Marketing-Orientierung und Wertewandel. Psychische Folgen der Marktwirtschaft, Teil 1

von Rainer Funk

Soziologen sind Meister im Namengeben. Sie analysieren das Verhalten von Gesellschaften, spüren heraus, welches Verhalten sich in den Vordergrund schiebt und zur Norm wird, um diesem dann einen Namen zu geben, der kennzeichnend ist für das normative Verhalten vieler Menschen. Die Wortschöpfungen sind eindrucksvoll. Wir leben heute in einer „Risikogesellschaft“, „Freizeitgesellschaft“, „Ellbogengesellschaft“, „Raffgesellschaft“, usw.

Hinter den zahlreichen Wortschöpfungen der Soziologen stehen tatsächlich fundamentale Veränderungen im Verhalten des heutigen Menschen, die sich nicht nur im Geschäftsgebahren oder im konkreten Umgang miteinander zeigen, sondern auf allen menschlichen Ebenen, auch in den Wertevorstellungen und Idealen.

Um diese Veränderungen zu illustrieren, möchte ich einleitend als Beispiel das soziale Engagement erwähnen. Viele klagen heute, daß keiner mehr etwas freiwillig machen möchte, daß sich jeder die kleinste Gefälligkeit bezahlen läßt, daß es kein Mitleid und keine Hilfsbereitschaft mehr gibt. Da ist tatsächlich etwas verloren gegangen, das noch vor zwanzig Jahren weitgehend selbstverständlich war. Es gab damals noch viel mehr Menschen, die ihr Leben in sozialen Berufen aufgeopfert haben, ohne die Hand aufzuhalten; es gab den Angestellten, der am Abend Überstunden machte, ohne sich dafür bezahlen zu lassen; er oder sie tat dies aus innerer Pflicht für den Betrieb, aus Unterwürfigkeit gegenüber dem Arbeitgeber oder Dienstherrn oder einfach, weil es ein gutes Gefühl bereitete. Es gab das Kind, das der Mutter gerne eine Freude machte, das also auch etwas geben wollte und nicht immer nur die Hand aufhält und sich bedienen lassen will. Es gab die Solidarität mit Kranken, nicht weil man an ihnen gut verdienen kann, sondern weil man mit ihrem Leiden mitlitt. Es gab den Respekt vor dem Alter und die Fürsorge für die Alten, ohne daß sie erfolgreiche Senioren sein mußten. Es gab Menschen, die gerne in helfende Berufe gingen, eben weil sie helfen wollten. Es gab dies alles einfach aus einer inneren emotionalen Verbundenheit heraus.

Es geht mir nicht darum, den Verlust dieser selbstlosen Ideale und des Idealismus zu beklagen. In Wirklichkeit hatte diese Art Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung auch viele Schattenseiten. Sie machte abhängig vom Lob und der Anerkennung durch die äußere oder innere Autorität, für die man sich aufopferte; sie machte abhängig vom weltlichen oder geistlichen Dienstherrn oder sie machte abhängig von einem grausamen inneren Über-Ich, das immer noch mehr Idealismus forderte, um sich nicht schuldig zu fühlen; sie forderte eine Selbstbeherrschung, bei der die eigenen Bedürfnisse und Wünsche auf der

Strecke blieben usw. Viele neurotischen Erkrankungen wurden durch eine solche Selbstlosigkeit verursacht.

Die bisherigen Ausführungen sollten nur zu Bewußtsein bringen, daß sich derzeit ein ungeheurer Wertewandel vollzieht, und zwar auf allen Ebenen, nicht nur im Bereich der sozialen Berufe und des ehrenamtlichen Engagements. Im Folgenden möchte ich von einer sozial-psychologischen Warte aus die andere „Logik“, „Grundorientierung“ oder „Dynamik“ verständlich machen, die für die Menschen heute in ihrem Verhalten maßgeblich ist und die sich deshalb in ihren anderen Haltungen, Charakterzügen und Wertvorstellungen niederschlägt. Ich werde dabei auf Erkenntnisse von Erich Fromm zurückgreifen, der die psychischen Wurzeln für Wertvorstellungen in Abhängigkeit von den jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aufgezeigt hat. Das, was Menschen wichtig und wertvoll ist, das besetzen sie mit psychischer Energie – das erstreben sie und finden sie erstrebenswert.

Wenn viele Menschen ähnliche Wertvorstellungen haben und diese Normen und Werte mit Leidenschaftlichkeit zu realisieren suchen, dann müssen diese gemeinsamen Ideale mit der Art des Wirtschaftens, der Arbeitsorganisation und der Produktionsweise zu tun haben, die diesen Menschen gemeinsam ist. Wenn sich diese Wertvorstellungen ändern, dann liegt es nahe, sie mit den veränderten Bedingungen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens in Verbindung zu bringen. Eben diesen Zusammenhang von ökonomischen und sozialen Erfordernissen einerseits und den leidenschaftlichen Strebungen der Menschen und ihren Idealen und Wertvorstellungen andererseits hat Erich Fromm zu erforschen versucht. Er hat sich den Zusammenhang so vorgestellt, daß sich die Leitwerte des Wirtschaftens und der Produktionsweise – etwa die Berechenbarkeit der Arbeitsvorgänge – in psychischen Leidenschaften der betreffenden Menschen niederschlagen. Ein Beispiel: Menschen, die in ihrem Arbeitsleben permanent mit dem Leitwert der Berechenbarkeit konfrontiert sind, freunden sich mit dieser Erwartung schließlich an, verinnerlichen ihn und finden plötzlich selbst alles attraktiv und wertvoll, was sich berechnen läßt.

Die entscheidende psychologische Einsicht in diesen Zusammenhang ist jedoch darin zu sehen, daß diese Identifizierung mit den sozio-ökonomischen Erfordernissen ein Prozeß ist, der eine tiefreichende Wirkung hat. Es geht nicht nur um eine vorübergehend Verhaltensänderung, sondern um einen tiefgreifenden psychischen Veränderungsprozeß, der sich in einem ebensolchen Wertewandel niederschlägt. Tatsächlich verinnerlichen wir diese Erwartungen so tief bis in unsere psychische Struktur hinein, daß sie unsere Charakterorientierung prägt. Wir fühlen uns – um das genannte Beispiel nochmals aufzugreifen – mit der Lust am Berechnen eins, sind leidenschaftlich gern berechnend, berechnen nicht nur Arbeitsprozesse, sondern weiten das Berechnen auf alle Lebensvorgänge – bis in Kindererziehung, Partner- oder religiöse Beziehung – aus und erleben das Berechnenwollen zu unserer Identität gehörend.

Wenn wir vom Wertewandel sprechen, dann geht es uns psychologisch um eine Änderung in der Charakterorientierung vieler Menschen, die durch Veränderungen in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen, und hier vor allem durch veränderte Produktionsweisen, hervorgerufen werden.

Wir alle – zumindest alle, die über dreißig Jahre alt sind – wurden Zeugen eines eindrücklichen Wertewandels, als in Westdeutschland in den sechziger Jahren die Übermacht der autoritären Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft zu Ende ging und marktwirtschaftliche Prinzipien dominant wurden. Die eingangs erwähnten Beispiele zum sozialen Engagement illustrieren eigentlich nur das Ende dieser autoritären Gesellschafts-Charakterorientierung. Bevor ich daran gehe, den Wertewandel aufzuzeigen, der mit der marktwirtschaftlichen Produktionsweise einhergeht, möchte ich zum Vergleich zuvor noch jene Werte in Erinnerung rufen, die mit der sogenannten autoritären Charakterorientierung verbunden sind und durch autoritäre Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft erzeugt werden.

Ideale und Werte der autoritären Charakterorientierung

Von autoritären Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft wird dann gesprochen, wenn die Produktionsverhältnisse und Beziehungsstrukturen durch Herrschaft und hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse gekennzeichnet sind. Jemand, der Macht hat, kann sich andere unterwerfen und zum Gehorsam zwingen. Wer immer jemanden über sich hat, muß sich dieser Macht beugen. Wer noch jemand unter sich hat, kann diesem befehlen und über ihn Macht ausüben. Für alle im Mittelbereich gilt: nach oben buckeln, nach unten treten. Am ausgeprägtesten war diese autoritäre Struktur im politischen Bereich im Absolutismus, im preußischen Staat und in Diktaturen wie etwa dem Dritten Reich oder im real existierenden Sozialismus.

Die Widerspiegelung der autoritären Strukturen im Charakter zeigt sich als sadistische Grundstrebung, andere und sich selbst beherrschen zu wollen und zugleich als eine (oft nicht in gleicher Weise erkennbare) masochistische Grundstrebung, sich im Umgang mit anderen unterwerfen zu wollen bzw. im Hinblick auf den Umgang mit sich selbst sich zu beherrschen bzw. sich selbst verleugnen zu wollen. Bei der Aneignung der Güter zeigt sich eine ausbeuterische Tendenz, sich zu nehmen, was man braucht, bzw. eine rezeptive Haltung, alles empfangen zu wollen. Ein wichtiges weiteres Kennzeichen für den autoritären Charakter ist starke Abhängigkeit und emotionale Gebundenheit unter den Menschen.

Das heute allenthalben hörbare Klagen über den Wertewandel hat vor allem mit dem Ende des masochistisch-unterwürfigen Aspekts der autoritären Orientierung zu tun. Hier nämlich macht sich der Mensch zu einem Teil einer anderen Person, die ihn führt, leitet, beschützt, versorgt, Weisung erteilt. Die Macht jener Person oder Institution, der sich der masochistische Charakter unterwirft, wird idealisiert und übersteigert und die Unterwerfung unter eine starke oder fürsorgliche Hand wird gern als Liebe, Treue, Dankbarkeit rationalisiert. Aber auch das Verschwinden der sadistischen Leidenschaften schlägt sich im Wertewandel nieder: Nur zu oft lebten Menschen ihre Lust am Beherrschen so aus, daß sie, statt einen anderen Menschen zu beherrschen, sich selbst beherrschten, sich diszipliniert verhielten, ganz selbstlos und fürsorglich wurden, keine Schwäche auslebten, nie die Beherrschung verloren, die Gefühle unterdrückten, keine Aggressionen zeigten, sondern immer nur die Zähne zusammenbissen.

Autoritären Menschen liegen folgende Werte, die sich aus ihren Charakterzügen ergeben, besonders am Herzen:

⋅ sie bewundern und idealisieren die Autorität, den Kaiser, den Staat, den Papst, die Tradition – eben alles Starke und Mächtige und halten Werte wie Ehre, Respekt, Achtung besonders hoch;

⋅ weil alles Gutes letztlich von der Autorität ausgeht und nur geduldig erwartet werden muß, sind sie für alles dankbar und erziehen auch zur Dankbarkeit; sie sind gerne geduldig, gehorsam, treu, ergeben und demütig;

⋅ Arbeit verstehen sie in erster Linie als Pflichterfüllung (des Beamten, des Arbeiters, des Polizisten, Soldaten usw.), oder als Dienst (vor allem bei religiösen und ethischen Ansprüchen);

⋅ sie sind für Gesetz und Ordnung, befürworten schärfere Kontrollen und härteres Durchgreifen;

⋅ sie betonen die Notwendigkeit von sozialen Unterschieden und Klassengegensätzen, die möglichst unhinterfragt gelten sollen und legen Wert auf Titel und formelle Anreden (Herr Direktor, Frau Doktor), auf Etiketten und Uniformen (besonders bei den Ordnungshütern und Trägern staatlicher Gewalt);

Die wenigen Beispiele mögen genügen, um in Erinnerung zu rufen, was für die meisten von uns in der Kindheit noch eine Selbstverständlichkeit war, heute aber mehr und mehr dem Wertewandel zum Opfer gefallen ist.

Ich möchte nun die “Marketing-Orientierung” in ihren wichtigsten Grundzügen aufweisen und gleichzeitig auch kritisch beleuchten. Denn, anders als jene Soziologen, die nur konstatieren, gilt es zugleich, die psychischen Folgen dieses Wertewandels zu erkennen und Aspekte für notwendige Korrekturen aufzuzeigen. Da die offensichtliche Veränderung in den Wertvorstellungen und in den Psychen der Menschen nicht vom Himmel fällt und auch nicht genetisch bedingt oder durch irgendwelche ererbten Triebe erklärt werden kann, sondern mit den historischen – und hier vor allem mit den wirtschaftlichen, produktionstechnischen und arbeitsorganisatorischen – Gegebenheiten und Veränderungen zu tun haben muß, ist zunächst von der marktwirtschaftlichen Produktionsweise zu handeln.

Die marktwirtschaftliche Produktionsweise

Frühere Formen kapitalistischer und staatskapitalistischer Produktionsweise waren mehr oder weniger autoritär organisiert. Wie in allen autoritären Strukturen gab es einerseits Kapitaleigner, Unternehmer, Arbeitgeber, Bosse, die als Autoritäten das Sagen hatten und Herrschaft ausübten, und andererseits Lohnabhängige, Arbeitnehmer, Angestellte, die ihre Pflicht zu tun und gehorsam ihre Arbeit zu verrichten hatten.

Vor allem hinsichtlich der Produktionsweise hat sich in diesem Jahrhundert ein fundamentaler Wandel vollzogen, den man mit dem Begriff “marktwirtschaftliche Produktionsweise” bzw. kurz “Marktwirtschaft” fassen kann. Diese neue Produktionsweise wurde möglich durch neue Produktionstechniken, durch die Erfindung neuer Materialien, durch neue Verwertungs-, Handels- und Absatzmöglichkeiten und viele andere Faktoren. Für die marktwirtschaftliche Produktionsweise sind autoritäre und hierarchische Strukturen zu starr und darum untauglich. Was ist unter „Marktwirtschaft“ und „marktwirtschaftlicher Produktionsweise“ zu verstehen?

Wichtigstes Merkmal der Marktwirtschaft ist ein verändertes Verständnis vom Markt und was auf dem Markt geschieht. Ein Markt, so könnte man denken, ist in erster Linie dazu da, um Gebrauchsgüter zu verkaufen, so daß sich der Markt vom Gebrauchswert eines Gegenstandes her regelt: Was der Mensch zum Leben braucht, das kauft er. Was der Mensch zur Realisierung seiner eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten braucht, das eignet er sich an. Immer aber ist der Mensch mit seinen Bedürfnissen dabei das Subjekt des Marktgeschehens.

Eben dies ist nicht mehr – oder kaum noch – der Steuermechanismus des Marktes. Anders als früher wird der Markt heute nicht mehr vom Gebrauchswert eines Gegenstandes gesteuert, sondern von Angebot und Nachfrage. Es hängt heute alles davon ab, ob man die Nachfrage steigern kann und ob sich etwas verkaufen läßt, also zur Ware machen läßt. Sinnfälliger Ausdruck hierfür ist die Tatsache der Werbung überhaupt, insbesondere aber die Art der Werbung: Weil ein Gebrauchsgegenstand nicht als Gebrauchsgegenstand begriffen wird, sondern als Ware, die es unabhängig vom Gebrauchswert an den Mann und an die Frau zu bringen gilt, wird ihm das zugeordnet, was sich verkaufen läßt: Gefühle, Bedürfnisse, Stimmungen, Symbolisierungen der Zuwendung, des Erlebens, des Erfolgs oder des Vorteils. Ein Joghurt ist nicht mehr ein Joghurt, sondern ein Erlebnis oder ein süßer Traum. Und man kauft keine Turnschuhe mehr, sondern ein Stück Jugendlichkeit und Sportlichkeit usw.

Nicht genug damit, daß die Gebrauchsgüter nur noch als Waren von Interesse sind, auch der Mensch wurde zur Ware auf dem Markt. Deshalb hängt der Erfolg eines Menschen “weitgehend davon ab, wie gut sich ein Mensch auf dem Markt verkauft… “ (E. Fromm, 1976a, GA II, S. 146). Entscheidend ist die Persönlichkeit, die ein Mensch “darstellt”, nicht die, die er ist. “Das Bewertungsprinzip ist dasselbe wie auf dem Warenmarkt, mit dem einzigen Unterschied, daß hier ‘Persönlichkeit’ und dort Waren feilgeboten werden.” (A. a. O.)

Uns hier interessiert vor allem, welche Veränderungen diese marktwirtschaftliche Art und Weise beim Menschen bewirkt. Wir fragen deshalb nach den marktwirtschaftlichen Werten und Erfordernissen, denen sich der Mensch anpassen muß. Der Einzelne paßt sich an, indem er in sich jene “Charakterzüge” zum Zuge kommen läßt, die diese Produktionsweise zu ihrem Funktionieren braucht, so daß er schließlich gern und mit Lust das als wertvoll ansieht, tut und erstrebt, was er von den marktwirtschaftlichen Erfordernissen her zum Funktionieren des Systems tun muß. 

Marktwirtschaftliche Erfordernisse und ihre Widerspiegelung in neuen Werten und Charakterzügen 

Anpassungsfähigkeit und Flexibilität

Wenn nicht der Mensch und seine Bedürfnisse, sondern der Markt und das, was sich verkaufen läßt, das Subjekt des Wirtschaftens sind, dann ist das A und O jedes Wirtschaftens die Anpassung an die Marktsituation. Marktgerechtes Verhalten als ökonomische Erfordernis spiegelt sich in dem Wert und im leidenschaftlichen Streben des gegenwärtigen Menschen wider, in jeder Hinsicht anpassungsfähig und flexibel zu sein. Statt zu seiner Individualität und zu seinen Überzeugungen zu stehen, „sei es gelegen oder ungelegen“, gilt es, sich den Erwartungen entsprechend zu verhalten nach dem Motto: „Ich bin, was ihr wollt.“ Wichtig und richtig ist, was „man“ tut, liest, anzieht, kauft usw. Entsprechend gibt es keine bleibenden Werte und Orientierungen mehr. Werte lassen sich statistisch oder durch Verkaufszahlen und Bestsellerlisten ermitteln. Wertvoll ist, was geht, was sich verkaufen läßt. Und was heute in der Wertschätzung ganz oben steht, kann morgen bereits wieder „out“ sein.

In der Folge kommt es zu einem Werte-Relativismus und zu Orientierungslosigkeit, weil es eben keine bleibenden Werte mehr gibt.

Anpassungsfähig ist nur, wer flexibel ist. Ob jemand materielle Güter produziert oder – wie im Medienbereich und in der Kunstszene – kulturelle Güter oder ob jemand in Handel und Gewerbe und im Dienstleistungsbereich tätig ist, alle wissen heute, daß ein am Markt orientiertes Wirtschaften eine umfassende Flexibilität erfordert, um den sich wandelnden Nachfragen gerecht zu werden. Dies gilt verstärkt in solchen Bereichen, wo der Markt eigentlich gesättigt ist und es deshalb zu einem Verdrängungswettbewerb kommt. Wer nicht flexibel ist, ist innerhalb kürzester Zeit „weg vom Fenster“. Flexibilität als wirtschaftliche Erfolgs- und Überlebensstrategie führt deshalb auch zu einer Diversifikation der Produktion oder der Dienstleistung und des Angebots, um auf wirtschaftliche Einbrüche in einem Betriebssektor flexibel genug reagieren zu können.

Wie immer auch: Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sind heute ganz wichtige Erfordernisse und oberste Leitwerte marktorientierten Wirtschaftens, die sich deshalb auch in entsprechenden leidenschaftlichen Wünschen der Menschen widerspiegeln. Auch hier gilt wie bei allen gesellschaftlich erzeugten leidenschaftlichen Strebungen, die der Einzelne in sich spürt: Was der Einzelne vom Wirtschaftlichen her tun muß, mit dem ist er identifiziert und tut es mit Leidenschaftlichkeit. Der   Mensch von heute liebt die Flexibilität, die Abwechslung, das je Neue und Andere, das Nicht-Festgeschriebene, die Herausforderung. Seine Flexibilität zeigt sich vor allem in seiner Fähigkeit, möglichst viele Persönlichkeitsrollen spielen zu können, für die es auf dem Markt eine Nachfrage gibt. „Die Auswechselbarkeit der Haltungen“, sagt Fromm (1947a, GA II, S. 53) „ist das einzig Beständige einer solchen Orientierung… Dominant ist keine besondere Haltung, sondern das Vakuum, das sich am schnellsten mit der jeweils gewünschten Eigenschaft ausfüllen läßt. Dies ist jedoch nicht mehr eine Eigenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Es ist höchstens eine Rolle oder die Vorspiegelung einer Eigenschaft, die in dem Augenblick ausgewechselt wird, in dem größerer Bedarf nach einer anderen besteht.“

Mobilität

Eine weitere zentrale Erfordernis der am Markt orientierten Wirtschaft ist Mobilität. Dabei geht es heute längst nicht mehr nur um die Mobilität der Arbeitenden. Daß einem Beschäftigten bei IBM zugemutet wird, rund um den Erdball mobil zu sein, egal was die Familie und die Schulkinder dazu sagen, ist keine Besonderheit mehr. Auch daß Schwerbehinderte zu wenig mobil sind und deshalb nur ungern eingestellt werden, ist keine Neuigkeit. Noch immer sind Frauen in gebärfähigem Alter und Familienmütter weniger begehrte Arbeitskräfte als alleinstehende junge Männer. Der Mobilität wird heute aber nicht nur beim Arbeitenden, sondern auch bei der Produktion und beim Produzierten selbst ein ganz hoher Stellenwert eingeräumt. Die Globalisierung der Wirtschaft ist in erster Linie eine Globalisierung der Produktion. Wenn sich das Papier für den Buchdruck am billigsten in Brasilien herstellen läßt, weil dort keine Kosten für die Reinhaltung der Umwelt zu berücksichtigen sind, dann wird das Papier dort hergestellt und auf die Philippinen geschafft, weil dort die Arbeitslöhne für die Buchherstellung am günstigsten sind. Den Versand der Schulbücher nach Deutschland übernimmt schließlich die nigerianische Tochterfirma eines amerikanischen Transportunternehmens, weil dort keine Steuern anfallen und die Sicherheitsbestimmungen nicht kontrolliert werden. Die Mobilität der Produktion und des Produzierten ist zur Heiligen Kuh der Marktwirtschaft geworden, der man nichts anhaben darf. Eine Recherche des Wuppertaler Verkehrs-Institut erbrachte, daß ein Joghurt im Schnitt insgesamt 8.000 km hinter sich gebracht hat, bis er beim Verbraucher ankommt.

Bei so viel Wertschätzung der Mobilität des Produzierten, der Produktion und der Produzierenden nimmt es nicht wunder, daß der Drang zur Mobilität zu den stärksten Antriebskräften beim heutigen Menschen gehört und „Mobilität“ ein ganz zentraler Wert geworden ist. Der „moderne“ Mensch fühlt sich nicht mehr ortsgebunden und festverwurzelt, sondern kann überall – und nirgends – zuhause sein. Der „Trieb“, mobil zu sein, resultiert aber nicht aus der Tatsache, daß hier ein alter, in der bürgerlich-seßhaften Gesellschaft verdrängter nomadischer Zug wieder durchkommt. Der Wunsch nach Mobilität ist vielmehr ein Ausdruck der Mobilität der Marketing-Orientierung. Darum kann dem Automobilisten oder dem Jet-Setter nichts Schlimmeres passieren, als daß er – etwa aus gesundheitlichen Gründen – nicht mehr reisefähig ist, ihm der Führerschein entzogen wird oder daß ihm die GRÜNEN durch einen Erhöhung der Mineralölsteuer seine Mobilität einschränken. Nicht mehr „mobil“ sein zu können, gehört zu den schlimmsten Schicksalsschlägen in einer Freizeitgesellschaft, in der die Tourismusbranche selbst in Zeiten der wirtschaftlichen Regression noch Umsatzsteigerungen vorweisen kann. 

Freiheit als Bindungslosigkeit

Neben Konformismus, Flexibilität und Mobilität wird heute eine als Freiheit erlebte Bindungslosigkeit als zentraler Wert angesehen und leidenschaftlich erstrebt. Die Soziologen haben hierfür den Begriff der „Individualisierung“ geprägt. Unter psychologischer Perspektive verbirgt sich hinter diesem als Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben erlebten Wunsch nach Individualisierung vor allem die Wertvorstellung eines Bezogenseins ohne emotionale Bindung. Wie läßt sich dieses leidenschaftliche Streben als Leitwert der Marktwirtschaft erklären?

Zu den wesentlichen marktwirtschaftlichen Veränderungen gehört eine Betriebsleitung und -organisation durch ein Management, das sich durch innovative Kreativität, Experimentierfreudigkeit und Offenheit für neue Formen der Kooperation auszeichnet, und eine Mitarbeiterschaft, die sich kooperativ zeigt und als Team bzw. als Angehörige einer Betriebsfamilie versteht. Die Besitzverhältnisse spielen hierbei eine untergeordnete Rolle. Sowohl Leitende Angestellte als auch die Mitarbeiter werden heute auf eine „corporate identity“ eingeschworen, das heißt, es wird von ihnen erwartet, daß sie eine bestimmte Art von „positiver“ Zugehörigkeit zum Betrieb und von „positiver“ Bezogenheit auf die Arbeit entwickeln, bei der niemand tiefergehende Bindungswünsche mit der beruflichen Position und der Arbeit spürt.

Das, was im Leben des Menschen und bei der Entwicklung menschlichen Lebens eine ganz zentrale Rolle spielt, nämlich die Fähigkeit des Menschen, sich binden und sich trennen zu können, wäre für die am Markt orientierte Wirtschaft tödlich. Angestellte auf welcher Ebene auch immer müssen jederzeit ersetzbar und austauschbar sein, eingestellt und entlassen werden können. Wer sich bindet oder wen eine drohende Trennung lähmt, der stellt eine Belastung dar. Worauf es ankommt, ist die Fähigkeit zu einer Art von Beziehung, die keinen Tiefgang hat, keine Bindung wünscht und kein weitergehendes Interesse zeigt, sondern jederzeit zur Disposition steht. Im privaten Bereich zeigt sich der Wunsch nach Bindungslosigkeit nicht nur in der Zunahme der Single-Haushalte und der erhöhten Scheidungsrate. Auch innerhalb der Beziehungen ist die Frage von Bindung, Nähe, Intimität dort, wo sie nicht durch eine zeitlich begrenzte sexuelle Attraktivität vorübergehend hergestellt wird, ein Problem.

Unverbindlichkeit und Gleichgültigkeit

Die marktorientierte Erfordernis einer Bezogenheit ohne Bindung spiegelt sich in der Psyche der Menschen nicht nur in einem zunehmenden Wunsch nach Bindungslosigkeit, sondern auch in der Wertschätzung einer Beliebigkeitshaltung und Unverbindlichkeit. Freilich wird dieser Wert meist nicht eigens proklamiert, aber doch faktisch gesucht und gelebt. Denken Sie an den Erziehungsalltag, wo einfach nicht mehr gilt, was die Eltern sagen und statt dessen jedes Mal von Neuem ausgehandelt werden muß, wer diese Woche die Spülmaschine auszuräumen hat, oder daß zuerst die Hausaufgaben zu machen sind, bevor der Fernseher angemacht wird. Es gibt nichts, was einfach Verbindlichkeit hat, sondern alles muß je neu verhandelt oder in Familienkonferenzen nachverhandelt werden. Freilich zeigt dieses Beispiel, daß noch immer ein Anspruch auf Verbindlichkeit erhoben wird; in vielen Familien haben die Eltern den Kampf um Verbindlichkeiten aufgegeben und überlassen das Geschehen wie auf dem Markt dem freien Spiel der Kräfte – mit dem oft traurigen Ergebnis, daß sich Jugendliche völlig bindungslos durch die Szene bewegen und keinen Bock auf etwas haben, was Verbindlichkeit bedeuten würde.

Die zunehmende Beliebigkeitshaltung und Unverbindlichkeit können wir auch an uns selbst beobachten: Die meisten unter uns haben alle Schwierigkeiten, sich noch wirklich auf jemanden einzulassen, sich wirklich für den anderen zu interessieren und zu spüren, was da eigentlich im eigenen Kind oder im Gesprächspartner vor sich geht. Auch die sogenannten „persönlichen“ Beziehungen werden wie Geschäftsbeziehungen erlebt, wo es nicht um den anderen als Menschen geht, sondern um eine Sache, ein Geschäft, um das Funktionieren und darum, daß es sich für einen selbst rechnet. Wir haben kaum noch eine innere Verbindung, fühlen keine Verpflichtung und Verbindlichkeit, eben weil wir nicht zum anderen hinüberreichen und mit ihm nicht gefühlsmäßig, sondern geschäftlich verbunden sind.

Ein weiterer Aspekt dieser Unverbindlichkeit ist der Charakterzug der Gleichgültigkeit. Diese zeigt sich gegenüber dem Leben ebenso wie gegenüber den Folgen unseres Tuns. Um Fromm selbst zu Wort kommen zu lassen: „Da der Marketing-Charakter weder zu sich selbst noch zu anderen eine tiefe Bindung hat, geht ihm nichts wirklich nahe, nicht weil er so egoistisch ist, sondern weil seine Beziehung zu anderen und zu sich selbst so dünn ist. Das mag auch erklären, warum sich diese Menschen keine Sorgen über die Gefahren nuklearer und ökologischer Katastrophen machen, obwohl sie alle Fakten kennen, die eine solche Gefahr ankündigen. … Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Kinder und Enkel … ist eine Folge des Verlusts an emotionalen Bindungen, selbst jenen gegenüber, die ihnen am ‘nächsten’ stehen. In Wirklichkeit steht dem Marketing-Charakter niemand nahe, nicht einmal er selbst.” (E. Fromm, 1976a, GA II, S. 375.) Die am häufigsten gebrauchten Worte unserer Kinder sind: „Ist doch egal“ und „Vergiß’ es!“ Die Zeit der großen Bewegungen – der alternativen Bewegung, der Umweltbewegung, der Grünen Bewegung, der Friedensbewegung – wo sich noch Hunderttausende bewegt haben, ist vorbei und hat einer Gleichgültigkeitshaltung Platz gemacht. Engagierte Menschen stehen im Geruch, Neurotiker zu sein.

„Coolness“

Eine weitere Auswirkung der marktwirtschaftlichen Erfordernis unverbindlichen Bezogensein ist die Ent-Emotionalisierung, die sich im Verdrängen, Verleugnen und Abspalten der Gefühle zeigt und in der Wertschätzung und im Charakterzug der „Coolness“ in Erscheinung tritt. Der Marketing-Charakter erlebt Gefühle insofern als hinderlich und zu vermeiden, weil sie Attribute der Bezogenheit und der Bindung sind. Da Gefühle (von Liebe, Begeisterung, Freude, aber auch von Haß, Eifersucht, Neid, Schuld, Scham usw.) bevorzugt mit Bindungen und Trennungen verquickt sind, vertragen sie sich nicht mit dem Ideal unverbindlichen Bezogenseins. Gefühle sind „Sand im Getriebe“, stören die Leistungsfähigkeit, werden mit Irrationalität gleichgesetzt. Darum will der Marketing-Charakter sie verdrängen, abspalten und verleugnen. Was zählt ist der klare Kopf, der kühle Verstand, das Rein-Cerebrale, die vom Emotionalen nicht belastete Intelligenz.

Psychologisch führt das Ideal der „Coolness“ und Gefühllosigkeit zu einer Reihe von mehr oder weniger krankhaften Phänomenen, die hier wenigstens angedeutet werden sollen:

⋅   Wenn das Erleben und Ausleben von Gefühle insgesamt vermieden werden muß, dann betrifft dies alle Gefühle, also auch das Erleben positiver Gefühle der Genugtuung und Befriedigung durch die Arbeit, des Glücksgefühls und der Gefühle von Freude und Begeisterung für das, was man tut.

⋅  Eine zweite mögliche Folge ist die Intellektualisierung, bei der an die Stelle des Gefühlserlebens die Gehirnarbeit tritt mit unendlichen Argumenten, Spitzfindigkeiten, Rationalisierungen, nur um ja nichts fühlen zu müssen und eine Gefühlsreaktion zu zeigen.

⋅    Eine dritte Möglichkeit ist das Denken von Gefühlen, die Entwicklung von Pseudogefühlen und von falschen Gefühlen. Wenn wir Gefühle denken, dann nehmen wir an, ein Gefühl zu haben, aber wir fühlen und spüren in Wirklichkeit nichts. Die Entwicklung von Pseudogefühlen läßt sich am besten am Phänomen der Sentimentalität verdeutlichen. Sentimentalität, sagt Fromm, „ist Gefühl unter der Voraussetzung völliger Distanziertheit… Man fühlt zwar, aber man ist nicht wirklich und konkret auf etwas in der Realität bezogen. Eben dann ist man sentimental. Die Gefühle quellen über und treten irgendwo in Erscheinung… Sentimentale Menschen vermitteln den Eindruck, ziemlich distanziert, zurückgezogen und ohne reale Beziehung auf etwas Bestimmtes zu sein, und gleichzeitig findet man bei ihnen diese Gefühlsausbrüche. Sie treten bei Filmen, bei Fußballspielen oder anderen Gelegenheiten auf, wo sich dann plötzlich eine große Emotion, eine große Erregung oder eine starke Reaktion zeigt, die sich wie Freude oder wie Trauer in den Gesichtern gebärdet, und doch ist der Gesichtsausdruck bei näherem Hinsehen zugleich leer.“ (E. Fromm, 1991b, S. 73-75.)

⋅ Eine vierte mögliche Folge bei der Vermeidung von Gefühlen ist schließlich die Somatisierung der Gefühle, bei der nicht die Gefühle, sondern der Körper erlebt wird, wie er schmerzt, sticht, verkrampft, sich verspannt, drückt, erlahmt usw.

Egoismus als Marketingstrategie

Ich sprach bisher von Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Mobilität, Freiheit als Bindungslosigkeit, Unverbindlichkeit und Gleichgültigkeit und von „Coolness“ als Erfordernissen und Leitwerten marktorientierten Wirtschaftens und ihren Widerspiegelungen in entsprechenden Wertvorstellungen und leidenschaftlichen Strebungen des Marketing-Charakters. Ein weiterer zentraler Leitwert marktorientierten Wirtschaftens ist das Marketing im eigentlichen Sinne: die Vermarktung der Produkte bzw. – bei Dienstleistungen und sozialen Berufen – der zur Ware gemachten eigenen Persönlichkeit, die sich in einem „Marketing des Egos“ manifestiert.

Die Dominanz des Marketings verschiebt das gesamte Augenmerk auf das Ankommen auf dem Markt und auf die Attraktivität des zu Verkaufenden. Deshalb ist die Frage der Qualität des Produkts oder der Dienstleistung faktisch zweitrangig. Die Abteilungen für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, Präsentation und Marktforschung bekommen immer mehr Gewicht. Für die „public relations“ sind alle Möglichkeiten der Suggestion erwünscht, um ein Produkt oder eine Dienstleistung auf dem Markt erfolgreich zu machen. Es kommt auf das Äußere, das Erscheinungsbild, das Image, die Dekorationen an, ob sich etwas verkaufen läßt oder nicht. Die Verpackungsindustrie boomt trotz Müllnotstand, weil auch bei simplen Gebrauchsgütern das Outfit über die Verkäuflichkeit entscheidet.

Was uns die Marketing-Abteilungen bei der Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen vorexerzieren, gilt ebenso für die Vermarktung der eigenen Persönlichkeit. Der Marketing-Charakter hat ein tiefreichendes Bedürfnis, sein Ego zu vermarkten: sich zu präsentieren, sich wortgewandt und selbstbewußt zur Darstellung zu bringen, sich attraktiv und unwiderstehlich zu machen, sein Outfit zu stylen, mit seiner Persönlichkeit gut anzukommen. Jeder versucht, sich selbst so gut wie möglich zu verkaufen: mit seiner Bildung, seinen Zeugnissen, seinen bisherigen Stellen und Erfolgen, seinen Fortbildungskursen, seiner Allgemeinbildung, seinen Sprachkenntnissen, seinem sicheren und selbstbewußten Auftreten oder auch mit seinen spleenigen Ideen.

Wer sich verkaufen will, der muß sich erfolgreich zeigen und als Könner, als Bester, als Glücksfall, als Größter, Kompetentester, Vertrauensvollster usw. präsentieren. Der Zwang, sich verkaufen zu müssen, führt zu einem starken egoistischen Triebwunsch, sich immer und überall gut zu präsentieren, dadurch gut anzukommen und von anderen anerkannt und bewundert zu werden. Dieses Buhlen um Anerkennung und Bewunderung kommt im Gewand narzißtischer Selbstaufblähung daher, ist aber (meist) kein Narzißmus, sondern Egoismus als Verkaufsstrategie. Es geht ja darum, beim anderen anzukommen, und eben nicht um eine narzißtische Selbstaufblähung.

Ich möchte diese Art von Egoismus als Verkaufsstrategie noch an einem Beispiel verdeutlichen, das besonders eindrücklich zeigt, daß dieser Egoismus dann besonders erfolgreich ist, wenn er suggeriert, am anderen interessiert zu sein. Aus drei voneinander unabhängigen psychologischen Studien, die alle der Frage nachgingen, wie man beim anderen am besten ankommt, lassen sich folgende sieben Empfehlungen formulieren (aus Südwestpresse, Ulm, vom 20. 7. 1994, S. 26):

  1. “Machen Sie Komplimente! Der Mensch kann nie genug davon hören, aber ehrlich gemeint sollten sie sein. Sagen Sie Ihrem Gegenüber ganz offen, was Ihnen an ihm/ihr gefällt. Vielleicht ist es die neue Frisur, ein neues Kleidungsstück, die Art, wie Ihr Gegenüber auf Sie eingeht.
  2. Interessieren Sie sich für andere! Nehmen Sie Anteil an den kleinen und großen Problemen ihrer Freunde, Kollegen und Nachbarn, stellen Sie mehr Fragen. Man wird Ihr Leben und Sie selbst ebenfalls interessant finden.
  3. Aktivieren sie Kontakte! Haben Sie neue Leute kennengelernt, die Ihnen sympathisch sind, dann pflegen Sie die Verbindung. Telefonnummer und Adresse notieren, mal anrufen und sich melden, einen Termin zum Wiedersehen vereinbaren: zum Spaziergang, zum Wochenendausflug, zum Glas Wein. Menschen, die Initiative zeigen, mag man.
  4. Schenken Sie Anerkennung! Es ist leicht, ehrlich zu sagen; ‘Ich finde es toll, wie Sie mit Ihren Kindern umgehen, wie Sie Beruf und Haushalt in Einklang bringen.’ Oder: ‘Das haben Sie aber gut und schnell gemacht.’ Das Lob schafft ein gutes Klima.
  5. Zuhören! Nicht immer mit eigenen Geschichten glänzen wollen. Nein, den anderen animieren, von sich zu erzählen.
  6. Lächeln – das kostet nichts und ist doch so wirksam. Lächeln stimuliert, baut Aversionen ab, macht einfach gute Stimmung.
  7. Seien Sie aufmerksam! Auch wenn Ihre Partnerschaft schon länger dauert: Überraschen Sie den anderen immer wieder mal …”

Bei manchen der bisher verfolgten Charakterzüge und Werte dürfte deutlich geworden sein, daß die Marketing-Orientierung im Vergleich zur der autoritären Ausrichtung einen Segen darstellt. Andererseits hat sie noch bedenklichere Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen heute und auf das eigene psychische Wohlergehen, als die auf Beherrschung und Unterwürfigkeit zielende autoritäre Orientierung.

Die zur Darstellung gebrachten Werte und Charakterzüge sind aber meist nicht von sich aus schon negativ zu sehen. Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Mobilität, nicht-fixiertes Bezogensein, vernunftbestimmtes Gefühlserleben und selbstbewußtes Auftreten – alle diese Eigenschaften stellen positive Werte und wichtige Fähigkeiten des Menschen dar. Das, was die Fähigkeit zur Anpassung, Mobilität usw. problematisch macht, ist deren Bestimmtheit durch das Marketing, also durch eine Grunderfordernis marktwirtschaftlichen Produzierens. Entscheidend ist deshalb, ob und in welchem Ausmaße diese Charakterzüge und Werte im Dienste der Marketing-Orientierung stehen.

Warum also wirkt sich diese Orientierung psychisch negativ aus?

 

 

 

 

aus ICH Sommer 97