbst abbauen.
Das hört sich erstmal logisch an. Aber wie weit könnte der „Gleichgewichts-Lohn“ denn überhaupt absinken? Gibt es irgendeine im Marktsystem eingebaute untere Grenze? Nein! Sie gibt es eben nicht. Wenn die Arbeitsmärkte mit Lohnarbeit suchenden Menschen überflutet werden, kann der „Gleichgewichts-Lohn“ ins Grenzenlose abstürzen – noch unterhalb von Hungerlöhnen wie im Frühkapitalismus bei uns und wie heutzutage in der Dritten Welt.
Wo soll die Entwicklung hintreiben, wenn derzeit – aufgrund von zusammengebrochenen und zusammenbrechenden Existenzgrundlagen – zusätzlich weltweit 4 Milliarden Menschen auf die Arbeitsmärkte drängen und diese „dereguliert“ sich selbst überlassen bleiben? Die Folgen können nur gigantische soziale Katastrophen sein, die sich mehr und mehr gewaltsam entladen und ganze Gesellschaften auseinandersprengen werden. Und der Neoliberalismus spricht dessen ungeachtet von „Gleichgewichts-Lohn“ und „optimaler Allokation der Ressourcen“. Welch ein Verlust an Realitätskontakt, welch ein Zynismus und welche Menschenverachtung, die im Gewand von Wissenschaft daherkommt und im Zuge der „Globalisierung“ dabei ist, den ganzen Erdball ihrer „Logik“ und „wirtschaftlichen Rationalität“ zu unterwerfen.
A.P.: Offenbar wird davon ausgegangen, daß sich der Überschuß an angebotener Arbeitskraft notfalls dadurch verringert, daß die Arbeitskräfte verhungern. Zu dieser erstaunlichen Wirtschaftslogik paßt auch, was ich bei James Goldsmith zum Thema Bruttosozialprodukt – BSP – gelesen habe: Dieser Begriff, an dem durchweg die wirtschaftliche Stärke der Staaten festgemacht wird, sagt in Wirklichkeit gar nichts darüber aus, ob eine Gesellschaft gut funktioniert. Sondern nur darüber, wieviel Geld sie verbraucht. Zitat: „Wenn sich zum Beispiel eine Katastrophe ereignet wie ein Hurrikan oder ein Erdbeben, folgt darauf unmittelbar eine Steigerung des BSP, weil verstärkte Anstrengungen unternommen werden, um die Schäden zu beheben. Steigt die Kriminalitätsrate, nimmt das BSP zu, weil zusätzliche Polizisten eingestellt werden und neue Gefängnisse gebaut werden.“
Auf dieselbe Weise tragen in den USA Krebserkrankungen jährlich über 100 Milliarden Dollar zum BSP bei, und der Drogenmißbrauch sogar 200 Milliarden. So gesehen ist es kein Wunder, wenn sich in den letzten beiden Jahrzehnten das BSP in Frankreich um 80 Prozent erhöht hat – und die Arbeitslosigkeit mehr als verzehnfacht. Oder wenn etwa in der gleichen Zeit das BSP in Großbritannien um fast 100 Prozent zunahm – und die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze sich dort mehr als verdoppelt hat.
Und auch Goldsmith´ weitere Beispiele finde ich ausgesprochen aufschlußreich: In zwei benachbarten Familien haben sich die Frauen entschieden,“ zu Hause zu bleiben und sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Plötzlich ändert die eine ihren Entschluß und geht einer bezahlten Arbeit nach. Mit der Beaufsichtigung der Kinder betraut sie die Nachbarin. Vor dieser Veränderung trug keine der beiden Frauen zum BSP bei, weil dieses ausschließlich Aktivitäten mißt, die in die Bewegung von Geld münden. Als die beiden Frauen sich ohne Bezahlung um die eigenen Familien kümmerten, leisteten sie offiziell keinen Beitrag zur Wirtschaft und deshalb auch nicht zum BSP. Sobald sie ihren Lebensstil ändern und gegen Entgelt arbeiten, steigern sie sofort das BSP.“ Oder: „Baut ein Bauer unterschiedliche Feldfrüchte an, um davon seine Familie zu ernähren, findet seine Arbeit keinen Niederschlag im BSP, weil seine Erzeugnisse nicht verkauft werden. Hört er aber damit auf und konzentriert sich auf den Anbau einer einzigen Feldfrucht, auf eine Monokultur, so hat das grundlegende Veränderungen zur Folge. Er beginnt, sein Produkt zu verkaufen, und um seine Familie zu ernähren, kauft er andere Nahrungsmittel, die andere Bauern erzeugt haben.“ Und auf einmal – obwohl gar nicht mehr oder Besseres hergestellt wurde – hat auch er das BSP gesteigert!
Das heißt: In dem Begriff BSP ist genau für das, was noch heute einen großen Teil der Weltwirtschaft ausmacht, insbesondere in der „Dritten Welt“, kein Platz: für Selbstversorgung. Ganze Staaten, die sich selbst versorgen, ohne zu hungern, könnten trotzdem ein BSP von NULL haben. Und damit wären sie nach unserer Sichtweise gegenüber einer Militärdiktatur, die Zigtausende verhungern läßt, aber auf profitable Weise Waffen exportiert, das schwächere, weniger anstrebenswerte System! Und nach solch dämlichen Maßstäben wird unsere Wirtschaft und Politik dirigiert? Unglaublich.
Senf: Ja, die Aussagekraft des BSP ist höchst fragwürdig. Und das hat sich auch schon mehr oder weniger herumgesprochen. Daß aber auch die Aussagekraft einzelwirtschaftlicher Gewinne – und der aus ihnen abgeleiteten Größen, wie zum Beispiel „Rendite“-, ebenso fragwürdig ist, davon ist bisher kaum die Rede. Alles dreht sich um den Gewinn – die ganze Gesellschaft tanzt um ihn herum wie seinerzeit beim Tanz ums goldene Kalb! Und sie merkt nicht, welchem Fetisch sie sich da unterwirft.
Ein Unternehmen, das Gewinn abwirft, verdient es, am Leben zu bleiben. Ein Unternehmen dagegen, das rote Zahlen schreibt, ist lebensunwert. Es muß liquidiert werden – egal wie wichtig, einmalig oder lebenserhaltend das war, was dort produziert wurde. Der Neoliberalismus erscheint in dieser Hinsicht wie eine Übertragung der Gedankenwelt der Euthanasie auf die Wirtschaft.
Was drückt denn der Gewinn so wichtiges aus – wenn man mal über den Tellerrand einzelner Unternehmen hinausdenkt -, daß an sein Eintreten oder Nichteintreten derart gravierende Konsequenzen geknüpft werden? Was bedeutet er zum Beispiel unter gesamtwirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Gesichtspunkten? Etwas höchst Irrationales!
Ich will an einem Beispiel erläutern, warum. Der Gewinn ergibt sich ja rein rechnerisch als Differenz zwischen Erlösen und Kosten, und in den Kosten wird selbstverständlich der Abnutzung der Maschinen – über die sogenannten Abschreibungen – Rechnung getragen. Ist die Maschine abgenutzt, hat das Unternehmen genügend Mittel beiseite gelegt, um sie durch eine neue Maschine zu ersetzen. Und die Abnutzung der Natur, unserer aller Lebensgrundlagen? Die hat man über mehrere Jahrhunderte kapitalistischer Produktionsweise und bürgerlichen Rechnungswesens schlicht und einfach vergessen zu berechnen – mit verheerenden Konsequenzen an Umweltzerstörung. So konnte – und kann bis heute – etwas als „Gewinn“ erscheinen, was zum Teil den Verlusten entspricht, die der Natur zugefügt, aber nicht berechnet wurden. Eine gigantische Bilanzfälschung, tagtäglich, seit hunderten von Jahren! Und das ausgerechnet – oder eben nicht ausgerechnet – von Ökonomen, die doch mehr als andere Leute wissen sollten, daß eine Bilanz zwei Seiten hat. Sie wissen es ja auch im Kleinen, auf einzelwirtschaftlicher Ebene; aber im Großen – auf gesamtwirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ebene – sind sie dafür blind, und mit ihnen die vielen, die sich blind ihren Dogmen unterwerfen bzw. ihnen unterworfen werden.
Der Neoliberalismus, nach dem zur Zeit die Weltwirtschaft gestaltet wird, ist zwar ein in sich formal geschlossenes Gebäude. Es hat aber den Kontakt zur sozialen und ökologischen Realität verloren. In der Psychiatrie nennt man so etwas „Wahnsinn“. Aber auch wenn ein Wahnsinniger die Realität nicht mehr wahrnimmt, kann er doch unter Umständen auf sie sehr bedrohlich und zerstörerisch einwirken. Genau das passiert jetzt im übertragenen Sinn mit der Globalisierung.
A.P.: Für diese Loslösung, auch von der wirtschaftlichen Realität, spricht zusätzlich eine – für mich ebenfalls kaum noch vorstellbare – Tatsache: Von der einen Billion Dollar, die täglich global an den Devisenmärkten umgesetzt werden, haben gerade noch 2 Prozent etwas mit internationalem Handel von Waren und Dienstleistungen zu tun. Die restlichen 98 Prozent sind weiter nichts als Finanzspekulationen, im Fachjargon „Derivate“ genannt.
Hans-Peter Martin und Harald Schumann bezeichnen sie in dem Buch „Globalisierungsfalle“ als „organisierte Wetten der Finanzmarkt-Jongleure untereinander“, z. B. so: Ich setze 10 Millionen darauf, daß am 1. August 1998 die Aktien von Mercedes Benz zu folgendem Wert gehandelt werden: … Und das Verlagern der somit verwetteten Millionen passiert in Sekundenschnelle per Computer-Knopfdruck, rund um den Erdball, tausende Male pro Tag.
Da das kaum noch zu überblicken ist, passieren da auch etliche „Unfälle“, bis hin zu 3.000 Milliarden Dollar, die sich im Frühjahr 1994 „beinahe über Nacht in Luft aufgelöst haben“. Jeder dieser Finanzcrashs bedeutet, daß eine Unzahl von Gläubigern ebenfalls in Sekundenschnelle Pleite gehen – und das sind Privatleute und Firmen ebenso wie ganze Städte und Regionen. Daher bezeichnet ein New Yorker Bankier die Weltfinanzmärkte als eine größere Gefahr für die Stabilität als die Atomwaffen.
Trotzdem wird kräftig weiterspekuliert. Allein die Deutsche Bank kassiert durch ihren Derivat-Handel jährlich fast eine Milliarde DM. Und mittlerweile verdienen Konzerne wie Siemens mehr durch solche Spekulationen als durch den Verkauf ihrer Produkte. Das wäre ja dann wohl auch eine Erklärung dafür, daß immer weniger Wert darauf gelegt wird, Arbeitskräfte so zu entlohnen, daß sie die hergestellten Waren noch bezahlen können.
Daß auch diese Krise menschengemacht ist, haben wir schon festgestellt. Also können Menschen auch etwas dagegen tun. Aber was?
Senf: Zunächst können sie sich der Gefahr bewußt werden. Das geschieht ja auch. Nicht nur bei James Goldsmith. Und es liegen auch ausgearbeitete Vorschläge zur Symptombekämpfung vor, zum Beispiel die sogenannte Tobin-Tax: eine Steuer, die jedesmal zu erstatten wäre, wenn ein Geldbetrag wieder einmal einfach in ein anderes Land verschoben wird. Das könnte den globalen Geldfluß wenigstens verlangsamen.
Aber natürlich muß nach der Symptombekämpfung die Ursachensuche beginnen. Da sehe ich einen Zusammenhang zum Zinssystem, wie ich ihn in meinem Buch „Der Nebel um das Geld“ beschrieben habe: Wenn das Geld wirklich als Tauschmittel funktioniert, dann könnte es sich nicht als Spekulationsmittel verselbständigen.
A.P.: Globalisierung, so wie wir sie besprochen haben, ist bedrohlich. Aber hat dieser Prozeß des ökonomischen Zusammenwachsens – selbst so krisenhaft, wie er jetzt verläuft – nicht auch positive Seiten? Mal ganz abgesehen davon, wie bereichernd die zunehmenden Begegnungen mit anderen Kulturen für uns sein können: mit „Weltmusik“ oder unbekannten Heilmethoden zum Beispiel.
Senf: Ja – aber 80 Prozent der Menschen werden sich nicht friedlich oder gar demokratisch ausgrenzen lassen. Es ist möglich, daß eine Elite von Machthabern versucht, die ganze Welt in Form einer Militärdiktatur zu beherrschen. Wenn ihnen das gelänge, würde es kaum noch Inseln geben können, wo die positiven Seiten der Globalisierung wirksam werden könnten. Aber natürlich bietet andernfalls das Zerbröckeln der gängigen wirtschaftlichen und politischen Strukturen auch Chancen – vorausgesetzt, daß genügend Wissen darüber vorhanden ist, wie sie genutzt werden könnten.
Was uns möglicherweise bevorsteht, läßt sich auch so erklären: Am Anfang der menschlichen Entwicklung war im direkten Sinne der Boden unter uns, die Erde, unsere Reproduktionsgrundlage. Aller Reichtum stammte erkennbar von dort: Pflanzen, Tiere, Baumaterial, Bekleidung und so weiter. Wir waren auch direkt – ursprünglich sogar durch unsere bloßen Fußsohlen – energetisch mit der Erde verbunden. Dieser direkte Zusammenhang ging mit dem Kapitalismus weitestgehend verloren. Den Bauern wurde ihr Land entrissen, um sie in die städtischen Fabriken zu zwingen. Und in städtische Siedlungen, die sich immer höher über ihren Fundamenten auftürmten. Damit verloren die Menschen – sinnbildlich wie auch wortwörtlich – den Boden unter ihren Füßen und stürzten ins „Bodenlose“.
Für viele wurde daraufhin die Lohnarbeit zur neuen Reproduktionsgrundlage. Derzeit befinden wir uns in einer historischen Phase, in der diese Funktion der Lohnarbeit immer mehr wegbricht – mit der Folge des Absturzes in „Arbeitslose“.
Wir müssen also danach suchen, was wir stattdessen als Basis unseres materiellen Lebens entwickeln wollen. Daraus könnte u.a. eine neue Orientierung in Richtung Selbstversorgung entstehen. Krisen des üblichen Geldsystems könnten erzwingen, neue Wege im Umgang mit Geld auszuprobieren, zinsloses Geld oder alternative Tauschringe ohne Geld. In solche Lebensmodelle könnte auch ein ganz anderes Wissen einfließen: um soziale Zusammenhänge und um eine naturverträglichere Technologie und Landwirtschaft.
Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – Zeitung für neue Lebenskultur, Sommer 1997 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.