von Rainer Funk
Die Bedeutung der Eigenkräfte für das Gelingen des Menschen
Der Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben mit Hilfe fremder, ihm nicht zugehörender Kräfte zu gestalten oder mit Hilfe von Eigenkräften. Solche Eigenkräfte können geistig-intellektueller, psychischer oder körperlicher Art sein. Eine geistig intellektuelle Eigenkraft ist zum Beispiel die Merkfähigkeit, die Denkfähigkeit oder die Phantasie. Psychische Eigenkräfte sind etwa die Fähigkeit zu vertrauen, zärtlich zu sein, sich konzentrieren zu können, interessiert zu sein, lieben zu können. Eine körperliche Eigenkraft ist zum Beispiel die Fortbewegungsfähigkeit oder die Muskelkraft.
Während die körperlichen Eigenkräfte sich durch das physische Wachstum und den Lebensvollzug im wesentlichen von alleine entwickeln, bedürfen die emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten einer aktivierenden Stimulation durch eine emotionale Bindung, um ihre Aktivität zu entfalten, das heißt als Eigenkraft zum Vorschein zu kommen und schließlich zur Verfügung zu stehen. Diese Eigengesetzlichkeit der intellektuellen und psychischen Entwicklung wirkt sich sicher in den ersten Lebensjahren stärker aus als im späteren Leben. Und doch gilt sie während des gesamten psychischen Geburtsprozesses, also bis zum Ende des Lebens. Erich Fromm hat sie mit der Alternative der Existenzweise am Haben bzw. der am Sein verdeutlicht. Die Orientierung am Haben lebt von der vor allem in der Marketing-Gesellschaft geförderten Illusion, daß die menschlichen Eigenkräfte (Liebe, Vertrauen, Lebendigkeit, Interesse, Aktivität, Freude, Erlebnisfähigkeit usw.) Attribute der vom Menschen geschaffenen Produkte sind, die der Mensch sich über den Konsum der Produkte von außen aneignen könnte, statt sie aus der Eigentätigkeit und aus der Praxis der Eigenkräfte von innen aus seinem Eigen-Sein hervorzubringen.
Um dies an einigen Beispielen zu konkretisieren: Zärtlichkeit ist eine Eigenkraft des Menschen, die nur dadurch zur Eigenschaft wird, daß sie praktiziert wird. Kein Mensch ist bisher durch Mariacron-Likör oder Chantrée zärtlicher geworden. Aktivsein kann man sich weder durch Marlboro noch durch Reebok-Schuhe aneignen; Aktivsein ist eine psychische Fähigkeit, die durch die übende Praxis einer von innen kommenden Aktivität und Lust entsteht. Auch die heute allseits propagierte Erlebnisfähigkeit ist nicht vom Erlebnispark, Einkaufserlebnis, Erlebnisschwimmbad und Erlebnisurlaub abhängig, sondern eine von innen kommende psychische Fähigkeit des Menschen, lebendig zu sein. Auch wenn die Pepsi- oder Coca-Cola-Werbung uns noch so sehr glauben machen will, daß sich mit Cola die Erlebnisfähigkeit steigern läßt, dann gilt dies höchstens deshalb, weil jede Droge, also auch das Cocain, eine vorübergehende stimulierende Wirkung hat; von einer Erlebnisfähigkeit als Eigenschaft kann aber keine Rede sein. Erlebnisfähigkeit ist vielmehr eine psychische Eigenschaft, die in dem Maße wächst, als wir es wagen, ein lebendiges Interesse für Menschen und Dinge zuzulassen und uns deshalb belebt zu spüren. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Immer wird einem suggeriert, man könne sich eine menschliche Fähigkeit von außen durch Konsum und Nachahmung aneignen. In Wirklichkeit lassen sich menschliche Fähigkeiten aber nur durch Praxis der menschlichen Eigenkräfte in Erfahrung bringen und zu eigen machen.
Wann immer die menschlichen Eigenkräfte praktiziert werden, gewinnen sie an Stärke. Sie sind darin der körperlichen Muskelkraft vergleichbar. Diese steht nur zur Verfügung und trägt zur Entfaltung von Körperkraft bei, wenn sie praktiziert wird. Sie bildet sich zurück, wenn sie nicht geübt wird. Je mehr sie aber geübt wird, desto körperlich stärker wird der Mensch. Diese Eigengesetzlichkeit gilt für alle psychischen Eigenkräfte. Je mehr jemand fähig ist, sich, anderen Menschen und der Umwelt zu vertrauen, desto sicherer und vertrauensvoller lebt er. Und je mehr jemand seine Liebesfähigkeit praktiziert, desto stärker und überfließender ist diese Liebe. Das potenzierende, überfließende Moment ist immer ein Wesensmerkmal einer psychisch positiven Entwicklung.
Die Entfremdung in der Marketing-Orientierung
Menschen, die die Werte der Marketing-Orientierung leben, stehen immer in Gefahr, sich von ihren Eigenkräften zu entfremden. Das Marktgeschehen bringt sie dazu, sich ihres Eigenseins und ihrer Eigenkräfte zu entledigen und die Attribute ihres Menschseins und ihrer Lebendigkeit streng von ihnen getrennt in den von ihnen geschaffenen Produkten unterzubringen. Fromm hat diesen Vorgang als “Entfremdung” des Menschen von seinen Eigenkräften begrifflich gefaßt und von der “Selbstentfremdung” des Menschen in der Marketing-Orientierung gesprochen. Diese Selbstentfremdung ist denn auch das, was die Marketing-Orientierung psychologisch gesehen so problematisch macht. Wer sich seiner selbst entfremdet, verliert immer mehr den emotionalen Bezug zu sich selbst, schöpft nicht mehr aus seinen Eigenkräften und aus seinem Eigensein, so daß auch seine Fähigkeit zu einem authentischen Identitätserleben immer mehr schwindet.
Um die klinische Dimension dieser Selbstentfremdung zu illustrieren, möchte ich von einem 21jährigen Patienten sprechen, den ich in Analyse hatte. Als Uwe die Psychotherapie wegen Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen begann, war er im dritten Semester und hatte bereits zweimal das Studienfach gewechselt. Sein Äußeres war eindrucksvoll. Er stellte etwas dar und machte überhaupt nicht den Eindruck, eine Therapie nötig zu haben. Er mied das Elternhaus, gab sich selbständig. Sein Problem war, daß er es kaum alleine mit sich selbst aushielt. Andererseits war er nach 3-4 Stunden des Zusammenseins mit anderen erschöpft und ausgepowert und mußte sich zurückziehen; er machte dann Sport oder stimulierte sich sonstwie körperlich oder aber er zog sich einen action-Film rein, um sein nichtiges und leeres Selbsterleben zu kompensieren.
Als Uwe zu mir kam, war es sich seiner selbst fremd. Er litt unter Selbstentfremdung. Sein Identitäts- und Selbsterleben hatte nicht mehr seinen Grund in ihm selbst. Wie sehr er sich selbst fremd erlebte, kommt in Äußerungen zum Ausdruck, die ich mir in den ersten Stunden notiert hatte. Er sagte von sich:
“Ich kann gar nicht anders, als sofort mit den Gefühlen meiner Umwelt mitzuschwingen”; “die Umwelt färbt auf mich ab”; “ich muß immer nach rechts und nach links schauen und die Erwartungen abdecken”; “ich verflüchtige mich in den Charakter des anderen und höre und fühle wie der andere – bin ihm aber auch ausgeliefert”; “ich muß unbedingt meine Hülle aufrecht erhalten, denn sie ist das einzige, was ich habe”; “niemand darf wissen, wie es tatsächlich in mir aussieht; darum darf auch niemand wissen, daß ich eine Psychoanalyse mache”; “ich bin wie ein Schwamm, der alles aufsaugt”; “ich schlüpfe sofort in den Charakter des anderen hinein”.
Der Charakter des anderen, dessen Gefühle, dessen Stimme, dessen Sprache usw. dienen Uwe dazu, seine innere Leere, sein Nichts-Sein, sein Hülle-Sein, seine Unbestimmtheit, seine Identitätslosigkeit zu überwinden, indem er sich am anderen orientiert, sich ihn an-eignet und zu-eigen macht, in den anderen hineinschlüpft, sich sein Eigensein beim anderen leiht.
Manchen wird Uwes Art zu leben und sich selbst zu erleben zwar etwas übertrieben vorkommen, aber doch insgesamt ganz “normal” und “durchschnittlich”. Tatsächlich ist diese Art, seine Identität zu erleben, heute durchaus “normal”. Aber sie ist nur deshalb “normal”, weil sie in den Industriestaaten so weit verbreitet ist, daß sie gewöhnlich nicht als Entfremdung wahrgenommen wird.
“Wörtlich bedeutet Entfremdung” (sagt Fromm in Die Pathologie der Normalität, 1991b, S. 59), “daß wir uns selbst Fremde geworden sind oder daß die äußere Welt uns fremd geworden ist.” Der Vorgang des Fremdwerdens wurde bereits von den Propheten des Alten Testaments in ihrer Kritik am Götzendienst beschrieben, dann vor allem von Hegel und Marx im Begriff der “Entfremdung” gefaßt.
Fromm entwickelte sein Verständnis von Entfremdung zunächst als symbiotische Abhängigkeit in autoritären Strukturen. Die für diese Entfremdung in autoritären Strukturen typische Abhängigkeit zeichnet sich dadurch aus, daß Eigenschaften und Eigenkräfte, die potentiell oder faktisch zu einem selbst gehören, auf ein Gegenüber projiziert werden und dann nur in einer symbiotischen Bezogenheit auf das Gegenüber und in einer Identifikation mit dem Gegenüber wieder zugänglich werden. Doch Uwe leidet nicht an einer symbiotischen Abhängigkeit. Sein Problem ist, daß er weder eine stabile Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen imstande ist noch daß er sein leeres Selbst durch eine konstante – wenn auch entfremdende – Symbiose stabilisieren kann. Was ist hier geschehen? Wie kam es dazu, daß sich Entfremdung nicht mehr darin ausdrückt, daß jemand symbiotisch bezogen ist, sondern darin, unbezogen und doch von identitätsstiftenden Figuren abhängig zu sein?
Um die Veränderung zu illustrieren, greift Fromm auf das Märchen Von des Kaisers neuen Kleidern zurück:
“Die Wirklichkeitswahrnehmung des modernen Menschen unterscheidet sich grundlegend von der der Menschen in (Hans Christian Andersens) Märchen von des Kaisers neuen Kleidern … Im Märchen … ist es immer noch so, daß es den Kaiser gibt. Die Frage ist nur, daß er in Wirklichkeit nackt ist, man aber glaubt, er habe Kleider an. Heute hingegen ist der Kaiser gar nicht mehr da! Heute ist der Mensch nur wirklich, insofern er irgendwo draußen steht. Er wird erst durch die Dinge, durch das Eigentum, durch seine soziale Rolle, durch seine ‘Persona’ konstituiert; als lebendiger Mensch aber ist er nicht wirklich.” (1992b, S. 30.)
Menschen, die auf autoritäre Weise ihrer selbst entfremdet sind, projizieren ihre lebendige Substanz – ihre Liebe, Weisheit, Stärke, Güte, Zärtlichkeit, kurz: alle menschlichen Fähigkeiten, die durch Praxis wachsen – auf leblose, hölzerne, goldene Dinge und machen so die Idole zu lebendigen Dingen. Indem sie sich diesen Idolen unterwerfen, partizipieren sie an ihren eigenen, auf die Idole projizierten, psychischen Kräften. Diese Möglichkeit besteht bei Menschen, die auf Grund ihrer Marketing-Orientierung ihrer selbst fremd geworden sind, nicht mehr. Der “Markt” ist kein konkretes Gegenüber mehr, sondern eine anonyme Größe, die chamäleongleich jeden Tag ihr Aussehen ändert. Dennoch zwingt er uns, unsere Persönlichkeit auf dem Markt zu verkaufen und dabei auf alle menschlichen Möglichkeiten zu verzichten, die sich auf dem Markt nicht verkaufen lassen.
Indem wir uns unserer eigenen menschlichen Fähigkeiten enteignen und alles, was wir aus eigenem Vermögen und in Verbindung mit unseren Gefühlen, Gedanken und unserem Tätigsein hervorbringen können, geringschätzen und verleugnen, machen wir uns selbst zu Dingen, werden wir selbst zu Idolen. Gleichzeitig geben wir uns der Illusion hin, daß alles, was gekauft, konsumiert, angeeignet werden kann, mit Attributen von lebendigen menschlichen Wesen ausgestattet seien, die uns das zurückbringen können, was ihnen zugeschrieben wird.
Mit dieser Skizzierung der durch die marktwirtschaftliche Produktionsweise erzeugten Entfremdung des Menschen von seinen Eigenkräften wurde aufgezeigt, welche negative psychische Dynamik bei der Marketing-Orientierung am Werk ist. Diese Dynamik verstärkt sich, je mehr die Marketing-Orientierung zur bestimmenden Dimension menschlichen Verhaltens wird. Je mehr es jemandem gelingt, sich zu verkaufen und sich selbstbewußt zur Darstellung zu bringen, ohne auf seine tatsächlichen Fähigkeiten zurückgreifen zu müssen, und je leichter jemand in gewünschte Rollen schlüpft, ohne hierbei durch Eigenheiten, Gefühlszustände oder Selbstzweifel behindert zu werden, und je besser jemand anzukommen vermag und den Erwartungen der anderen entsprechen kann, ohne auf sein Eigensein und seine Begrenztheit Rücksicht nehmen zu müssen, desto dominanter wird die Marketing-Orientierung. Gleichzeitig verstärkt sich aber auch die Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinem Eigensein und Selbstsein.
Die Unbewußtheit der Entfremdung
Der hier aufgezeigte Zusammenhang von erfolgreichem Gutankommen und Sich-Verkaufen einerseits und Entfremdung von sich selbst andererseits ist nicht für jeden ohne weiteres nachvollziehbar. Warum soll jemand, der erfolgreich ist, Karriere macht und bestens ankommt, besonders gefährdet sein, sich seiner selbst fremd zu sein? Tatsächlich ist ein solcher Zusammenhang von Marketing-Orientierung und Entfremdung nur für den plausibel, der bereit ist, hinter die Kulissen zu schauen und nicht nur das als bare Münze zu nehmen, was uns bewußt ist und von der Mehrheit geteilt wird. Gerade Menschen, die beim Marketing ihrer Persönlichkeit besonders erfolgreich sind, dürfen keine Grenzen, Schwächen, Defizite, Zweifel zeigen und müssen alles, was ihrem Erfolgsstreben widersprechen könnte, aus ihrem Bewußtsein verbannen. Es kommt hinzu, daß die Marketing-Orientierung heute tatsächlich die mächtigste Grundstrebung in den hochindustrialisierten Ländern geworden ist, weshalb sie für Fromm eine Gesellschafts-Charakterorientierung ist. Alles was zur Logik des Marketings paßt, wird als normal, vernünftig und plausibel angesehen. Was der Logik der Marketing-Orientierung widerspricht, wird als unvernünftig und nicht dem gesunden Menschenverstand entsprechend abgetan und nach Möglichkeit verdrängt und verleugnet. Gerade für die Marketing-Orientierung gilt, daß sich das “Normale” nicht von objektiven Gegebenheiten oder bestimmten Eigengesetzlichkeiten her definiert, sondern in erster Linie von dem her, was ankommt und sich verkaufen läßt.
Sosehr der Marketing-Orientierung das Bestreben innewohnt, alle negativen Aspekte auszublenden, weil mit ihnen kein Staat zu machen ist, und statt dessen alles nur toll, großartig, wunderbar, super, ultra, ultimativ und mega zu sehen, so gibt es dennoch Zugänge zur Wahrnehmung der Entfremdung von uns selbst. Wenn wir die Chance haben, im Urlaub oder bei Krankheit oder bei Beziehungsproblemen ein wenig zu uns selbst zu kommen, dann nehmen wir unbewußt oder halbbewußt wahr, wie leer, langweilig, ausgepowert, desinteressiert, hungrig, phantasielos, depressiv, ängstlich, verunsichert, leblos, ohne inneren Halt wir sind. Auch entwickeln wir immer häufiger Krankheitssymptome, ohne daß organisch etwas gefunden wird, so daß die psychosomatischen Symptome als Ausdruck einer falschen Art zu leben angesehen werden müssen.
Eine ganz andere Möglichkeit, hinter die Kulissen dessen, was bei der Marketing-Orientierung gesellschaftlich als normal und gesund propagiert wird zu schauen, ist der Vergleich mit anderen Orientierungen: Für Menschen, die in autoritären Strukturen leben und großgeworden sind, gilt es als normal und bietet es der gesunde Menschenverstand, daß man sich anderen verdankt weiß, daß man sein gegebenes Wort hält, sich beherrscht, sich einer Ordnung fügt und die Bürgerpflichten erfüllt. Menschen mit einer autoritären Charakterorientierung finden dies nicht nur normal, sondern streben auch leidenschaftlich danach, pflichtbewußt zu sein, sich den Vorgesetzten zu fügen und darauf zu warten, bis die nächste Anweisung von oben kommt. Sie tun mit Lust und Leidenschaftlichkeit, was für den Bestand autoritärer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen notwendig ist. Daß sie dabei ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung verlieren, daß ihre aggressiven und sexuellen Antriebskräfte gehemmt werden, daß sie symbiotisch von anderen abhängig bleiben und ohne die Autoritäten nicht glücklich werden können usw., alle diese Entfremdungsphänomene nehmen sie nicht wahr, solange sie nicht massiv unter ihnen leiden. Und im allgemeinen leiden sie auch so lange nicht unter den Entfremdungsphänomenen, solange die autoritäre Orientierung dominant ist und deshalb als das Normale gilt.
Menschen, die mit der Marketing-Orientierung identifiziert sind und also einen Marketing-Charakter haben, zeigen immer Merkmale der Entfremdung von sich selbst, auch wenn ihnen diese Merkmale selbst nicht bewußt sind. Einige solche Wesensmerkmale des Marketing-Charakters sollen noch eigens erörtert werden.
Wesensmerkmale des Marketing-Charakters
Belebung und Vermenschlichung der Dinge: Ein erstes Wesensmerkmal der Marketing-Orientierung ergibt sich unmittelbar aus der für die marktwirtschaftliche Produktionsweise typischen Entfremdung: Die vom Menschen produzierten Dinge und Waren werden belebt und vermenschlicht. Wenn nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen das Subjekt des Marktgeschehens ist, sondern das Marktgeschehen, der Erfolg am Markt, die Verkäuflichkeit von Waren das eigentliche Agens, der Ort des Lebens ist, dann ist es nur folgerichtig, daß die zu Markte getragenen Waren auch belebt werden, einen menschlichen Namen haben, sich durch menschliche Eigenschaften auszeichnen. Ökonomisch geht es immer um eine “Belebung” des Marktes. Die Frage, wie der Markt belebt werden kann und mit welchen Produkten, Waren, Angeboten ist sekundär. Hauptsache der Markt atmet, pulsiert, bleibt in Bewegung und der Kreislauf von Angebot und Nachfrage bricht nicht zusammen. Der Markt läßt sich nicht nur mit einem menschlichen, belebten Körper vergleichen, sondern er ist es: er atmet, pulsiert, bewegt sich, kann kollabieren.
Die Belebung und Vermenschlichung des Marktes und der Waren ist heute allgegenwärtig. Dies beginnt bereits dort, wo den Waren menschliche Namen gegeben werden. Bei der schwedischen Möbelhauskette IKEA gibt es schon seit Jahrzehnten Regale, die Billy heißen. Jeder Einrichtungsgegenstand dort hat einen menschlichen Vornamen. In Katalogen von Warenhäusern haben sämtliche Produkte inzwischen menschliche Namen. Aber auch Dienstleistungen und Speisen werden mit Vornamen versehen. Und wer möchte nicht, daß mit Meister Propper neues Leben ins Haus kommt, auch wenn es sich in Wirklichkeit um eine Chemikalien-Mischung handelt, die auch noch kleinsten Mikroben den Garaus macht. In Katalogen und auf Prospekten haben die Waren nicht nur menschliche Namen, sondern können auch sprechen. Die Einkaufstüten haben ein Gesicht, aus dem Wortblasen entquillen.
Die Belebung und Vermenschlichung der Dinge zeigt sich überhaupt am eindrücklichsten darin, daß den Waren Attribute zugesprochen werden, die es nur bei lebendigen Wesen, bevorzugt beim Menschen gibt, aber eben nichts mit den Produkten selbst zu tun haben. Dem Menschen wird glauben gemacht, mit dem Waschmittel menschliche Frische zu kaufen, mit dem Deospray Attraktivität und Lebendigkeit, mit der Versicherung Vertrauen, mit dem Knabberzeug die Fröhlichkeit, mit dem Schmuckring Liebe, mit dem Weinbrand Zärtlichkeit, mit den Turnschuhen Erlebnisfähigkeit usw. – In Wirklichkeit sind Frische, Attraktivität, Lebendigkeit, Vertrauen, Fröhlichkeit, Liebe, Zärtlichkeit, Erlebnisfähigkeit ausschließlich Eigenschaften von Lebendigem. Die Belebung und Vermenschlichung der Waren und des Marktes droht unsere Wirklichkeitswahrnehmung mehr und mehr zu pervertieren, denn eigentlich ist sie illusorisch, um nicht zu sagen: halluzinatorisch. Doch der Markt lebt nur, wenn den Waren menschliche Eigenschaften zugesprochen werden.
Höherbewertung des Dinglichen: Werden die Dinge belebt und zu Trägern menschlicher Eigenschaften gemacht, dann liegt es nahe, alles Dingliche attraktiver zu finden als das Lebendige und Menschlich-Allzu-Menschliche. Das von Menschenhand geschaffene Ding, das “Produkt”, die Ware, hat einen ganz großen “Vorteil” gegenüber allem Menschlichen: Es ist vom Menschen erdacht, erfunden, konstruiert; es hat eine klar erkennbare Logik und Gesetzmäßigkeit, nach der es funktioniert; es ist deshalb berechenbar und in seine Teilgesetzlichkeit zerlegbar; anders als der Mensch ist das vom Menschen geschaffene Ding im allgemeinen viel perfekter, weil es nicht von Stimmungen, Gefühlen, Krankheiten in seinem Funktionieren beeinträchtigt wird. Etwas Dingliches ist deshalb viel zuverlässiger, kontrollierbarer, handhabbarer als alles Menschliche. All dies macht plausibel, warum Menschen ihr Auto mehr lieben als den Ehepartner oder die Kinder und warum wir einen Computer attraktiver finden, als den Körper oder die Gefühle eines anderen Menschen. “Technik zum Verlieben” schreibt die Edelfirma “Bang & Olufsen” über ihren Prospekt für Audio- und Videosysteme.
Verdinglichung des Menschen: Ein drittes Wesensmerkmal der Marketing-Orientierung ergibt sich aus der Anwendung dieser Faszination für alles Dingliche auf den Menschen selbst: die Lust an der Verdinglichung des Menschen. Die Menschen sind wie Dinge; sie “…haben Nasen und riechen nicht, sie haben Ohren und hören nicht, und sie haben einen Mund und sprechen nicht” (E. Fromm, 1992b, S. 27). Ist es nicht wunderbar, wenn jemand so zuverlässig denkt, schafft und funktioniert wie ein Apparat? Beispiele hierfür gibt es zuhauf. Controlling ist das A und O jeder Unternehmensführung. Arbeitsplatzbewertung, Effizienzkontrolle, Output usw. sind weitere Stichpunkte. Selbst im Therapiebereich greift die Verdinglichung des Menschen um sich: Man untersucht die Wirkfaktoren bei den einzelnen therapeutischen Methoden, um ihre Effizienz zu messen und dann – wie etwa beim therapeutischen Verfahren des neurolinguistischen Programmierens – eine leistungsfähigere Methode zu entwickeln. Im Bildungsbereich wird der Schüler und Student schon seit geraumer Zeit als dummer Computer begriffen, den man mit mehr Daten – Wissen – füttern muß, damit er das Know-how für eine gute Vermarktung seiner Persönlichkeit hat.
Viele Menschen in leitender Position müssen als größte Schwäche von sich zugeben, daß sie oft ungeduldig sind mit ihren Mitarbeitern. Diese Ungeduld ist der unmittelbare Ausdruck eines tief sitzenden Triebwunsches, den Betrieb und die Arbeit so effizient und leistungsstark zu gestalten, wie wenn der Betrieb eine große Maschine wäre und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Apparate, die zu funktionieren haben. Tatsächlich werden die menschlichen Wesen an der Effizienz und Leistung einer gut funktionierenden Maschine gemessen: Sie haben eben zu funktionieren, sonst werden sie ausgetauscht, ersetzt, in Frührente geschickt. Die Lust am Funktionieren und das Leiden, wenn etwas nicht funktioniert, bestimmen nicht nur unseren Umgang mit Maschinen, sondern auch den mit anderen Menschen und mit uns selbst. Der Mensch als Ding, als Maschine darf keine Fehler, Gefühle, Stimmungen, Gebrechlichkeiten, Eigenheiten, Ecken und Kanten haben, es sei denn, diese ließen sich nutzen und vermarkten.
Schizoider Wirklichkeitsbezug: Das Marktgeschehen bringt den Menschen dazu, seine Eigenkräfte und sein authentisches Selbsterleben zu vernachlässigen und die Attribute seines Menschseins und seiner Lebendigkeit in den von ihm geschaffenen Produkten unterzubringen. Den Gegenständen des Habens werden dann Aktivität, Liebe, Zärtlichkeit, Vertrauen, Lebendigkeit, Jugendlichkeit, Sicherheit, Kreativität usw. zugesprochen. In dieser Distanzierung von ihm müssen sie aber auch bleiben. Dieses schizoide Moment bestimmt wesentlich die Psychodynamik der Marketing-Orientierung. Es kommt zu einer generellen “Außen-Orientierung” (D. Riesman, 1950) oder “Haben-Orientierung” (E. Fromm, 1976a und 1989a), bei der gilt, daß alles, was außerhalb des Menschen ist, wertvoller ist, und daß alles, was zum Menschen als Menschen gehört, zu vernachlässigen oder gar zu verleugnen ist.
Suchthafte Abhängigkeit und sinnliche Stimulation: Die durch die marktwirtschaftliche Produktionsweise erzeugte Haben-Orientierung fördert nicht nur eine schizoide Wirklichkeitsbeziehung, sondern schafft gleichzeitig auch eine suchthaft-kontrollierende Abhängigkeit von den Objekten des Habens, jenen (halluzinatorisch) belebten Gegenständen, die im Prozeß der Selbstentfremdung durch den “Verkauf” des Menschseins zu Trägern der lebendigen Eigenkräfte des Menschen werden. Solche Gegenstände des Habens sind nicht nur materielle Größen, sondern auch andere Menschen, die eigenen Kinder, Hilfsbedürftige oder auch das eigene Wissen, das Durchsetzungsvermögen, die eigene Überzeugung, die vertretenen Werte und Ideale usw. Von diesen Gegenständen des Habens ist der Marketing-Orientierte abhängig, ohne einen unmittelbaren lebendigen und menschlichen Bezug zu ihnen zu haben. Er kann ohne sie nicht leben, denn sie begründen ihn und sein Sein: “Ich bin, was ich habe.” Diese Abhängigkeit vom Haben, von der Wirklichkeit draußen, bringt es mit sich, daß jede Art von Belebung und Sein von außerhalb erwartet wird, sind doch die von Menschen geschaffenen Produkte in der eigenen Wahrnehmung die eigentlichen Träger des Menschlichen und Lebendigen.
Will der Mensch sich selbst erleben und sein mit der Selbstentfremdung einhergehendes Gefühl innerer Leere und Langeweile kompensieren, dann bedarf es permanenter Stimuli, die ihm beweisen, daß es ihn gibt. Diese Abhängigkeit von scheinbar belebenden Objekten zeigt sich ebenso in den verschiedenen Formen suchthafter Abhängigkeit von Drogen oder Erlebnisformen wie im Angewiesensein auf permanente sinnliche Stimulation. Die Abhängigkeit von permanenten sinnlichen Reizen zeigt sich zum Beispiel hinsichtlich akustischer Reize darin, daß sich immer mehr Menschen nur noch mit einer Geräusch- oder Musikkulisse wohl fühlen können, weshalb immer das Radio- oder Fernsehgerät laufen muß; sie zeigt sich hinsichtlich visueller Reize bei Filmen und Fernsehsendungen durch eine rasche Folge von Bildschnitten, Überblendungen und Lichtorgeleffekten (sonst ist das Programm “todlangweilig”); und die Tatsache, daß heute immer mehr Menschen zu jeder Zeit irgend etwas im Mund haben müssen, ist meines Erachtens weniger auf ein permanentes Konsumbedürfnis zurückzuführen als vielmehr auf das Angewiesensein auf eine permanente Reizung der Geschmacksnerven.
Verlust eines authentischen Selbstwerterlebens: Ein sechstes Wesensmerkmal des Marketing-Charakters ist der Verlust eines authentischen Selbstwerterlebens, der unterschwellig zu einem Minderwertigkeits-, Unwert- und Nichtigkeitserleben führt, das der erfolgreiche Marketing-Charakter allerdings unter keinen Umständen zugeben und bewußt erleben darf. Zumeist wird das unbewußte defizitäre Selbsterleben mit Hilfe von narzißtischen Größenphantasien abgewehrt. Gelingt die Abwehr nicht, dann kann es zu narzißtischen Depressionszuständen, oft verbunden mit massiven und panischen Selbstverlustängsten kommen oder aber zu Wut- und Destruktionsdurchbrüchen. Auch wenn die Folgen des Verlusts eines authentischen Selbstwerterlebens nicht so dramatisch sind und die narzißtische Kompensation stabil ist, so kommt es doch zu der für den Narzißmus typischen Spaltung von grandiosem Selbst und bedrohlicher Umwelt, die über kurz oder lang zu einem Rückzug vom Marktgeschehen führen muß, weil immer mehr psychische Energie zur Aufrechterhaltung eines narzißtisch kompensierten Selbstbezugs benötigt wird.
Um die psychisch nicht-produktive Qualität des Marketing-Charakters zusammenzufassen: Die durch die marktwirtschaftliche Produktionsweise erzeugte Marketing-Orientierung “entseelt” den Menschen und führt zu einer Selbstentfremdung, bei der das Wirkliche – das heißt das, was wirkt – draußen ist. Nur der Markt, in welcher Form er auch auftritt, wird als belebend angesehen; er hat die Funktion einer zeitweisen “Leihmutter”, die zum Leben zu bringen hat, was eigentlich nur eine richtige Mutter hervorbringen kann oder aber ein reifender Mensch aus der Praxis seiner Eigenkräfte an Menschsein und Lebendigkeit hervorbringt (“pro-duziert”).
Ich möchte an dieser Stelle nochmals Uwe zu Wort kommen lassen. Er sagt:
“Ich muß mir meinen fehlenden Charakter ersetzen mit Kampfsport, Segeln, Surfen…, das sind alles Dinge, die ich mir angeeignet habe und die ich mir auf mein Haben-Konto gutschreiben kann.”
Das, was er sich auf seinem Haben-Konto gutschreiben kann, ermöglicht ihm ebenso wie die Menschen, in deren Charakter er hineinschlüpft, ein sekundäres, ein geliehenes Identitätserleben. Dieses geliehene Identitätserleben setzt zumeist die reale Gegenwart der “Leihmutter” voraus, weshalb es zu dem äußerst starken Angewiesensein auf die existenzgebende Umwelt kommt.
Dennoch hat das Angewiesensein auf seine Umwelt keine symbiotische Qualität. Sobald es nämlich zu wirklicher Nähe kommt, tritt Angst vor dem echten Berührtwerden auf und sucht er Distanz:
“Maximal vier bis fünf Stunden schaffe ich es”, sagt Uwe, “mit Bekannten zusammen zu sein, dann bleiben die Emotionen auf der Strecke. Ich bin dann so erschöpft, daß ich allein sein muß …”
Abschließend ist zu fragen: Läßt sich der durch die Marktwirtschaft “entseelte”, weil seiner selbst entfremdete und leblos gewordene Mensch wiederbeleben? Welche Aspekte lassen Hoffnung schöpfen, daß es zu einer Wiederbelebung des Menschen als Menschen kommen kann?
Aspekte zur Wiederbelebung des Menschen als Menschen
Der entfremdenden Wirkung marktwirtschaftlichen Produzierens und der sich daraus ergebenden Werte läßt sich nur gegensteuern, wenn der Mensch wieder einen Bezug zu seinen Eigenkräften bekommt und also eine produktive Bezogenheit zu sich und zur Wirklichkeit außerhalb von ihm lebt. “Produktiv” ist hierbei ganz wörtlich zu verstehen: daß etwas aus dem Menschen “hervor-geführt” (pro-ducere) wird, das im Menschen und seinen spezifisch menschlichen Fähigkeiten und Kräften wurzelt. Die Marktwirtschaft macht uns auf Schritt und Tritt Glauben, daß den Menschen belebt, was er sich aneignen kann, was also in ihn hineingeht, was er konsumiert. In Wirklichkeit ist es aber gerade umgekehrt. Alles, was wir über die Eigengesetzlichkeit des Psychischen wissen, spricht dafür, daß der Mensch psychisch nur wächst, wenn er seine seelischen Eigenkräfte praktiziert und also das aus sich hervorbringt, was in ihm als Möglichkeit steckt.
Die sich aus der Marktwirtschaft ergebende Entfremdung des Menschen von sich und seiner Umwelt zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß die Menschen in einer schizoiden Weise nicht mehr wirklich auf sich und auf die Welt bezogen sind, sich und die anderen deshalb auch nicht mehr spüren und erleben können, sondern sich und die anderen am liebsten als gut funktionierende und geölte Maschinen begreifen. Wenn unsere Bezogenheit auf andere, auf uns selbst, auf die berufliche Arbeit usw. nicht zu “seelenlosen” Geschäftsbeziehungen verkommen soll, dann gilt es, jene Kräfte in uns zu fördern, mit denen wir uns und das, was in uns an Trieben, Wünschen, Mächten, Gefühlen, Kräften, Eigenheiten ist, wieder wirklich spüren können.
Dazu bedarf es auch einer bewußten Umorientierung unserer Wertsetzungen: Nicht das, womit jemand sich am besten verkaufen kann, ist wertvoll und erstrebenswert, sondern das, was er ist, was in ihm als Eigenheiten, Gefühle, Neigungen, Fähigkeiten steckt. Zu sein, statt zu haben und sich zu verkaufen, wirklich mit sich in Kontakt zu sein, bedeutet nicht nur, zu allen Dimensionen der eigenen Persönlichkeit eine positive Beziehung zu haben: zum eigenen Körper, zur eigenen Seele und zu den eigenen geistigen Kräften. Vor allem im Bereich des Psychischen geht es um eine umfassende Kontaktnahme mit allen Kräften und Ausdrucksweisen des Psychischen: mit den liebenden und den aggressiven Impulsen, der eigenen Hochherzigkeit und dem Sadismus, der Eifersucht und dem Einfühlungsvermögen, mit den Begierden und Wünschen, auch wenn sie vor einem selbst oder vor dem Partner nur schwer bestehen können. Wer zu sich selbst eine produktive Bezogenheit lebt, wer sich selbst spüren kann als Mensch, der kann auch auf andere bezogen sein und einen emotionalen Kontakt mit anderen zulassen. Wer nämlich Aspekte und Eigenschaften von sich tabuieren und verdrängen muß, der wird sich vor dem anderen nur ängstigen, sobald er die bei sich verdrängten Aspekte beim anderen entdeckt.
Dem durch die Marketing-Orientierung drohenden Ausverkauf des Menschlichen kann nur gegengesteuert werden, wenn es noch Menschen gibt, die sich trauen, sie selbst zu sein und die menschlichen Eigenkräfte zu praktizieren. Nur der ist er selbst und bleibt es auch, selbst wenn ihm mächtig zugesetzt wird, der auf eigenen Füßen steht, statt sich von der Gunst anderer tragen zu lassen; nur wer seine eigenen Sinne wahrnimmt, statt sich vom Kitzel der Sensation stimulieren zu lassen, wächst menschlich. Nur wer seine eigenen Gefühle spürt, statt sie zu verdrängen oder durch Pseudogefühle zu ersetzen, ist wirklich auf sich und andere bezogen. Und nur wer sich eine eigene Überzeugung bildet, statt der öffentlichen Meinung zu huldigen, praktiziert seine Eigenkräfte und wächst menschlich.
- Es gilt deshalb, sich und seine Grundaffekte zu akzeptieren, auch und gerade dann, wenn sie gesellschaftlich tabu sind.
- Es gilt, zu seinen Gefühlen zu stehen, auch wenn sie hinderlich sein können, weil man nicht so fühlt, wie es der Job, der Chef, der Betriebspsychologe, die Marktchancen oder die Kunden verlangen.
- Es gilt, auf sein eigenes kritisches Urteil zu setzen, auch wenn es zum Stolperstein für eine vorgeschriebene Verkaufsstrategie wird.
- Es gilt, zu seinem Gerechtigkeitssinn zu stehen, selbst wenn dadurch die Teamfähigkeit der Abteilung belastet wird.
- Es gilt, das eigene Gespür für Solidarität zuzulassen, auch wenn die Arbeit dadurch weniger effizient ist, weil man sich noch dem anderen mitteilen möchte und die Kühnheit hat, statt seine eigene Arbeit zu leisten, dem anderen zu helfen.
- Es gilt, Konflikte und Krisen, wie sie mit jedem Wachstumsprozeß und Älterwerden einhergehen, bei sich selbst und bei anderen zuzulassen und auszuhalten und sie nicht als Nichtbelastbarkeit auszulegen.
- Es gilt, zu seinen Aggressionen, Eifersüchten, Neidgefühlen zu stehen, statt sie zu verdrängen und zu projizieren, und die Auseinandersetzung anderer mit ihnen zuzulassen.
- Es gilt aber auch umgekehrt, nicht so hart mit dem Menschlich-Allzu-Menschlichen ins Gericht zu gehen und sich immer bewußt zu bleiben, daß der Mensch keine glatt funktionierende Maschine ist, sondern ein fehlbares Wesen, das stark und schwach, fähig und versagend, liebend und hassend ist und das gute und schlechte Tage hat.
Ich möchte das Gesagte noch vom energetischen Gesichtspunkt aus zusammenfassen. Viele Menschen fühlen sich heute innerlich leer, ausgebrannt, ohne Energie. Sie haben sich verausgabt, ihre Energie verbraucht. Weil das Marketing den Verkauf ihres Menschseins, ihres emotionalen Bezogensein, ihres Eigenseins und ihrer Eigenkräfte verlangt, ist ihre psychische Energie erschöpft. Unsere psychische Energie, sagt Fromm, schöpfen wir aus zwei verschiedenen Quellen. Die eine ist “physischer Natur; sie wurzelt in der Chemie unseres Körpers. Von dieser Energiequelle wissen wir, daß sie etwa ab dem 25. Lebensjahr langsam wieder abnimmt … (Die) andere … entspringt unserem Bezogensein auf die Welt, unserem Interessiertsein.” Diese Quelle aber versiegt beim Marketing-Orientierten.
Gelingt es uns, unsere Eigenkräfte wieder zu praktizieren, dann fließt uns aus der Praxis unseres Bezogenseins auf uns selbst wieder Energie zu. Die meisten haben wenigstens ansatzweise diese Erfahrung gemacht, etwa wenn sie verliebt sind oder ganz engagiert ein spannendes Buch lesen: nicht nur, daß wir in solchen Situationen ganz konzentriert sein können, uns ganz interessiert und aufmerksam erleben, nicht merken, wie die Zeit vergeht, weil wir ganz unmittelbar auf einen anderen Menschen oder eine spannende Geschichte bezogen sind, und nicht nur, daß wir ganz viel Nähe und Einssein zulassen können und das Bedürfnis haben, zu teilen und uns mitzuteilen – wir fühlen uns auch frisch, aktiv, belebt, wach, aufmerksam, weil diese Art produktiver Bezogenheit selbst eine Quelle psychischer Energie ist.
Ein geteilter und mitgeteilter Lebensvollzug bedeutet nie Kräfteverschleiß und Energieverschwendung, sondern immer einen Zuwachs an Energie. Es ist gerade umgekehrt, wie uns alle heute glauben machen wollen, die sich und ihr Produkt erfolgreich verkaufen wollen. Auch im Beziehungsgeschehen gilt, daß die Beziehungsdynamik genau umgekehrt laufen muß als in der Marktwirtschaft. In dieser bezieht sich der Mensch auf den anderen schon immer in einer instrumentalisierenden und verzweckenden Weise. In der entfremdeten Bezogenheit geht es immer um die Frage, ob die Beziehung auf einen anderen mir etwas bringt. Das Beziehungsbedürfnis entspringt nicht meinem Bedürfnis, dem anderen etwas zu bringen; es geht darum, ob ich geliebt werde, und nicht um meinen Wunsch zu lieben. Es geht immer um die Frage, was ich von einer Beziehung für einen Nutzen habe und ob sie sich für mich rechnet, und eben nicht um mein wirkliches Interesse oder um meine Sorge für den anderen. Zu neuen Werten kann man nur unterwegs sein, wenn man aus sich selbst lebt und seine Eigenkräfte mobilisiert, ein wirkliches Interesse am anderen hat und auf ein Ziel emotional bezogen sein kann. Um mit einem Wort Fromms zu schließen: “Freude, Energie, Glück – sie alle hängen vom Grad unserer Bezogenheit und Interessiertheit ab, das heißt sie hängen in erster Linie davon ab, inwieweit wir mit der Realität unserer Gefühle und mit der Realität anderer Menschen in Berührung sind…”.
Quellen:
Die Zitate von Erich Fromm sind entnommen der 10bändigen Erich Fromm Gesamtausgabe (GA), Stuttgart 1980/81 (DVA); München 1989 (Deutscher Taschenbuch Verlag), sowie den acht Bänden Schriften aus dem Nachlaß, Weinheim und Basel 1989-1992 (Beltz Verlag), München (Heyne Verlag) 1996:
– 1941a: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom), GA I, S. 215-392.
– 1947a: Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie (Man for Himself), GA II, S. 1-157.
– 1955a: Wege aus einer kranken Gesellschaft (The Sane Society), GA IV, S. 1-254.
– 1958d: „Die moralische Verantwortung des modernen Menschen“, GA IX, S. 319-330.
– 1966g: „Psychologische Probleme des Alterns“, GA IX, S. 425-435.
– 1968a: Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik (The Revolution of Hope. Toward a Humanized Technology), GA IV, S. 255-377.
– 1973a: Anatomie der menschlichen Destruktivität (The Anatomy of Human Destructiveness), GA VII.
– 1976a: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (To Have Or to Be?), GA II.
– 1989a: Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung (Schriften aus dem Nachlaß, Band 1), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) 1989.
– 1990a: Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse (Schriften aus dem Nachlaß, Band 3), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) 1990.
– 1991b: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen (Schriften aus dem Nachlaß, Band 6), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) 1991.
– 1992b: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen (Schriften aus dem Nachlaß, Band 8), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) September 1992.
– 1993b: Leben zwischen Haben und Sein, herausgegeben von Rainer Funk, Freiburg (Herder Verlag, Herder Spektrum 4208) 1993.
Riesman, D., 1950: The Lonely Crowd, New Haven (Yale University Press) 1950; deutsch: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Neuwied (Luchterhand Verlag) 1956.
aus ICH Herbst 97