Ich bin arbeitslos. Mir wurde gekündigt. Klingt grad so, als hätte alles seine Richtigkeit und könne schon mal vorkommen. Es ist so: Mann schmiß mich raus – der Chef. Ich hatte keinen Wert für ihn, weil ich ab und an verhindert bin. Die kleinen Kinder … ihr wißt schon. In den 10 Abschiedsminuten im Chefzimmer wurde Süßholz geraspelt.
Trauten die sich nicht!? Hatten die etwa Hemmungen? Komisch. Früher wäre ich nicht auf die Idee gekommen, von denen zu sprechen Die Gesellschaft ist gespalten und die Sprache benennt’s.
Es scheint logisch: Wer nicht so viel wie andere schafft, der geht. Bleibt auch in meinem Kopf hängen, ich weiß ja schließlich, in welcher Gesellschaft ich lebe. Geb‘ ich meinem Minderwertigkeitskomplex Nahrung oder nicht? Zu spät. Längst habe ich ausdauernd über meine Schuld nachgedacht. Ich fühle mich nicht schuldig. Ich habe es satt, mich ständig für die Existenz meiner Kinder zu entschuldigen. Klar, sie behindern meine ,,disponible Einsetzbarkeit“. Sie erlauben sich, meine Anwesenheit zu fordern, sie sind krank, sie haben Kummer etc. Sie erlauben sich, nicht so diszipliniert und verständig zu reagieren. Täten sie es, wären es keine Kinder.
Marktwirtschaftliche Notwendigkeiten! Mir fehlt die Einsicht. Ich weiß nur eins: Ich ziehe es vor, mich zu entziehen. Ich mache einfach nicht mit bei diesem Kampf um Markt und Mark. Den Druck, der erzeugt wird, verkrafte ich gerade noch äußerlich (gute Miene zu bösem Spiel), wie aber innen? Soviel hab‘ ich mir aus der Vergangenheit gemerkt. Diese Entscheidungen verschafften mir einen selbstbewußten Start in die Arbeitslosigkeit. Ich stehe abseits – mit Rhythmusstörungen, aber ohne Angst. Vielleicht, weil ich zu wenig Phantasie habe, mir vorzustellen, wie schlecht es mir irgendwann gehen könnte. Arbeitslosigkeit eine Chance?
Was wäre, wenn man mich nicht arbeitslos gemacht hätte? Ich vermute, noch beträchtliche Zeit säße ich auf meinem Redakteursstuhl, alles würde sich irgendwann irgendwie wiederholen. Was fand statt? Immerfort Bewegung, nie aber Bruch, nie der Gedanke an radikale Veränderung. Ich hatte meinen Beruf als Lebensjob begriffen, wahrscheinlich auch aus unterirdischer Angst vor dem Ungewissen, vor dem Loch danach. Bei mir kam der Bruch unfreiwillig zustande und mit ihm die Erfahrung, es ist nicht alles zu Ende! Es fängt was Neues an. Die Möglichkeit, etwas ganz anderes zu tun. Ich werde Sozialarbeiter.
Was bewirkte die Radikaldrehung meiner Person noch? Sie befreite mich aus einem ständig währenden Konflikt, der sich aus dem doppelbelasteten Dasein ergab. Ich war einfach überfordert, so, wie ich jetzt unterfordert bin. Habe es bemerkt, intellektuell erklärt, aber nie die Kraft und den Mut gefunden, mich aus der Umklammerung zu lösen. Meine Wege zu selbstbewußten Entscheidungen waren lang, zu sehr habe ich geglaubt, alles mit strahlendem Gesicht bewältigen zu müssen. Nun habe ich Zeit, was gut tut. Ich denke nach und entscheide mich nach meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ich kann nein sagen, was mir früher schwer fiel. Ich begreife, was Ruhe bedeutet und komme notwendigerweise in Konflikt mit der Raserei um mich herum. Ich entferne mich von einigen Wertvorstellungen, denen ich anhing. Es ist längst nicht so einfach, wie ich dachte, aber spannend, weil neu.
Ich weiß, ich kann mit der Arbeitslosigkeit lockerer umgehen als andere, weil ich einen arbeitenden Mann im Hintergrund habe, der nicht erwartet, daß ich in meiner ,, untätigen Zeit“ die Wohnung putze.
Janett Köber, 30, Journalistin, 2 Kinder, Lebensgemeinschaft, Berlin
Dazu aus eigener Erfahrung – es dürfte beides sein: zunächst Frust, den man dann als Chance nutzen kann und sollte. Ein Abschnitt ging zu Ende, ein neuer beginnt und bedeutet Neuanfang.
Ich gehöre zu den Jahrgängen, die 1945 bereits im Berufsleben standen, und neben vielem war die Chance arbeiten zu können, zunächst, wie viele andere Dinge gleich ,,0″. Das einzige Positive war der Gedanke: ,,Der Wahnsinn ist vorbei, und ich habe überlebt. ,,Nichts lief, und es gab weder ein Arbeitsamt noch Arbeitslosenunterstützung. Da ich aus dem sozialen Bereich kam, war es aussichtslos – aber anderen ging es ebenso. So habe ich, wie die meisten, jede Tätigkeit genommen, wo immer etwas sich bot, oder einfach gefragt und weiter gesucht. Sei es bei der Obsternte beim Bauern, Fußböden putzen, Gänge erledigen. So auch längere Tätigkeiten – im Haushalt, in der Fabrik, als Serviererin, als Zimmermädchen, im Büro – gleich, was es war. Konnte so Boden unter den Füßen bekommen und habe gerade in dieser Zeit aus dem Leben für das Leben gelernt, denn ich kam mit Menschen näher zusammen, wußte wie ihnen zumute ist – konnte mitarbeiten und Vorurteile abbauen.
Und gerade das ist es heute doch wohl, nicht die ,,Zeiten“ sind schlechter geworden oder die Menschen; ganz allgemein leben die Menschen bewußter, sehen ,,über den Tellerrand“. Was vielen fehlt, ist der Mut, einfach den Anfang zu machen, negative Dinge nicht einfach hinzunehmen. Ein wenig Mut, auch mal gegen den Strom zu schwimmen – und das Leben wird lebendiger.
Ilse Tack, 67, Rentnerin, Waiblingen
Nachfolgende Auffassung über Arbeitslosigkeit möchte ich bitten, nur für meine Person geltend zu machen. Es ist mir durchaus verständlich, daß 40- oder 50jährige, welche einen Großteil ihrer Lebenszeit einer Idee zur Verfügung gestellt haben, zu einem völlig anderen Ergebnis kommen.
In dieser Zeit ist es mir direkt eine körperliche Qual, unter denselben korrupten Damen, meist jedoch Herren, zu arbeiten, die gleiche Hilflosigkeit gegenüber diesen Leuten zu verspüren wie in den Jahren vorher.
Da schiebt man sich in letzter Minute noch einmal größere Gehaltserhöhungen zu, welche in keinem. Verhältnis zur ausgeführten Arbeit oder aber zur übrigen Belegschaft stehen. Man selbst greift wieder einmal ins Leere. Treuhand, Gewerkschaft, Betriebsrat …, um Himmels willen, mir kommen die Tränen vor Lachen über diese Szenerie einer Theateraufführung. Aus mehreren Gründen begrüße ich meine Kündigung für Ende Mai 91 und ziehe sie dieser täglich 8,75 Stunden währenden Tragödie vor. Niemals zuvor bin ich irgendwo ausgebrochen, immer in der vorgeschriebenen Richtung marschiert, zugleich wahrscheinlich immer weiter weg von mir.
Arbeitslosigkeit, keine leichte Sache, denn wer kennt sich schon auf unbekannten Pfaden aus? Und doch, ich empfinde es als eine Befreiung. Endlich aus diesem gesellschaftlichen Rhythmus ausgestoßen, sollte es ein Versuch sein, einen eigenen Rhythmus zu finden. Mir jedenfalls ist mit den Jahren ein ganzes Stück Lebensfreude abhanden gekommen. Und ich denke, nur mit dieser ist Arbeit möglich, bekommt sie ihren Wert.
Vielleicht folgt noch allem ein absolutes Chaos, Krisenzeiten sicher sogar, ich selbst werde die Verantwortung dafür übernehmen, ob und wie ich zu leben vermag. Keine andere Person oder Einrichtung wird es geben, der ich erneut die Schuld für meine eigene Unzulänglichkeit zuschieben kann.
In der Zeit, die kommen wird, werde ich hoffentlich einen Blick auf mich und mein Leben riskieren.. Vielleicht wird es der Untergang, auf jeden Fall aber ist es eine Chance, das Leben zu erkennen und die Richtung neu zu bestimmen.
Ines Kohlmann, 24, Projektantin, Berlin
Seit 3 Monaten bin ich arbeitslos. Ich hatte am Anfang Probleme damit. Was anfangen mit der vielen Zeit? So ,,ziellos“ rumhängen ist schon blöd. Wobei ich ja nicht ziellos bin. Mein Ziel steht fest: Aufbau einer Praxis im eigenen Haus. Wir kauften es vor 11 Jahren (auch so ein Zufall, angesichts der zu erwartenden Mieten), damit unsere Kinder freier aufwachsen können als die Neubaukinder, die zu viele Rücksichten nehmen müssen. Dieses Ziel laßt mich meine Arbeitslosigkeit (vorübergehende) als Chance empfinden. Ich habe Zeit und Nerven für meine Kinder, die es wunderbar finden, wenn die Mutti zu Hause ist und ausgeglichen auf sie eingehen kann. Und das Mittagessen schmeckt zu Hause auch viel besser.
Ich habe Zeit und Raum, mein Vorhaben zu verwirklichen, da gibt es sehr viel zu tun. Und was mich besonders stolz macht: Keiner nimmt mich bei der Hand und sagt mir, was zu tun ist, keiner erledigt mir meine Aufgaben. Ich schaffe das alles ganz allein.
Ohne Therapie hätte ich das nicht gekonnt. Ich wäre schon bei den ersten Schwierigkeiten entmutigt und depressiv gewesen.
Das Wichtigste und auch Schwerste dabei war die ,,Vorarbeit“: Als sich nämlich die Entwicklung in unserem Land abzeichnete., sich die Perspektiven beim Blick gen Westen am Horizont zeigten, da war es an der Zeit, den eigenen Weg, die eigene Situation, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten im zukünftigen Deutschland zu erahnen und Pläne zu machen. Das war ein schweres Ringen gegen die eigene Angst, gegen die Bequemlichkeit und auch Faulheit. Dabei beziehe ich den Begriff Faulheit nicht auf die Arbeitsintensität im Beruf, sondern auf das Sich-Aufraffen zu neuen Wegen.
Nun, ich habe mich aufgerafft. Meine Möglichkeiten sind aber für einen Schlosser aus dem Trabi-Werk, den Bauern einer LPG oder den Kumpel einer Kupfergrube sicher völlig ohne Interesse. Ich kann also nur für mich sprechen.
Hanka Rieschel, 36, Zahnärztin, verheiratet, Halle
Ich wurde nach 20jähriger Tätigkeit als Projektant/ Programmierer in der EDV im April 1990 arbeitslos, das Datenverarbeitungszentrum hatte kaum noch Aufträge.
Daß es mich so schnell treffen würde, hätte ich nicht gedacht und alle vorherigen Gedanken zur Arbeitslosigkeit waren plötzlich weg. Ich hatte das Gefühl abzustürzen, in eine bodenlose Tiefe zu fallen. Ca. 14 Tage lang litt ich unter schweren Angstzuständen, ich weinte viel, oft kamen heftige Gefühlsausbrüche!
Dann setzte ich mich damit auseinander, wie es weiter gehen könnte. EDV – das ging nicht mehr, für diese Branche bin ich mit 50 Jahren zu alt. Ich besann mich auf mein Interesse an einer Tätigkeit im sozialen Bereich. 1986 hatte ich unter der Schirmherrschaft der Urania die Raucherberatungsstelle in Frankfurt gegründet. Die Arbeit in der Selbsthilfegruppe machte mir Spaß, schließlich war ich selbst bis 1983 süchtiger Raucher. Ich entschloß mich, mir eine Arbeit im sozialen Bereich zu suchen, d.h. die Zeit meiner Arbeitslosigkeit (ich rechnete mit ca.1Jahr) für die Vorbereitung dieser Tätigkeit zu nutzen. Ich wandte mich an den Senat in Westberlin und erhielt Möglichkeiten zur Schulung und Einführung in das Bundessozialhilfegesetz, Arbeitsförderungsgesetz …. Dann wandte ich mich an den Anti-Drogen-Verein und begann dort ein Praktikum in der Arbeit mit vorwiegend Raucherdrogenabhängigen. Parallel dazu informierte ich mich an Hochschulen der DDR zur Ausbildung als Drogenberater, und ich hatte dank meiner Initiative und Hartnäckigkeit Glück: Bis auf die Abschlußprüfung, die im Mai ist, habe ich die Ausbildung abgeschlossen.
Meine anschließenden Bewerbungen blieben jedoch erfolglos: zu alt, die Voraussetzungen fehlen usw. lauteten die Begründungen der Ablehnungen. Jede Ablehnung eine Enttäuschung, ein Schlag! Während des Praktikums in Westberlin erfuhr ich dann plötzlich: Die Stadtverwaltung Frankfurt will eine Arbeitslosenberatung einrichten – und ich bekam eine feste Stellung als Berater. Ich hatte inzwischen so richtig Kraft geschöpft und eine irre Lust zum Arbeiten, zur Sozialarbeit. Im August begann ich meine Tätigkeit; – anfangs mit Sprechzeiten, inzwischen habe ich eine Selbsthilfegruppe aufgebaut. Mein Arbeitsplatz ist jetzt vorwiegend da, wo sich Arbeitslose verstärkt finden – auf den Gängen des Arbeitsamtes, in Betrieben, wo viele Arbeitslose zu erwarten sind – ich bin auf der Straße mit dem Fahrrad unterwegs – und so Ansprechpartner für viele. Seit Januar bin ich in der Ausbildung zum Sozialarbeiter (Uni Essen) – über 2 Jahre!
Für mich war diese Arbeitslosigkeit eine echte Chance für einen Neuanfang: Sozialarbeit – das ist eine Arbeit, die mir viel mehr liegt als die ,,tote“ EDV.
Heidi Schwaneberg, 50, Sozialarbeiterin, Frankfurt/Oder
Als mir Anfang September vom neuen ,,West“-Geschäftsführer mitgeteilt wurde, daß ich – und einige andere Kollegen – ab sofort beurlaubt bin und auch den versprochenen Arbeitsvertrag nicht bekommen würde, war ich natürlich schockiert. Und der Frust wollte sich einstellen. Aber – glücklicherweise – konnte ich dieses Gefühl rasch überwinden, zumal es ja vielen so ging und immer mehr Menschen so gehen wird; und ich die Hintergründe dafür kenne, sie nicht in meiner Person, im eventuellen Versagen suchte. Nach drei Tagen sagte ich mir, das ist vielleicht die Chance, aus dem Beruf, der mich doch nicht so befriedigte wie früher mal erhofft, rauszukommen.
In den letzten Jahren hatte ich entdeckt, daß Aufgaben im sozialen Bereich für mich viel interessanter sind als mein Beruf. Ich bewarb mich zum postgradualen Studium ,,Sozialpädagogik“.
Seit 1985 bin ich in der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen aktiv, anfangs unter dem Dach der Kirche, obwohl selber nicht religiös, später in einer Übergangsform, seit seiner Gründung (an der ich mitwirkte) am 2.3.1990 im Verein RAT & TAT e. V. Das bewog mich, beruflich in die soziale Arbeit einzusteigen.
Inzwischen haben wir eine AIDS-Beratungsstelle eröffnet, natürlich mit entsprechender Schulung, sind Mitglied der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. Ich betreue weiterhin einen Strafgefangenen im Knast. Im Sozialausschuß der Bürgerschaft werde ich eine Aufgabe übernehmen, und stellvertretender Vorsitzender unseres Vereins bin ich ebenfalls.
An Arbeit mangelt es also trotz Arbeitslosigkeit nicht. Meine berufliche Zukunft ist allerdings nach wie vor ungewiß.
Besonders die Ungewißheit zerrt an den Nerven, zusätzlich trifft immer mal wieder kein Geld vom Arbeitsamt ein. Von daher ist schon ein gewisser Frust vorhanden und ich kann die Menschen, die Arbeitslosigkeit als Frust empfinden, gut verstehen.
Norbert Werth, 43, Diplomingenieur, Rostock
In meinem Umfeld sind bereits sehr viele Frauen arbeitslos geworden oder auf Kurzarbeit gesetzt, und liest man die statistischen Erhebungen über die Arbeitslosenrate im Raum Zwickau/ Chemnitz und vergleicht sie mit den möglichen ABM-Maßnahmen, kann man sich ausrechnen, wie groß die Chance für eine Frau mit 3 Kindern ist, entsprechende Arbeit zu bekommen. Ich habe Angst vor der Zukunft, auch wenn ich für meinen Beruf Chancen sehe. Mich bedrückt es, daß unter den derzeitigen Bedingungen die Menschen einander feind werden oder zum Kuschen gezwungen – stets mit der Androhung. ,,Wenn dir etwas nicht paßt, kannst du gehen. Es warten genügend Menschen auf deinen Job!“
Ich sehe Chancen in der neuen Zeit, vieles anders zu machen als früher. Im Hinterkopf steckt jedoch stets die Befürchtung, unter eine andere Art von Druck (im Vgl. zur Vorwendezeit) gesetzt zu sein.
Mein größter Arger besteht aber auch darin, wie unbedacht viele politische Entscheidungen getroffen werden: z.B. keine Ausbildungsplätze für Lehrlinge, Abschaffung von Kindereinrichtungen usw. Wenn wir jetzt nicht in die Kinder und Jugendlichen investieren, wird es uns so zurückschlagen, daß wir den daraus erwachsenden Problemen kaum noch entgegnen können. Es sind so viele Gedanken, die mich im Zusammenhang mit diesem Thema bewegen, daß es mir nicht gelingt, sie in wenige Worte zu fassen. Meine große Hoffnung war jedoch lange Zeit, daß es uns gelingen möge, die guten Erfahrungen aus der Vergangenheit in die neue Zeit einzubringen. Ich weiß noch nicht, inwieweit mir daß in meiner Arbeit gelingen wird, sofern ich sie behalte. Vielleicht werde ich auch durch die Schichtarbeit, Wochenend- und Nachtdienste sowie die familiären Pflichten überfordert sein.
Sonja Dietrich, Gablenz
Wir sagen ,,Arbeitslosigkeit“, meinen aber in Wirklichkeit die uns das Fürchten lehrende Gelderwerbslosigkeit. Das ist verständlich. Wir hängen alle mehr oder weniger an der ,,goldenen Kette“ der Marktwirtschaft. Geldmangel läßt das Kartenhaus unserer materiellen Bedürfnisse leicht ins Wanken geraten. Wer es nicht verlernt hat, den Gürtel enger zu schnallen, ist besser dran, ,,magere“ Zeiten zu überstehen. In gewisser Weise macht ,,Bedürfnislosigkeit“ schon frei. M. E. würden gar nicht wenige auf Lohnarbeit gänzlich verzichten, hätten sie nur ausreichenden finanziellen Unterhalt. Auch das ist verständlich. Die meisten Lohnarbeiten in der Industriegesellschaft stellen nicht gerade das Feld der Selbstverwirklichung für die Arbeitenden dar. Sie werden als notwendiges Übel empfunden, wofür es einen ,,Trostpreis“ gibt, mit dem man seinen dort geholten Frust ausagieren darf.
,,Arbeitslosigkeit“ ist eben der Preis für die Produktivität und ökonomische Effizienz der spätkapitalistischen Industriegesellschaft. ,,Relative Überbevölkerung“ nannte Marx diese Normalität des Kapitals, wichtig für dessen flexible Verwertung und für die Disziplinierung des Heeres der Lohn- und Gehaltsabhängigen. Es besteht also gar kein Grund für Arbeitslose, sich einen Makel einzureden oder einreden zu lassen. Eher ist es der eigene ,,Seelenstall“, mit dem viele Betroffene nur schwer zurecht kommen und der sie boykottiert. Ein Vorwand mehr, ihn schon beizeiten gehörig auszumisten.
Ich singe kein Loblied auf die ,,Arbeitslosigkeit“. Die Menschen haben stets die Möglichkeit, entweder ihre Verhältnisse zu verändern oder sie zu verlassen. Die jetzigen wurden (aus Naivität, Leichtgläubigkeit und Konsumhunger) frei gewählt. Wenige können und wollen sie tatsächlich verlassen. Aber Weggehen beginnt im Kopf. Menschsein bedeutet doch wohl etwas mehr, als sein ganzes Leben lang um das ,,goldene Kalb“ zu tanzen.
Und eines darf nicht vergessen werden: Der Arbeitslose von heute, hier und jetzt in Deutschland, bleibt trotz allem, was dagegen erwidert werden sollte, ein Wohlstandsbürger. Er ist mit Arbeitsamt, Arbeitslosenunterstützung, ABM u. a. m. tausendmal besser gestellt als der nahe am Verhungernde in der Sahel-Zone oder anderswo in der Welt.
Dieter Wangler, 33, Philosoph, Leipzig
aus ICH 3/ 91