von Hermynia zur Mühlen
Noch nie war eine Nacht so schwarz gewesen, so undurchdringlich, so voll drohender Schatten. Nur im Westen schwelte ein fahles Licht, und in seiner schaurigen Helle sah ich die ganze Welt liegen. Sie glich einer ungeheuren Stadt, aus deren nächtlicher Untiefe dunkle Schlote aufragten und mit Krallenfingern in die Lüfte griffen. Schlaf hüllte die Stadt ein, Schweigen umgürtete sie wie eine Mauer.
Da drang durch die Stille ein zorniger Ton – das Brausen und Donnern sturmgepeitschter Meereswogen. Und nun sah ich: Im Osten der Stadt brandete ein gewaltiger Ozean, und immer näher und näher kamen die schäumenden Wellen und schlugen gegen die Mauer der Stadt.
Und ich fragte im Traum: „Was ist dieses Meer, das die Stadt zu verschlingen droht?“
Und eine Stimme gab Antwort: „Das sind die Tränen, die der Hunger kleinen Kindern entpreßt hat. Diesem Meer vermag kein Wall zu widerstehen, kein Damm kann es aufhalten.“
Und ich sah auch schon, wie die Wogen Mauern und Wälle untergruben, wie Häuser und mächtige Schlote staubend zusammenbrachen.
Aber noch immer schlief die Stadt und ahnte nicht die Gefahr. Und nun sah ich, aus dem Norden kommend, eine endlose Schar hagerer, trauriger Gestalten. Stumm und gramvoll schritten sie einher, und jede Gestalt trug in der Hand eine rotflammende Fackel, so daß der schwarze Himmel über der Stadt jählings purpurn erglühte.
„Wer sind diese Gestalten?“ fragte ich.
Und die Stimme gab Antwort: „Es sind die Wünsche und Sehnsüchte der Armen, denen das Leben alles versagt hat. Was immer sie mit der Fackel berühren, verbrennt.“
Und ich sah auch schon, wie die Gestalten durch die vom Meer gerissenen Breschen in die Stadt eindrangen. Sah, wie, von den Fackeln berührt, Paläste und Schlösser lichterloh entbrannten und zu grauer, toter Asche zerfielen.
Aber noch immer schlief die Stadt und ahnte nicht die Gefahr. – Und dann vernahm ich aus der Ferne das schwere Stampfen unzähliger Schritte und Waffengeklirr und Kriegsruf. Und ich sah gewaltige Heere auf die Stadt ziehen, immer näher und näher kommen. Und hinter ihnen begann der Tag zu dämmern.
Aber noch immer schlief die Stadt und ahnte nicht die Gefahr.
„Wer sind diese Heere?“ fragte ich. Und die Stimme gab Antwort: „Es sind die zornigen Gedanken jener, denen Unrecht geschah, es sind die Forderungen nach Gerechtigkeit. Unbesieglich sind diese Heere, und ihren Waffen vermag nichts zu widerstehen.“
Und ich sah auch schon, wie die Heere in die Stadt eindrangen.
Meeresrauschen und Waffengeklirr erfüllten die Luft, hoch lohten die Brandfackeln, und zitternd erwachte die Stadt und schaute ihr Verderben.
Ich verhüllte die Augen und wagte nicht aufzublicken.
Dann trat abermals Stille ein, nicht mehr das unheilvolle Schweigen der Nacht, sondern die frohe, friedliche Stille des frühen Morgens, und aus der Stille lösten sich perlend Töne, Hammerschlag und Sensengeklirr und Singen fröhlicher Stimmen.
Da öffnete ich die Augen.
Und ich sah vor mir sonnenüberflutet eine gewaltige Ebene, grünend, der Ernte entgegenreifen. Und dort, wo die Stadt gestanden, bauten vieltausend fleißige Hände, und Häuser wuchsen empor, und das Meer lag still und gleißend da und liebkoste plätschernd die Ufer. Große Freude erfüllte mein Herz; ich sprach laut:
„Sie bauen die neue Welt.“
Und erwachte vom Klang meiner eigenen Stimme.
Die Erzählung „Nachtgesicht“ erschien 1924 im Verlag der Jugendinternationale, Berlin Schöneberg.
aus ICH 2/ 95